Der Geist der Rebellion ist noch wach

Hardy Hanappi porträtiert die „Generation 68“ und gibt ihr Aufgaben für die Zukunft

Von Günter RinkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Rinke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zuweilen enthält eine Verpackung etwas anderes, als die Aufmachung erwarten lässt. Wer Hardy Hanappis Buch Generation 68 in die Hand nimmt, wird vermutlich wegen des an Pop Art erinnernden Umschlagbildes und auch wegen des Autorfotos, das einen in die Jahre gekommen, freundlich lächelnden Hippie zu zeigen scheint, auf eine weitere nostalgische Erzählung über die mythischen Jahre um und nach 1968 eingestellt sein. Im Text auf der Rückseite wird diese Erwartung allerdings zum Teil konterkariert. Das Buch sei „kein Leitfaden zur nostalgischen Selbstbetrachtung“, sondern es versuche stets die Gegenwart mitzureflektieren, heißt es dort. Der Untertitel Eine Freizeitlektüre lässt hingegen wieder eher an ein leichtes Lesevergnügen denken.

Dieses wird aber nicht geboten. Hardy Hanappi hat einen Essay geschrieben, der weniger unterhaltsam als streckenweise knochentrocken daherkommt. In seinem Versuch, die „Vision“ der Generation Achtundsechzig, zu der er die zwischen 1944 und 1958 Geborenen zählt, wachzuhalten oder wiederzubeleben, verzichtet er zwar ausdrücklich auf Fußnoten und ein Literaturverzeichnis, er greift aber auf das Vokabular diverser Staats-, Wirtschafts- und Gesellschaftstheorien, vornehmlich der marxistischen, zurück. Der Aufbau des Buches scheint die bekannte Doppelstruktur der 68er-Revolte, auf die z. B. Rainer Bieling in seinem Buch Die Tränen der Revolution (1988) hingewiesen hat, widerzuspiegeln, nämlich die politische und die subkulturelle Dimension. Die erste Hälfte der 17 Kapitel hat Überschriften, die auf die subkulturelle Seite des Ereigniskomplexes „1968“ im weitesten Sinne verweisen: Musik, Haare, Sex, Kleidung usw. Ein Gelenk bildet, durchaus unerwartet, das neunte Kapitel Sport. Danach folgen Überschriften wie Staat, Revolution, Marx, Gender, Klassen usw. Wird also erst munter erzählt oder anschaulich beschrieben, was danach reflektiert wird? Auch das trifft nur teilweise zu.

Schon die ersten Kapitel sind weitgehend frei von konkreter Geschichtsschreibung und haben auch nicht den Charakter eines Bilderbogens. Es ist verständlich, dass der Autor gar nicht erst versucht, erneut nachzuzeichnen, was schon häufig – und immer wieder auch üppig bebildert – dargestellt worden ist. Stellvertretend hingewiesen sei nur auf das bis heute lesenswerte Bändchen 1968. Die letzte Revolution, die noch nichts vom Ozonloch wußte zur zwanzigsten Wiederkehr der magischen Jahreszahl von Daniel Cohn-Bendit und Reinhard Mohr sowie auf den von Cohn-Bendit und Rüdiger Dammann weitere zwanzig Jahre später herausgegebenen Text-Bild-Band 1968. Die Revolte. Vor allem zum Schauen und Staunen lädt der fast schon legendäre Fotoband von Michael Ruetz „Ihr müßt diesen Typen nur ins Gesicht sehen“. APO Berlin 1966–1969 (1980) ein. Es gibt also sowohl zur Ereignisgeschichte als auch zur pittoresken Seite von „68“ schon reichlich Literatur. Den Versuch einer umfassenden theoretischen Systematisierung hat Oskar Negt in seinem Buch Achtundsechzig. Politische Intellektuelle und die Macht (1995) unternommen. Warum also überhaupt noch ein weiteres Buch über die „Generation 68“?

Hanappi, selbst Jahrgang 1951, hat zwei Motive. Das eine sei ein „Gefühl der Unzufriedenheit“ darüber, dass seine in Vereinzelung lebenden Generationsgenossen der „konservativen Wende seit den 70er Jahren“, „der allgemeinen vergesellschafteten Entfremdung“ keinen geschlossenen Widerstand entgegengesetzt hätten. Das andere resultiert aus einer trotzdem noch vorhandenen positiven Energie, die dafür genutzt werden könnte, quasi künstlerisch Zukunftsentwürfe zu kreieren. In diesem Zusammenhang klingen die Formulierungen des Materialisten unerwartet idealistisch. Mehrmals ist von „Schönheit“ die Rede: „Die Schönheit, so die Prognose, hat als wichtiger Begriff nicht ausgedient; sie ist mit Wahrheit unmittelbar verbunden.“ Fehlt nur das Gute, um die Trias, wie sie das Bildungsbürgertum an der Front des Frankfurter Opernhauses in Stein gemeißelt hat, zu vervollständigen. Sympathisch ist, wie Hanappi im letzten Absatz des letzten Kapitels mit der Überschrift Zukunft seine politökonomischen Exkurse an die subkulturelle Seite der 68er-Rebellion rückbindet. Zwar fehle noch eine einheitliche, überzeugende Theorie der „Dynamik der Klassenkämpfe“, aber geblieben seien zwei Krücken, das Streben nach Wissen und die „in Momenten empfundene Lust“. Und diese Krücken seien eigentlich Beine. „Beine gehen, Beine wippen im Takt, Beine tanzen. The Beat Goes On.“

Und dennoch, die Lust am Lesen wird in manchen Passagen auf eine harte Probe gestellt. In den ersten Kapiteln zeigt sich das Unbehagen des Autors über die Ziellosigkeit und mangelnde „analytische Potenz“ der Kulturrevolte. Es ist nicht zu bestreiten, dass musikalische und andere künstlerische Subkulturen sehr häufig von der Kulturindustrie entschärft und verwertbar gemacht wurden. Der Starkult vereinnahmte auch solche Stars, die ihrem Selbstverständnis nach Anti-Stars sein wollten. Viele wurden auf die eine oder andere Weise zu Opfern der Marktmechanismen und des Erfolgsdrucks, nahmen Drogen, manche starben früh. Aber vorher leisteten sie Beträchtliches, weniger hinsichtlich der musikalischen Substanz als vielmehr, was die Intensität und Energie der Musik angeht. Man schaue sich nur die Live-Auftritte der Gruppen Led Zeppelin oder The Who aus den 60er- und 70er-Jahren an. Hanappis Musik-Kapitel bleibt im Ganzen ziemlich kühl. Wirklich gelten lässt er eigentlich nur Jimi Hendrix, den er als „Prophet revolutionärer Erkenntnis“ apostrophiert.

Das Versprechen einer Bewusstseinserweiterung durch Drogen verpuffte bald. Ihr Konsum konnte „nur zu leicht in die Sackgasse eines irrelevanten Lebens in parallelen Scheinwelten“ führen. Aus den Kleidungsextravaganzen des Swinging London und der kalifornischen Hippies machte bald die Modeindustrie ein Geschäft. Hanappi geht die Themen durch und kommt letztlich immer zu dem Ergebnis, dass den ästhetischen Momenten der 68er Bewegung „ein analytisches Fundament“ und damit „längerfristige Stabilität“ fehlten. Eine gewisse symbolische Bedeutung misst er noch der Haartracht zu, sowohl im negativen als auch im positiven Sinn. Ist der Glatzkopf „zur neuen Symbolik der der rechtsradikalen Jugendszene avanciert“, so „schlummert [bis heute] unter der massakrierten Haarpracht so manchen Mannes um die 68 der Geist der einst erlebten Jugendrevolte“.

In der zweiten Hälfte des Buches sieht man sich mit einem vage modernisierten Marxismus konfrontiert, der (noch) nicht dazu taugt, die gegenwärtigen globalen Verhältnisse neu zu vermessen. Ständig ist von „Widersprüchen“ die Rede, ein Wort, in dem die Herkunft des Marxismus aus dem Idealismus hegelianisch aufgehoben ist. Können Verhältnisse einander widersprechen oder ist das nur bei Aussagen möglich? Als Hauptwiderspruch des Kapitalismus gilt bekanntlich derjenige zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der privaten Aneignung des Ertrags und dessen Umwandlung in Kapital. Bei Hanappi klingt das so: „Die Arbeitszeit der einen taucht als Besitzstand der anderen am gegenüberliegenden Ende des Produktionsprozesses wieder auf.“ Das Gegenüber seien heutzutage die Wall Street und das mit ihr verbundene internationale Finanzsystem. Am Klassenbegriff will Hanappi festhalten, ihn aber erneuern, damit er als Analyseinstrument für die anzuvisierende „künftige Revolution“ tauglich wird. Den modernen Datenkapitalismus thematisiert er nicht, die weltumspannenden Digitalkonzerne, die daraus Kapital schlagen, dass wir alle ihnen freiwillig und kostenlos unsere Daten überlassen, kommen nicht vor. Mark Zuckerberg, einer der Aufsteiger, die aus Garagenunternehmen Weltkonzerne gemacht haben, soll gelacht haben und fassungslos gewesen sein, dass die Leute ihm ihre Daten einfach so geben.

Wiederholt und ziemlich undifferenziert klagt der Autor über den angeblich überall wieder auflebenden Faschismus. Man fragt sich schon, ob die neue Weltmacht China, die eine zunehmend unverhohlen imperialistische Politik betreibt und nach innen keinesfalls als Demokratie anzusehen ist, als faschistisch charakterisiert werden kann. Immerhin herrscht dort dem Selbstverständnis nach eine Kommunistische Partei. Die Einwände lassen sich vermehren, aber zugunsten des Autors ist anzumerken, dass er vielleicht gerade darauf abzielt, kritische Fragen zu provozieren.

Unentschieden bleibt, ob er sein Buch primär aus der Perspektive des 68er Kulturrebellen oder aus der des Politaktivisten geschrieben hat. Der Altachtundsechziger Bernd Cailloux (Jahrgang 1945) besteht in seinem Buch Gutgeschriebene Verluste (2012), darauf, dass die hedonistische Seite von 1968 ihre eigene Berechtigung hatte. Mit mildem Spott überzieht er die SDS-Veteranen, die stolz darauf sind, einmal für Rudi Dutschke die Aktentasche getragen zu haben. Wer in den 70er Jahren studiert hat, erinnert sich noch an die Kommilitonen, wahrscheinlich überwiegend keine Arbeiterkinder, die am Eingang zur Mensa den neuen „Arbeiterkampf“ feilboten. Der SDS löste sich 1970 auf und machte dem moskauhörigen MSB-Spartakus und den maoistischen K-Gruppen Platz, die in den 80er-Jahren von der Bildfläche verschwanden. Da ist doch zu fragen, ob die Kulturrebellen nicht dauerhaft mehr verändert haben als die „Ho Ho Ho Chi Minh“ rufende Fraktion. Vielleicht haben auch diejenigen Männer, die wirklich an einer von Hanappi abfällig erwähnten „Selbsterfahrungs-Männergruppe“ teilgenommen haben, für ihr weiteres Leben von dort mehr mitgenommen, als jene, die nebenan im kleinen Kollektiv Ernest Mandels Einführung in die marxistische Wirtschaftstheorie lasen. In der nationalsozialistisch erzogenen Vätergeneration sprach man nicht über Gefühle.

Letztlich ist Hanappis Buch trotz aller angedeuteten Kritikpunkte zur Lektüre zu empfehlen, weil es zum Widerspruch und manche Lesenden wahrscheinlich auch zur Zustimmung herausfordert. Der Autor sagt ‚ungeschützt‘, so hieß es einst in Selbsterfahrungsgruppen, was er vom Erbe der Generation 68 für erhaltenswert und auch für zukunftsfähig hält. Ihm schwebt „eine Allianz mit den heutigen Jungen“ vor, in die die mittlerweile zu Großeltern gewordenen Achtundsechziger ihre Erfahrungen einbringen könnten. Dabei könnten sie den Jungen auch etwas von der notwendigen Selbstdistanz vermitteln, die in Hanappis Text manchmal wohltuend aufscheint: „Bevor aber der Schwall der Worte sich selbst diffamiert, unsere Wichtigkeit wie hohles Geschwätz aussehen lässt, sind Bescheidenheit und Selbstkritik nötig.“

Titelbild

Hardy Hanappi: Generation 68.
Septime Verlag, Wien 2020.
180 Seiten , 19,40 EUR.
ISBN-13: 9783902711168

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