Freundliche Waffen

Mit „Das stehende Jetzt“ leitet Ulrich von Bülow die Exegese von Peter Handkes Notizbüchern ein

Von Lothar StruckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lothar Struck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am 18. Oktober 2017 präsentierte Ulrich von Bülow, Leiter des Archivs beim Deutschen Literaturarchiv in Marbach (DLA), zusammen mit Peter Handke den Erwerb von 154 Notizbüchern des Autors, die den Zeitraum von 1990 bis 2015 erfassen. Seit 2007 befinden sich bereits 67 Notizbücher Handkes im Besitz des DLA, die zwischen 1975 und 1990 geschrieben wurden.

Anlässlich dieser Präsentation führte von Bülow ein Gespräch mit Handke, das als erster Beitrag in seinem Buch Das stehende Jetzt über die Notizbücher des Autors transkribiert ist. Es fällt ausführlicher aus als der seinerzeit im Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlte Mitschnitt von knapp 30 Minuten. Danach folgen drei Essays von Bülows. Im ersten skizziert er Handkes Intentionen und den Stellenwert der Notizbücher im Werk des Dichters. Wie man mit diesen Büchern literaturwissenschaftlich arbeiten kann zeigt er, indem er Handkes Einträge über Lektüren von Martin Heidegger und Baruch de Spinoza extrahiert und deutet.

Die 67 Notizbücher bis Sommer 1990 sind für die Forschung seit geraumer Zeit zur Ansicht in Marbach (als Scans) verfügbar. Auf der Webseite Handkeonline werden für den Zeitraum von 1971 bis 1990 allerdings 79 Notizbücher (mit rund 10.000 Seiten) aufgelistet und ausgewertet. So wurden zwei Originale aus den frühen 1970er Jahren 2014 in der Schweiz ‚entdeckt‘. Andere Originale finden sich in Wien. Hinzu kommen noch einige in Privatbesitz befindliche, nicht erfasste Notizbücher. Inwieweit die 154 Kladden von 1990 bis 2015 komplett sind, kann nur das DLA sagen (Von Bülow erwähnt in einem Aufsatz im letzten Jahr 153 Notizbücher). Handke spricht von mindestens einem verlorenen Notizbuch.

Sieht man sich die Fotografien des Konvoluts im Buch an, zeigt sich, dass Handke für seine Aufzeichnungen nahezu alle Formen und Größen von Notizbüchern verwendet. Ob kartoniert, Softcover, Leder oder Wildleder, sogenannte Chinakladden oder Spiralblöcke (typisch für Handke: seine expressive Ablehnung gegenüber den populären „Moleskine“-Büchern). Er bevorzugt blanko, aber eben auch mit Linien oder kariert. Meist sind sie im Taschenformat A6; manche kleiner, einige A5. Die Seitenzahl variiert zwischen 40 und 300. Von Bülow quantifiziert die in Marbach befindlichen 221 Notizbücher mit insgesamt mehr als 33.000 Seiten. Manche sind eng beschrieben, einige wieder sehr großzügig. Es finden sich viele Zeichnungen Handkes in den Büchern. Zuweilen werden Postkarten, Zeitungsausschnitte, kleine Pflanzen oder Federn eingelegt. Die Schrift des Autors ist meist gut lesbar, auch wenn sie über die Jahre variiert. Geschrieben wird mit allem Verfügbaren: Kugelschreiber, Filzstift, seltener Bleistift. Die Bücher befinden sich zuweilen in desolatem Zustand, weil sie Wind und Wetter ausgesetzt waren.

Handke legt Wert auf die Bezeichnung „Notizbücher“. Obwohl die Eintragungen praktisch täglich erfolgten, sind es tatsächlich keine Tagebücher im klassischen Sinn. Das Datum erwähnt er eher unregelmäßig. Persönliche Befindlichkeiten, Klatsch und Tratsch sowie politische Statements fehlen fast vollständig. Eine berühmt gewordene Ausnahme sind Artikel zu vier hingerichteten chinesischen Menschenrechtlern, denen er in seinem Film Die Abwesenheit gedenkt. Die frühen Notizbücher (1971 bis cirka 1975) kommen eher „Arbeitsjournalen“ nahe, weil sie sich explizit und ausschließlich mit einem geplanten Buch oder Theaterstück auseinandersetzen. Danach erweitert Handke das Spektrum seiner Eintragungen hin zu „Aufzeichnungen zweckfreier Wahrnehmungen“. Notiert werden jetzt nicht nur werkimmanente konzeptuelle Überlegungen (die zum Teil „Projekte“ aufzeigen, die Jahre, nicht selten Jahrzehnte später zu Titeln führen), sondern auch Beobachtungen, Lektüreeindrücke und -reflexionen, Gesehenes und Gehörtes, Erinnerungen, Assoziationen, Träume.

Reserviert bis ablehnend steht Handke Interpretationen gegenüber, die in den Notaten „Übungen“ oder eine Art „Training“ für ein später entstehendes Werk sehen wollen. Im sehr instruktiven Gespräch mit von Bülow erläutert er überraschend deutlich seine Ambitionen: „vieles, was einem so nebenbei als Form, als Sprachform begegnet, ist für einen Moment da und verschwindet im nächsten wieder, so wie eine – Sternschnuppe muss man ja nicht sagen – aber wie eine Art von Schnuppe, die vorbeigeht.“ Handke versucht nun diese durch vorurteilsfreies, intentionsloses „Schauen“ erreichten „Schnuppen“, das nunc stans eines Moments, das „stehende Jetzt“, zu versprachlichen und zu konservieren, oder, um es pathetischer zu sagen, zu retten. Es geht dabei, so fasst von Bülow zusammen, um „Momentaufnahmen, die poetische Gültigkeit beanspruchen können“ und das „Allgemeine und die Dauer“ festhalten. Dabei ist sich Handke der Fragilität solcher Verschriftlichung durchaus bewusst. Daher auch die immer wieder eingestreuten, mit Fragezeichen versehenen Selbstbefragungen beispielsweise in den von ihm so genannten „unwillkürlichen Selbstgesprächen“. Zahlreich auch Sprachspiele wie jenes vom „11. Gebot“. Wunderbar, wie er im kleinsten Käfer oder einfach nur einem verwelkten Blatt die Welt zu entdecken vermag – und dann nicht selten direkt wieder in eine Sprachskepsis gerät. Umfassend auch die Lektüreeindrücke (es gibt kaum jemanden, der so tief in das Gelesene einzudringen vermag wie Handke).

Handke selber spricht von seinen Notizbüchern als einer „freundlichen Waffe“, die er oft „ziehe“, um die „Gebilde“, die sich ihm „ob von innen oder außen oder von beidem, Innenwelt und Außenwelt“ zeigen, festzuhalten. Wer mit ihm schon einmal unterwegs war, weiß, wie das gemeint ist. Von „Manie“ möchte er dennoch nicht sprechen. Auch hier vermag man ihm Recht zu geben.

Im Laufe des Jahres 1976 begann Handke Notate aus seinen Büchern abzutippen. Hier muss der Entschluss zu einer Publikation gereift sein. Wo es ihm notwendig war, wurden die übernommenen Notizen gerafft und gegebenenfalls korrigiert. 1977 erschien mit Das Gewicht der Welt das erste „Journal“, wie die publizierten Extrakte der Notizbücher in Handkes Werk genannt werden. Je nach Epoche finden zwischen zwei Dritteln (in den ersten Journalen) und einem Viertel der Notizbücher Einlass in die Journale. Hiervon sind insgesamt sieben erschienen (in Klammern zunächst das Ersterscheinungsjahr, dann der Zeitraum der Notizen, die für das Journal Verwendung fanden):

Das Gewicht der Welt (1977 – 11/1975 bis 03/1977 ),
Die Geschichte des Bleistifts (1982 – 07/1976 bis 08/1982),
Phantasien der Wiederholung (1983 – 04/1981 bis 12/1982),
Am Felsfenster morgens (1998 – 08/1982 bis 10/1987),
Gestern unterwegs (2005 – 10/1987 bis 07/1990),
Ein Jahr aus der Nacht gesprochen (2010 – zwischen 2008 und 2010) und
Vor der Baumschattenwand nachts (2016 – zwischen 2007 und 2015).

Von Bülow zählt das eher sentenzenhafte Traumbuch Ein Jahr aus der Nacht gesprochen nicht direkt zu den Journalbänden.Die Erstpublikationen der Journale erfolgten bis auf Phantasien der Wiederholung nicht bei Suhrkamp, sondern im Residenz Verlag beziehungsweise ab 2005 bei Jung und Jung. Maßgeblich hierfür war die Freundschaft Handkes zu Jochen Jung. 2015 wurde ein Ausschnitt aus dem Notizbuch Nr. 16 bei Suhrkamp veröffentlicht.

Die Auflistung zeigt, dass aus den Notizbüchern vom Juli 1990 bis 2006 bis auf wenige Ausnahmen der „Traumbeschreibungen“ keine Notate für ein Journal Verwendung fanden. Mit dem Notizbuch Der Bildverlust; Das stumme Stück vom 9.2. bis 1.7.1990 (DLA-Notizbuch Nr. 67) endete die Möglichkeit der Einsicht für die Forschung in die Exponate. Über die Gründe hierfür wurde viel spekuliert. Im Juli 1990 bemerkt Handke, dass „kaum mehr ein Mit-Schreiben im Sinn der früheren Journale statt[finde]“. Hat Handke seine Intention, das „Unternehmen“ des voraussetzunglosen Schauens und Aufschreibens, verändert? Womöglich hängt es mit dem sich beginnenden Jugoslawien- beziehungsweise Serbien-Engagement des Autors zusammen, das Mitte der 1990er Jahre für längere Zeit auf großen Widerspruch stieß. Oder finden sich mehr persönliche Ein- und Auslassungen (auch über andere Persönlichkeiten des Betriebs) in den Büchern? Nach Auskunft von Ulrich von Bülow sind jetzt auch die neu erworbenen Exemplare einsehbar, allerdings nur mit Handkes Erlaubnis.

Wie praktische literaturwissenschaftliche Arbeit mit den Notizbüchern aussehen könnte, zeigt von Bülows in zwei Essays über die Einflüsse von Martin Heidegger und Baruch de Spinoza auf Denken und Werk Peter Handkes, die in diesem Buch ihre Heimstatt gefunden haben. Seine Quellen sind die Notizbücher bis Sommer 1990. Daneben vergleicht er die Notate mit den Übernahmen in den Journalen. Auf zahlreichen Fotografien kann der Leser einige zitierte Textstellen aus den Notizen selber nachlesen.

Heidegger habe Handke „spät, eher sporadisch und weniger intensiv“ gelesen, so von Bülow. Nachweisen lassen sich zwischen 1976 und 1986 rund ein halbes Dutzend Stellen, an denen sich Handke mit Heidegger beschäftigt, so beispielsweise mit seinem Aufsatz Bauen, Wohnen, Denken. Sein und Zeit dürfte Handke, so von Bülow, nicht gelesen haben beziehungsweise nur ausschnittweise. Die Hauptfigur in Handkes Erzählung Langsame Heimkehr (1979), ein Geologe, der den Namen Sorger trägt, sollte ursprünglich Heidegger-Leser sein. Handke sei dann jedoch davon abgerückt. Mit den vereinzelten Deutungsvorschlägen, der Name Sorger sei eine Anspielung auf Heidegger, kann von Bülow nicht viel anfangen. Handke habe, so die These, nur ab und an einzelne Formulierungen von Heideggers Sprach-Jargon, den er im Übrigen eher skeptisch betrachtet, verwendet.

Über Goethe kam Handke zu Spinoza. Schlüssig erläutert von Bülow anhand von Eintragungen zwischen 1980 und 1983, wie eng Handkes poetologisches Prinzip mit Spinozas „Konzept der Freude“ verwoben ist. Interessant sind auch die kleinen Parallelen zwischen Spinozas und Heideggers „Ding“-Betrachtungen. Aber auch Handkes Diskrepanzen zu einigen Aspekten von Spinozas Ethik (etwa den „Kausalismus“) werden herausgearbeitet. Am Ende entschied sich Handke in seiner Erzählung Die Lehre der Sainte-Victoire für Cézanne und nicht Spinoza als (seinen) „Menschheitslehrer“. Spinoza war ihm zu sehr ein mit apodiktischen Botschaften Daherkommender. Er präferierte den weichen, vorschlagenden, suchenden Cézanne. Dennoch finden sich im späteren Werk des Autors immer wieder Einflüsse von Spinoza.

Das vom Deutschen Literaturarchiv herausgebrachte Buch könnte – zusammen mit der gerade im Suhrkamp Verlag erschienenen Handke-Gesamtausgabe – ein Initial für eine umfassende Beschäftigung mit Handkes Notizen sein. Seit jeher werden seine Journale vom Publikum sehr geschätzt, was, wie Katharina Pektor unlängst in einem Aufsatz (Leuchtende Fragmente) anmerkte, womöglich daran liegt, dass meist Notate Verwendung finden, die eher aphoristischen Charakter besitzen. Wer über Handkes Werkgenese forscht, wird an den Originalen nicht vorbeikommen – das kann man schon bei Ansicht der bisher zugänglichen Notizbücher sehen – und zu zum Teil überraschenden, weiterführenden Erkenntnissen kommen. Mit dem neu zur Verfügung stehenden Konvolut gibt es eine Menge Arbeit.

Titelbild

Deutsches Literaturarchiv Marbach: Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke. Gespräch mit dem Autor und Essays von Ulrich von Bülow.
Deutsche Schillergesellschaft, Marbach am Neckar 2018.
150 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783944469393

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