Im Dazwischen

Der Band „Georgien. Eine literarische Reise“ nähert sich auf innovative und spannende Weise dem Land im Kaukasus

Von Jonas HeßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jonas Heß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Für viele in Westeuropa war es wahrscheinlich zuletzt das Jahr 2008, dessen Verlauf zu einer Beschäftigung mit dem Land Georgien führte. Damals war der Konflikt um die beiden abtrünnigen Regionen Südossetien und Abchasien eskaliert, Russland intervenierte militärisch, während in Peking die Olympischen Spiele begannen. In dem mehrere Tage andauernden Kaukasuskrieg kamen schließlich mehrere hundert Menschen ums Leben. Das ist nun bereits zehn Jahre her und mit Sicherheit kein angenehmer Anlass über das Land am Rande Europas zu reden, zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer.

Eine schönere und aktuellere Gelegenheit bietet sich, da Georgien diesjähriges Gastland der Frankfurter Buchmesse ist. Zu diesem Anlass erscheinen zahlreiche Publikationen, die das Land und seine AutorInnen einem deutschen Publikum zugänglich machen. Eine davon ist Georgien. Eine literarische Reise. Es ist zugleich eine der ungewöhnlicheren Veröffentlichungen, denn der Band, herausgegeben vom Goethe-Institut Georgien in Zusammenarbeit mit dem Georgischen National Book Center, ist sowohl Anthologie als auch Reiseführer und beides sowohl aus georgischer wie auch aus deutscher Sicht.

Der Publikation vorausgegangen sind gemeinsame Reisen deutsch-georgischer Autorenpaare in die verschiedenen Regionen des Landes. In sechs Kapiteln verarbeiten sie je in eigenen, ganz andersgearteten Texten ihre Erfahrung der gemeinsamen einwöchigen Tour. Herausgekommen sind dabei höchst unterschiedliche Textformen: Reiseberichte, Kurzgeschichten, ein Gedicht und quasi-biographische Erzählungen. Und auch inhaltlich rücken trotz mehr oder weniger identischer Erfahrungen der jeweiligen Autoren ganz verschiedene Aspekte in den Mittelpunkt, werden andere Assoziationen geweckt, erscheinen ganz unterschiedliche Dinge als berichtenswert.

Dies ist nicht nur deswegen interessant, weil sich darin die Hoffnung der – deutschen Lesern nicht unbekannten – Kuratorin des Projekts, Nino Haratischwili, bestätigt sehen. Im Vorwort schildert sie, dass es eben gerade die Verschiebung der Perspektive auf ein und denselben Gegenstand sei, welche sowohl dem Schreiben als auch dem Reisen innewohne. Und es sei eben nichts absolut, sondern alles immer eine Frage der Perspektive. Die heterogenen Texte des Projekts belegen das eindrucksvoll.

Doch die so unterschiedlichen Ergebnisse des Projekts sind eben auch deswegen interessant, weil diese Herangehensweise, zwei Texte auf Grundlage der gleichen Erlebnisse nebeneinanderzustellen, die grundsätzlich subjektive Entstehungsweise von Literatur allgemein erfahrbar werden lässt. Es sind die unterschiedlichen Perspektiven und Biographien der AutorInnen, die dieselben Ereignisse in ganz unterschiedliche textuelle Formen fließen lassen.

Und so schildert etwa Ulla Lenze den Besuch eines muslimischen Dorfes in Kachetien, das gar einige IS-Kämpfer hervorgebracht hat, während die mit ihr reisende Tamta Melaschwili diese Begegnung nur in wenigen Zeilen streift, um sodann auf den besonderen Status der Eibe in Georgien sowie dessen Ursprung einzugehen, was bei Lenze wiederum unbesprochen bleibt. So ist es für Lucy Fricke in der Bergregion Tuschetien die Schönheit und Reinheit der Natur, die Abgeschiedenheit, gleichsam das Leben ohne Sicherheitsgurt, was fasziniert, während ihr Partner Archil Kikodze engagiert die Mentalität und die Bräuche der Bergbewohner erklärt.

Wo beispielsweise Stephan Reich die nördliche Region Swanetien in Gedichten einzufangen versucht, erzählt Anna Kordsaia-Samadaschwili aus der Sicht des Großvaters vom dortigen gefährlichen Straßenbau vor vielen Jahrzehnten. Und wo Fatma Aydemir ihre Erfahrungen in der Hauptstadt Tiflis oft am Beispiel ihrer literarischen Partnerin Nestan Nene Kwinikadse schildert, verarbeitet diese ihre Eindrücke in Form einer Kurzgeschichte.

Ergänzt werden die Texte dabei durch collageartige Illustrationen, die mal im jeweiligen Text Erwähntes, mal Unerwähntes verarbeiten. Auf verschiedenen Wegen nähern wir uns so den verschiedenen Regionen des Landes, den ursprünglichen ländlichen Regionen im Norden und Osten mit ihrer überwältigenden Natur genauso wie der Stadt Batumi an der Schwarzmeerküste oder der Stalin-Stadt Gori im Inland. Immer wieder blitzt in den Texten der georgischen Autoren ein rührender Wille zur Darstellung und Erläuterung der eigenen Kultur auf. Einer Kultur, die sich in zahllosen Liedern, Gedichten und Geschichten konserviert, die beeinflusst wurde von den umliegenden Großmächten, den Persern, Osmanen und Russen, und die – gelegen zwischen zwei Meeren und zwei Gebirgsketten – sich weiter versucht im Dazwischen zu verorten: zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Ost und West.

Und so ist es auch gerade zwischen den Texten zur jeweiligen Region, wo ebenjener Landstrich und seine Bewohner greifbar werden. In diesem Dazwischen entfaltet sich Georgien. Eine literarische Reise nach und nach zu einem wunderbar schillernden, multiperspektivischen Stück Literatur. Dem Band gelingt damit eine ganz besondere Annäherung nicht nur an das Land, sondern eben auch an einige seiner AutorInnen und er wird so – unabhängig vom Anlass der Auseinandersetzung mit Georgien – zu einem literarischen Fenster in die Region, durch das zu blicken sich in jedem Fall lohnt.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Georgien. Eine literarische Reise.
Herausgegeben vom Goethe-Institut Georgien, in Zusammenarbeit mit dem Georgian National Book Center, mit einem Vorwort von Nino Haratischwili, illustiert von Julia B. Nowikowa.
Übersetzt aus dem Georgischen von Rachel Gratzfeld und Sybilla Heinze.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2018.
192 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002572

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