Über Dunkles mehr sagen

Anhand von Bruchstücken versucht Ina Hartwig die große Lyrikerin Ingeborg Bachmann zu verstehen

Von Paul GeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Paul Geck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ätherisch, divenhaft, tief verschlüsselt; elegant, eitel, promiskuös, gefährdet; witzig, klug, praktisch, ausdrucksstark – wer war Ingeborg Bachmann? Ein Enigma, ein Mythos. Eine Heilige. Ein Opfer, ein Genie. All dies, aber immer noch mehr, so sagt es uns die „Biographie in Bruchstücken“ der Journalistin und Frankfurter Kulturdezernentin Ina Hartwig, die ebenjene Frage zum Titel ihres Buches erhebt. Die Antwort auf diese ist die Maximalaufgabe, der sich ein Biograf stellt; an ihr kann er nur scheitern. Dieser Hybris stellt Hartwig das Fragmentarische und Bruchstückhafte entgegen, das jedem Menschen zu eigen ist, im Besonderen aber, wie es scheint, Ingeborg Bachmann ausmachte.

Bruchstücke, das bezieht sich auch auf die Konzeption und den Aufbau der Biografie. Hartwig hat sich gegen eine chronologische Nacherzählung des Lebenslaufes der österreichischen Dichterin entschieden und sich stattdessen den Themen zugewandt, die sie am meisten interessierten. So stehen die Kapitel im losen Zusammenhang miteinander, eines widmet sich Bachmanns Liebesbeziehung zu Paul Celan, in anderen wird das Verhältnis zum Vater untersucht oder eine bestimmte Periode in Bachmanns Leben nacherzählt.

Die Bruchstücke verweisen aber auch auf jene Elemente im Leben von Ingeborg Bachmann, die der Öffentlichkeit aufgrund fehlender Quellen noch nicht zugänglich sind. Das gilt in besonderer Weise für ihre Beziehung mit Max Frisch, der ein umfangreicher, noch unpublizierter Briefwechsel entsprang. Von diesem erhoffen sich Bachmann-Interpreten entscheidende Erkenntnisse über die Beziehung und deren dramatisches Ende, das Bachmann verzweifelt und gedemütigt zurückließ. Ina Hartwig sagte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, dass sie beim Abfassen der Biografie damit begonnen habe, um dieses „leere Zentrum“ herum zu schreiben, um dann zu merken, dass das Zentrum des Buches gar nicht leer bliebe.

Worum es sich bei diesem Zentrum handelt, diese Frage ist alles andere als leicht zu beantworten. Die Interviewer vermuten es in der Figur des Vaters, andere sprechen von der überraschenden Rolle Henry Kissingers in Bachmanns Leben. Die Bedeutung des ehemaligen US-amerikanischen Außenministers für Bachmann ist tatsächlich eine wichtige Erkenntnis Hartwigs, die sowohl von Bachmann- als auch von Kissingerbiografen bisher weitgehend übersehen wurde. Die beiden lernten sich bei einer von Kissinger mitgeleiteten Summer School für europäische Stipendiaten an der Harvard-University kennen und schlossen eine Freundschaft, die auch romantische Züge gehabt zu haben scheint. Dass die Lyrikerin, die sich in einem linksliberalen bis sozialistischen Milieu bewegte, mit dem konservativen Republikaner ein „Vertrauensverhältnis“ verband, ist beachtlich. Ein allzu bedeutender Einfluss Kissingers auf Bachmanns Leben darf jedoch bezweifelt werden. Hartwig erkennt in dem Verhältnis einen Zug Bachmanns, den sie pompös die „Zeitgenossenschaft Ingeborg Bachmanns in ihrer vollen, abenteuerlichen Dimension“ nennt. Mit Verlaub, wer von uns hätte schon etwas einzuwenden gegen einen Briefwechsel, gar eine vertraute Beziehung mit einem berühmten Politiker? Zum Zeitgenossen oder gar politisch denkenden Menschen wird man dadurch noch nicht. Kissinger, den Hartwig zu „so etwas wie den roten Faden“ ihres Buches erhebt, als Zentrum der Biografie zu verstehen, würde dessen Bedeutung für Ingeborg Bachmanns Leben überhöhen.

Interessanter ist die Interpretation, das „leere Zentrum“ werde vom Vater Bachmanns gefüllt. Der Vater, der schon 1932 in Österreich (!) in die NSDAP eintrat, hat im Werk der Dichterin ambivalente Spuren hinterlassen. Tatsächlich kann Hartwig nachweisen, dass seine Rolle in verschiedener Weise in Bachmanns Leben einen Schatten hinterlassen hat. Ihre Beziehung mit Paul Celan, dessen Eltern im Holocaust umgebracht wurden, scheint auch geprägt gewesen zu sein von der Bewältigung der schrecklichen Vergangenheit. Celan tituliert sie im ihr gewidmeten Gedicht Ägypten als die „Fremde“, als Nichtjüdin, der mit Ruth, Noemi und Mirjam seine umtrauerten Verwandten und Volksgenossinnen gegenübertreten. Bachmann hingegen schreibt im düsteren Traumkapitel ihres Romans Malina vom abgrundtief bösen Vater, der seine Tochter in der „größten Gaskammer der Welt“ vergasen möchte – eine Bachmannʼsche „Selbststilisierung als Opfer“, die Hartwig zum „vielleicht heikelsten Punkt in der Biographie überhaupt“ erklärt. Die Figur des Vaters setzt sie in Verbindung mit Bachmanns unerfülltem Kinderwunsch, zu ihrer Beziehung mit Max Frisch, zu ihrem „hysterischen“ Liebesleben, in dem auch auf Grund der „starken, ungeklärten, tief ambivalenten Vaterbindung“ eine dauerhafte Beziehung wohl nicht möglich gewesen sei. Auch wenn hier vieles nur im dunklen Spiegel der Literatur erkannt werden kann, erscheint diese Interpretation doch schlüssig.

Sie führt zur vielleicht entscheidenden Erkenntnis von Hartwigs Biografie: Dass nämlich Ingeborg Bachmann ein Leben führte, das verschiedene, streng voneinander unterschiedene Bereiche und Lebensweisen kannte. Ihre Drogensucht, ihr Hang zur Exzentrizität auch in sexuellen Belangen, ihre kurzen, aber heftigen Liebesbeziehungen, ihre häufigen Krankenhausaufenthalte, all das lässt auf eine Person schließen, deren Zentrum es gerade war, kein festes Zentrum zu haben.

Dieser ambivalenten, Intensität suchenden Künstlerin spürt Ina Hartwig auf einfühlsame und ungeheuer unterhaltsame Weise nach. Sie vergisst nicht, Bachmanns erstaunliche Begabung für praktische Angelegenheiten aufzuzeigen, sei es im Umgang mit Geld oder anhand der Reisepläne, die Bachmann für Celans Reise zum Treffen der Gruppe 47 in Niendorf erstellte. Hartwigs Methode ist dabei offen subjektiv, schon auf der zweiten Druckseite erscheint ihr kommentierendes, wertendes Ich, das sich im Laufe des Buches als verlässlicher, ausgewogener Führer erweist. Ihre Entscheidung, Analysen nicht auf die Gespräche mit Zeitzeugen wie Hans Magnus Enzensberger, Peter Handke oder Henry Kissinger aufzubauen, sondern diese als subjektive Erlebnisprotokolle wiederzugeben, entlässt den Leser selbst in die Verantwortung, aus den Bruchstücken der Biografie ein eigenes Bild der österreichischen Dichterin zu entwerfen. Hartwigs wunderbar flüssige Prosa, die authentische und gleichzeitig kritische Faszination gegenüber Bachmann, schließt den Leser ein in den weiten Kreis der auch heute noch von Ingeborg Bachmanns Werk und Leben Gebannten.

Titelbild

Ina Hartwig: Wer war Ingeborg Bachmann? Eine Biographie in Bruchstücken.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
310 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783100023032

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