Große Gefühle in der Provinz

Kent Harufs „Lied der Weite“ ist ein fröhlich-melancholisches Lesevergnügen

Von Monika GroscheRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Grosche

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Glück, dass der Diogenes Verlag den amerikanischen Autor Kent Haruf nun auch dem deutschsprachigen Publikum näher bringt! Wie bereits der Roman Unsere Seelen bei Nacht, der 2017 auf Deutsch erschien, beweist nun auch Lied der Weite: Haruf war eine bedeutende Stimme in der nordamerikanischen Literatur – und es ist ein Jammer, dass er im Jahr 2014 bereits verstorben ist.

Doch auch wenn Lied der Weite (auf Englisch Plainsong) 1999 auf der Shortlist des National Book Award stand und in den USA zum Bestseller avancierte, wurde Haruf erst mit seinem letzten Roman Unsere Seelen bei Nacht wirklich berühmt, der 2015 posthum veröffentlicht und 2017 mit Jane Fonda und Robert Redford verfilmt wurde. Diesem Erfolg ist es wohl auch geschuldet, dass Haruf, dessen Romane teilweise früher auf Deutsch vorlagen, nun hierzulande noch einmal neu entdeckt wird.

Dabei wirkt sein Werk zunächst wenig spektakulär, schließlich bewegen sich seine Geschichten meist in der fiktiven Kleinstadt Holt in den Prärien Colorados; seine Protagonisten sind Viehzüchter, Landärzte, Highschool-Kids, Lehrer und alte einsame Damen. Auch was sie zwischen Güterzuggleisen, Farmen und Feldern erleben, ist auf den ersten Blick alles andere als „großes Kino“. Und wer schon einmal im ländlichen Nordamerika unterwegs war, sieht die verschlafene Kleinstadt geradezu vor sich, an deren Hauptstraße sich Frisör, Kino und der unvermeidliche Diner als Zentren des sozialen Lebens aneinanderreihen.

Doch Haruf vermag es, ganz leise, ganz lakonisch, an diesem Schauplatz die Erkenntnis zu vermitteln, dass es so etwas wie ein kleines oder langweiliges Leben nicht gibt. Gerade die „einfachen“ Leute, die er zu den Protagonisten seiner Romane auserkoren hat, erleben wie im griechischen Drama die Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins mit voller Wucht. Da prallen Liebe und Hass, Einsamkeit und Sehnsucht nach Nähe, Aggression und menschliche Güte so unmittelbar aufeinander, dass es der großen Bühne in nichts nachsteht.

So auch in diesem Roman, in dessen Zentrum die 17-jährige Schülerin Victoria steht. Sie ist ungewollt schwanger und wird deshalb von ihrer Mutter kurzerhand vor die Tür gesetzt. Zum Glück nimmt ihre Lehrerin Maggie Jones sie bei sich auf. Doch Maggies dementer Vater reagiert aggressiv auf ihre Anwesenheit und so muss eine neue Lösung her: Ausgerechnet die McPheron-Brüder, die weit draußen auf einem alten Gehöft als einsame Junggesellen Kühe züchten, bittet die Lehrerin um Unterstützung. Nach anfänglichem Zögern willigen die menschenscheuen Eigenbrötler in das Experiment ein. Victoria zieht bei ihnen ein und das ungewöhnliche Trio gewöhnt sich an das Leben miteinander, bis dann unverhofft Victorias Freund wieder auftaucht.

Doch nicht nur Victoria sieht sich mit großen Problemen konfrontiert. In der Familie von Lehrer Tom Guthrie ist auch nichts mehr, wie es früher einmal war: Seine Frau leidet unter Depressionen und zieht in ein eigenes Haus. Aber zum großen Kummer und Unverständnis der beiden Söhne Ike und Bobby bleibt es nicht dabei. Vielmehr geht sie, vermutlich für immer, nach Denver zu ihrer Schwester. Vater Tom hat jedoch nicht nur alle Hände voll zu tun, seinen Söhnen die Mutter zu ersetzten, sondern auch Stress an der Highschool, wo ihm ein aufsässiger, tumber Gewalttäter das Leben erschwert und auch vor Attacken auf seine Kinder nicht Halt macht. Schließlich hält auch noch die Liebe, die sich mit seiner Frau aus seinem Leben verabschiedet zu haben schien, über Umwege in der Person von Maggie wieder Einzug bei dem Lehrer.

In wechselnden Perspektiven lässt uns Haruf an den Gefühlen der Protagonisten teilhaben – wobei auch die Nebenfiguren mit wenigen Pinselstrichen überzeugend gezeichnet sind. Es gehört zu der besonderen Gabe des Autors, dass man sich beim Lesen weniger als Betrachter von außen denn als Einwohner der kleinen Stadt und ihrer umliegenden Farmen fühlt, so vertraut ist man bereits nach wenigen Seiten mit den Menschen und der Szenerie.

Doch wer glaubt, hier in eine heile Traumwelt versetzt zu werden, wo – wie dereinst bei den Waltons im Fernsehen – spätestens beim Gutenachtgruß alles wieder in Ordnung ist, irrt sich. Auch auf dem Land ist bei Weitem nicht alles idyllisch oder wird am Ende wieder gut. Schlimme Demütigungen und tiefe Verletzungen, wie von der Mutter vor die Tür gesetzt zu werden oder vom Freund zum Sex „ausgeliehen“ zu werden, sind ebenso präsent wie tiefe Trauer, wenn das eigene Pferd qualvoll zugrunde geht oder eine alte Dame einsam und alleine in ihrem Sessel stirbt.

Das alles erzählt Haruf zart und leise, aber präzise beobachtend. Ohne Action oder Knalleffekte und auch ohne jede Rührseligkeit zeigt er mit seinem klaren Stil, wie einfach es eigentlich ist, als Mensch zu innerer Größe zu gelangen. Doch er verschweigt keineswegs, dass dies ein Kraftakt ist, der manchen einfach nicht gelingen mag. Großartige Literatur, die melancholisch und froh zugleich macht.

Titelbild

Kent Haruf: Lied der Weite. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
377 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070170

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