Warum wir so geworden sind
Adam Hasletts Familienroman „Stellt euch vor, ich bin fort“ ist auch ein Psychogramm amerikanischer Mentalitäten
Von Bernhard Walcher
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas der Titel von Adam Hasletts zweitem Roman Stellt euch vor, ich bin fort als Denkspiel formuliert, kommt im Text gleich zweimal vor: Einmal während der Familienvater John mit den beiden Kindern Celia und Alec in den Sommerferien eine Bootsfahrt unternimmt und sich tot stellt, um zu testen, ob die zwei auch ohne ihn den Motor bedienen können. Die zweite Abwesenheit des Vaters ist dann kein Spiel mehr und endgültig: John, geplagt von Depressionsschüben, geht in den Wald und nimmt sich das Leben. Von außen betrachtet könnte die aus dem Briten John und seiner amerikanischen Frau Margaret sowie den drei Kindern Michael, Celia und Alec bestehende Durchschnittsfamilie den Stoff abgeben für die Darstellung britisch-amerikanischen Alltagslebens mit wechselnden Schauplätzen zwischen London, den Vororten Neuenglands und den nur durch den Kontakt mit Geschäftsfreunden möglich gemachten Sommerhäusern in Maine. In gewisser Weise präsentiert Adam Hasletts stark autobiografisch gefärbter Roman auch Alltagsgeschichte(n). Allerdings ist das, was die fünf Familienmitglieder jeweils abwechselnd und aus ihrer subjektiven Sicht als Ich-Erzähler berichten, alles andere als alltäglich.
Obwohl Margaret vor der Hochzeit mit John noch von dessen Depressionsschüben und psychischer Verfassung erfährt, ist sie von einer fast schon verzweifelten Hoffnung eingenommen, mit Liebe und einem geregelten Leben die Krankheit ihres Mannes bekämpfen zu können. Der Roman spekuliert nun nicht kurzsichtig über die Gründe für Johns Depressionen, sondern zeichnet vielmehr die Folgen seiner Krankheit und seines Selbstmords für die gesamte Familie nach. Was in vielen (älteren) Woody Allen-Filmen die Grundlage unterhaltsamer, wenn auch nicht oberflächlicher, sondern durchaus tiefgehender Handlungen und Beziehungskonstellationen ist, wird in Hasletts Roman zur Schilderung der Schattenseiten psychischer Deformationen: Depressionen ersetzen die Neurosen, die Realität medizinischer Versorgung und psychiatrischer Anstalten in den Vereinigten Staaten den Gang zum Therapeuten. Dass John sich umbringt und der älteste, 1968 geborene Sohn Michael vom Vater gewissermaßen die Krankheit erbt und sich von einem Medikament zum anderen rettet, bis er sich schließlich auch selbst umbringt, führt die Familie, die Mutter und die beiden überlebenden Geschwister wenigstens zeitweise in den finanziellen und mentalen Ruin.
In den von Margaret erzählten Kapiteln wird nicht nur ihre Ohnmacht gegenüber der Krankheit und ihrem Schicksal deutlich, sondern auch wirtschaftlich-soziale Folgen spielen eine Rolle. Angesichts von Donald Trumps Umgang mit der von Obama auf den Weg gebrachten Reform des amerikanischen Gesundheitssystems verweist Hasletts Text – obwohl die Handlung zu großen Teilen im ausgehenden 20. Jahrhundert spielt – auch auf die Gegenwart, insofern die Kehrseite des amerikanischen Traums von Selbstständigkeit, Erreichbarkeit und Machbarkeit gezeigt wird.
Bei der Lektüre der ersten 150 Seiten, die dem Leser doch einiges an Geduld abverlangen, fühlt man sich zunächst an Hasletts ersten Roman Union Atlantic (2009) erinnert, zumindest was die Sprache und Darstellungskraft des Autors anbelangt. Wie schon beim Debüt drängt sich die Frage auf, ob Haslett der literarischen Langstrecke des Romans nicht gewachsen ist oder, anders herum gefragt, ob sein erzählerisches Talent, Figuren, Konstellationen und Zeitläufte sprachlich zu durchdringen und deren Langzeitwirkung auszuloten, in seinen Erzählungen (dt. Das Gespenst der Liebe, 2003; Hingabe, 2010) nicht besser zur Geltung kommt. Im vorliegenden Roman liegt das hauptsächlich an der Erzählanlage mit fünf wechselnden Figurenperspektiven. Diese ist zwar grundsätzlich hilfreich, um die Spannungsverhältnisse, Abhängigkeiten und Erlebnishorizonte der einzelnen Familienmitglieder einzufangen, doch sind die ersten Kapitel, in denen die Kinder erzählen und in denen es um die frühe Familiengeschichte der 1970er und 1980er Jahre geht, weniger gelungen, weil die naiven Kinderperspektiven kaum überzeugend in den Gesamttext integriert sind.
Das ändert sich, wenn aus den Kindern und Teenagern junge Erwachsene geworden sind, die auch über ihre Kindheitserlebnisse in der Familie und über den Vater reflektieren und Zusammenhänge mit ihrer Gegenwart herstellen. Vor allem aber macht gerade das Nebeneinander der Schilderungen teilweise gleicher Zeitabschnitte und Ereignisse die Beziehungen der drei untereinander für den Leser plausibel. Die wechselnden Erzählperspektiven ohne übergeordnete oder ordnende erzählerische Instanz erlauben es, jenseits küchenpsychologischer Erklärungsmuster und jenseits von schablonenhaften Schuld-Sühne-Rastern die emotionalen Verwerfungen, uneingestandenen Sehnsüchte und Ausflüchte der Protagonisten sprachlich zu erfassen. Erschütternd ist das für den Leser, weil er immer mehr weiß als die jeweils gerade erzählende Figur: Er kennt immer auch die Gedanken und Erlebnisse der anderen Familienmitglieder.
Der jüngste Sohn von Margaret und John, Alec, kann erst spät im Leben so richtig Fuß fassen. Ganz nebenbei ist die Erzählung seines Erwachsenenlebens eine der klügsten und anrührendsten schwulen Liebesgeschichten, die man in der zeitgenössischen amerikanischen Literatur lesen kann. Gerade weil sie das Klischeehafte vermeidet und Liebe im Kontext ihrer familiären und kulturellen Einflüsse und Spannungsfelder zeigt. Aus einem teilweise nur halb bewussten Verantwortungsgefühl gegenüber seinem älteren Bruder Michael verpasst Alec fast sein eigenes (Liebes-)Leben und droht auch noch die zwischen ihm und dem aus Colorado stammenden Seth zu zerstören. Selten liest man so gelungene, psychologisch präzise und sprachlich überzeugende Beschreibungen körperlicher und seelischer Liebe wie in den Passagen von Alec. Was für ihn als Liebesnacht wie unzählige andere beginnt, wird zum Wendepunkt seines Lebens und er muss zwei Dinge feststellen: Wie festgefahrene Routinen und Rituale seines bisherigen Liebenslebens bröckeln und gleichzeitig mit dieser Erkenntnis alte Wunden aufbrechen, da offensichtlich alles mit seiner verdrängten Familiengeschichte zusammenhängt.
Nicht zu retten dagegen ist Michael, dessen Geschichte von Verfolgungswahn, Depressionen und Selbstzweifeln dem Leser mal als Krankenakte oder Therapeutengespräch, mal als Rückblick präsentiert wird. Allerdings erfährt man hier deutlich mehr über die Ursachen seiner Wahnvorstellungen als bei seinem Vater John. Sein Psychogramm ist einerseits das eines Hilflosen, der am Ende auch keinen anderen Ausweg sieht als sein Vater. Andererseits äußert sich Michael vor allem gegenüber seinen Geschwistern und Therapeuten, aber auch gegenüber einer realen sowie auch imaginierten älteren Generation immer wieder über die Gründe seines verzweifelten Gemüts. So sieht er sich ebenso mitverantwortlich für die Sklaverei als auch für die Diskriminierung der Schwarzen in den USA und den Umgang mit der Urbevölkerung Amerikas. Dabei geht es Haslett mit Michael nicht um plumpe Anklage oder politische Agitation. Die Komplexität und Ambivalenz der Figur zielt nicht auf ein Freund-Feind-Schema, nicht auf eine Einteilung der amerikanischen Gesellschaft in Gut und Böse. Wohl aber stellt sich mit einer Figur wie Michael die Frage nach dem historischen Bewusstsein und der gesellschaftlichen Realität in den USA – und zwar gerade angesichts des vielleicht geschichtsvergessensten Präsidenten, den das Land je hatte. In Michael dagegen und seinem übersteigerten historischen Bewusstsein verdichtet sich symbolisch die widersprüchliche amerikanische Geschichte zwischen Unterdrücken und Aufbegehren, Freiheit und Restriktion. Hasletts autobiografischer Text versteht es, ähnlich wie die Texte seiner Kollegen Richard Ford, Jonathan Frantzen oder Richard Russo, im Roman einer Familie auch das Panorama amerikanischer Mentalitäten und Wirklichkeit(en) zu erfassen.
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