Lässt sich die Shoah erklären?

„Warum? Eine Geschichte des Holocaust“ bietet die Quintessenz von Peter Hayesʼ Lehr- und Forschungstätigkeit zum Nationalsozialismus

Von Rafael Arto-HaumacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rafael Arto-Haumacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie lässt sich das Unerklärbare erklären? Jede Studie zum Holocaust sucht letztlich eine Antwort auf diese Frage. Ganz explizit zur Aufgabe hat es sich Peter Hayes gemacht. Der programmatische Titel seiner Geschichte des Holocaust kondensiert jene Frage zu einem ebenso schlichten wie markanten Warum?. Sein Buch soll die Antwort liefern. Hayes gibt sich trotz der Mammutaufgabe gleichwohl überzeugt, „dass der Holocaust genau wie jede andere menschliche Erfahrung erklärbar ist, auch wenn das nicht einfach ist.“

Hayes gilt als renommierter Experte für die Geschichte des Nationalsozialismus. Mittlerweile emeritiert, lehrte er als Historiker fast 40 Jahre an der Northwestern University in Evanston, Illinois; zudem ist er Vorsitzender des Beirats des United States Holocaust Memorial Museum Washington. Man darf also eine Untersuchung erwarten, die sich durch eine unzweifelhafte Expertise auszeichnet und ebenso souverän wie unbestechlich mit dem diffizilen Thema umgeht. Anknüpfend an den Titel seines Buchs überschreibt Hayes jedes der acht Kapitel mit einer plakativen Fragestellung: „Warum die Juden?“, „Warum die Deutschen?“, „Warum Mord?“, „Warum so schnell und so radikal?“, „Warum leisteten nicht mehr Juden mehr Gegenwehr?“, „Warum waren die Überlebensraten so unterschiedlich?“, „Warum kam nur so wenig Hilfe von außen?“ und schließlich „Welches Erbe? Welche Lehren?“

In diesen acht Kapiteln breitet Hayes alle wesentlichen Aspekte zur Entstehung und zum Verlauf des Holocaust aus. Er vermittelt die Ursprünge des Antisemitismus ebenso wie die politisch-sozialen Verwerfungen in der Folge des Versailler Vertrags und der unstabilen Situation der Weimarer Republik. Mit großer Sachkenntnis stellt er gut nachvollziehbar dar, wie sich die Nationalsozialisten die Stimmung in dieser Zeit zunutze machten und nach und nach die jüdische Bevölkerung aus dem öffentlichen, wissenschaftlichen und kulturellen Leben entfernten, um dann den Massenmord in Lagern wie Auschwitz, Treblinka oder Dachau zu organisieren. Dabei nimmt Hayes die Rolle der Alliierten ebenso in den Blick wie die der europäischen Nachbarn oder jener von Institutionen wie der katholischen Kirche mit ihrem umstrittenen Papst Pius XII. an der Spitze.

Peter Hayes ist von Hause aus Wirtschaftshistoriker. Nicht zuletzt deshalb liegt eine der Stärken des Buchs im aufbereiteten Zahlenmaterial, das der Autor immer wieder in die Darstellung der historischen und politischen Ereignisse einwebt. Aufschlussreich und mitunter überraschend ist mancher Sachverhalt, der so zu Tage gefördert wird, zum Beispiel die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland während der Jahre 1910 und 1933, dem Jahr der Machtergreifung Hitlers. In dieser Zeit nahm der prozentuale Anteil der jüdischen Bevölkerung stetig ab und lag 1933 bei geringen circa 0,8 %. Trotzdem gelang es der nationalsozialistischen Propaganda, die „jüdische Weltverschwörung“ als allgegenwärtige Bedrohung in den Köpfen der Menschen zu verankern. Ebenso vielsagend wie erschreckend sind die Zahlen, die Hayes im Zusammenhang mit den Vernichtungslagern – ungefähr 40.000 inklusive Außen- und Nebenstellen in ganz Europa – auflistet: In den Jahren 1942 und 1943 wurden durchschnittlich 325.000 Menschen pro Monat in den Lagern umgebracht, in Treblinka allein bis zu 10.000 Menschen täglich. Dabei weist Hayes ebenfalls auf den ökonomischen Aspekt des Holocaust hin, der sich – so der Autor – nicht nur selbst finanzierte, sondern ein einträgliches Geschäft für die Hitler-Administration war: Allein in den Jahren 1943 und 1944 erhielt der deutsche Staat 600 bis 700 Millionen Reichsmark für den ‚Verleih‘ von Zwangsarbeitern an deutsche Wirtschaftsbetriebe.

Hayes vermag es mühelos, die unglaubliche Fülle an Informationen gut zu strukturieren und auch Nichthistorikern verständlich darzubieten. Dabei ist er in seinen Wertungen behutsam und in seiner Argumentation stimmig. Die Frage nach dem Warum allerdings wird nur in Teilen beantwortet. Eine rundum befriedigende Erklärung, wie ein solcher Massenmord möglich, von breiten Teilen der Bevölkerung mitgetragen und von der Staatengemeinschaft geduldet wurde, bleibt schlussendlich aus – man ahnte von Anbeginn an, dass Hayes sich der Antwort auf diese Frage angesichts der Komplexität und der Monstrosität des Themas nur annähern würde. Zwar schildert der Autor die geschichtliche Abfolge des Holocaust in der Verzahnung von historischen, politischen und wirtschaftlichen Prozessen mit imponierend profundem Wissen, doch die rein historiografisch orientierte Herangehensweise müsste um einen breiten, interdisziplinären Zugriff erweitert werden, um psychologische, gruppendynamische, soziologische, mentalitätsbedingte und pathologische Aspekte bei den Erklärungsversuchen gebührend zu  berücksichtigen. Diese Aspekte werden zwar gestreift – denn Hayes ist auch hier durchaus belesen –, manche seiner diesbezüglichen Analysen bleiben jedoch an der Oberfläche, wie etwa das folgende Beispiel zeigt: „Für die Wachen bestand das tägliche Problem darin, die große Zahl der Gefangenen zu bewältigen, und Brutalität war immer die am leichtesten verfügbare Methode. Das Lagersystem förderte die dunkelsten Seiten der Menschen zutage.“

Der grundsätzlichen Relevanz der Darstellung mit ihrer Fülle an beweiskräftigen Ergebnissen tut dies jedoch keinen Abbruch. Hayes ist eine informationsreiche, den aktuellen Forschungsstand reflektierende und dabei gut lesbare Geschichte des Holocaust gelungen, die ihr Fundament aus der jahrzehntelangen wissenschaftlichen Auseinandersetzung des Autors mit der Geschichte des Nationalsozialismus, insbesondere des Holocaust, bezieht. Dieses Buch kommt gerade richtig in einer Zeit, in der der Rechtsradikalismus auflebt und die Verharmlosung nationalsozialistischen Gedankenguts in Teilen von Politik und Gesellschaft auf erschreckende Weise voranschreitet.

Titelbild

Peter Hayes: Warum? Eine Geschichte des Holocaust.
Übersetzt aus dem Englischen von Ursula Schäfer.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
445 Seiten, 29,95 EUR.
ISBN-13: 9783593507453

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