Die Göttin am Herd

Natalie Haynes’ Sachbuch über altgriechische „Goddesses“ ist kenntnisreicher als so manches Fachbuch

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Natalie Haynes hat ihren Band über Göttinnen der griechischen Mythologie in acht Kapitel unterteilt, von denen sechs je eine Olympierin vorstellen. Fünf dieser Göttinnen sind weit über altphilologische Kreise hinaus bekannt: Hera, Artemis, Demeter, Athene und – die wohl prominenteste – Aphrodite. Die sechste, Hestia, kennt hingegen kaum jemand. Warum das so ist und weshalb die Göttin des Herdes nicht weniger wichtig ist als ihre fünf berühmteren Kolleginnen, erklärt die Autorin in einem ihr geweihten Abschnitt. Umrahmt sind die sechs Kapitel von zwei weiteren, die nicht bestimmten Göttinnen gewidmet sind, sondern je einer nicht weniger mächtigen Gruppe weiblicher Numen: die heutzutage fast schon zu inspirierenden Groupies herabgewürdigten Musen sowie die Erinnyen. Da letztere unter ihrem lateinischen Namen Furien weitaus bekannter sind, hat die Autorin diesen als Kapitelüberschrift vorgezogen.

Neben diesen Divinitäten weiblichen Geschlechts werden viele  weitere bekannte wie unbekannte höhere Wesen erwähnt: So etwa die Göttin der Geburt Eileithyia, Sterbliche wie Herakles, Ajax, Iphigenie und Penelope oder mythische Wesen wie die von Gaia und Uranos gezeugten Titanen, deren mächtigster, Kronos, wiederum Vater von Zeus war.

Der vorliegende Band beeindruckt insbesondere durch den geradezu phänomenalen Kenntnisreichtum seiner Autorin, die auch nicht ein einziges Mal auf irgendein Werk der Sekundärliteratur zurückgreift, sondern stets die altgriechischen und römischen Originaltexte selbst heranzieht. Nicht selten zitiert sie einzelne Worte, Begriffe und Wendungen im (transkribierten) Original und zeigt verschiedene Übersetzungsmöglichkeiten auf, um sodann zu begründen, warum sie welche Übertragung wählt. Dabei ist so manches zu erfahren. So etwa, dass das Wort Vagina ursprünglich nicht einfach nur ganz allgemein eine Scheide, sondern konkret eine „Scheide für ein Schwert“ bezeichnete und der Begriff Xenos „sowohl für Fremde als auch für Freund*innen verwendet“ wurde.

Neben schriftlichen Quellen rekurriert Haynes auf zahlreiche antike Statuen, Reliefs, Altare und bemalte Vasen mit göttlichen oder heldischen Darstellungen. Dabei bürstet sie so manchen fast schon vergötterten Helden gegen den Strich der heute üblichen Rezeption. So ist Odysseus nicht etwa klug und listenreich, sondern nichts weiter als „der weltbeste Lügner“, der „nie eine Wahrheit sieht, die er nicht an seine Bedürfnisse anpassen würde“. Zudem unterlaufen ihm nicht selten „für ihn typische[] Denkfehler“. Eine zwar kritische, aber sehr wohl zutreffende Sichtweise auf den Protagonisten der Odyssee.

Haynes taucht nicht nur tief in die antike Mythologie ein und berichtigt so manches zwar populäre, aber durchaus falsches Bild, sondern zieht zudem zahlreiche Verbindungen von griechischen Mythen und ihren Figuren zur Populär-Kultur heutiger Tage:  Disneyfilme, Musikvideoclips, Woody-Allen- und Alien-Filme oder Marvel-HeldInnen scheint sie alle ebenso gut zu kennen wie die Orestie, die Metamorphosen, die Aeneis, die Theogonie oder die homerischen Werke.

Im Eingangskapitel stellt Haynes jede der neun Musen und deren jeweiliges Spezialgebiet vor: die Muse der Geschichtsschreibung Klio, die des Tanzes Terpischore, die für Musik und lyrische Poesie zuständige Euterpe, die Muse der Liebesdichtung Erato, die Muse der Dichtkunst Kalliope, die Muse der Hymnen Polyhymnia sowie Thalia die Muse der Komödie und die für Tragödien zuständige Melpomene. Damit wären allerdings nur acht der neun Musen genannt. Offensichtlich fehlt noch die Muse der Malerei. Die aber gibt es gar nicht, wie die Autorin einigermaßen verwundert konstatiert. Die neunte Muse Urania widmet sich vielmehr der Astronomie, die allerdings nicht der Kunst, sondern der Wissenschaft zuzurechnen ist. Natürlich klärt die Autorin darüber auf, was es mit dieser vermeintlichen Fehlbesetzung als Muse auf sich hat. Dass diese sich zwar „in der Regel auf die Kunst konzentrierten“, aber „auch in der Wissenschaft mitmischten“ hat seinen Grund darin, dass beide Bereiche in den Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung noch nicht strikt getrennt waren. So war denn auch die Muse der Geschichtsschreibung irgendwo zwischen Kunst und Wissenschaft ansässig. Und auch heute, so meint die Autorin, sollten „diese bescheuerten Spaltungsversuche ignoriert werden“. Mit dieser aparten Ansicht hätte sie sicher ihren altphilologischen Kollegen Friedrich Nietzsche auf ihrer Seite gehabt, der bekannte, er hätte seine waghalsige Schrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik lieber singen sollen.

Gelegentlich wurde und wird den neun Musen Sappho als zehnte hinzugefügt. Dem widerspricht die Autorin allerdings heftig, weil sie darin ein vergiftetes Lob der bekanntesten Dichterin der Antike erkennt. Denn „wie so oft, wenn es um vordergründig schmeichelhafte Bemerkungen über Frauen geht, sind auch hier fragwürdige Hypothesen im Spiel“. In Falle Sapphos „steckt“ ihr zufolge in deren Erhöhung zur Göttin zugleich eine Herabsetzung. Denn wenn sie eine Göttin ist, kann sie „nicht gleichzeitig eine Dichterin sein“.  Erwähnenswert sind auch die Seitenhiebe, die Haynes’ gegen die – wie es heute heißt – toxische Beziehung von maskulinistischen Künstlern zu ihren ‚Musen’ austeilt. Als Beispiel einer solchen Beziehung führt sie etwa Picasso und Dora Maar an.

Sind die Musen allseits beliebt, so ist Hera, die für ihren „heilige[n] Zorn“ bekannte Gattin von Zeus, „die Göttin, die alle eindeutig hassen“. Völlig zu Unrecht, wie Haynes zwar ausführlich, aber nicht restlos überzeugend zu begründen versucht. Mythen über Hera beginnen oft damit, „dass ihr Mann, Zeus, eine Frau vergewaltigt“, woraufhin sich Hera rächt. Hinter dem negativen Bild von Hera stecke somit ein „[uraltes] frauenfeindliche[s] Narrativ“, das „nie aus der Mode gekommen“ ist: „Das eigentliche Problem in einer Beziehung ist nicht der alte lüsterne Patriarch, sondern die Frau, der einfach nur die Geduld ausging“. Zudem tritt die Autorin kulturrelativistischen Argumentationen entgegen, die immer noch gerne zur Exkulpation der überhaupt regelmäßig vergewaltigenden griechischen Götter vorgebrachten werden, und stellt klar, „dass es einfach komplett egal ist, welche Werte eine Gesellschaft vertritt, wenn man diejenige ist, die vergewaltigt und verletzt wird“. Damit scheint eigentlich schon alles gesagt. Nun ja, fast. Denn Hera rächt sich nicht an ihrem geradezu gewohnheitsmäßig vergewaltigenden Gatten, dazu ist sie nicht mächtig genug, sondern zumeist an seinen weiblichen Opfern. Und das ist tatsächlich eine mehr als fragwürdige Reaktion, mit der sie Haynes zufolge allerdings „die Rolle von Frauen in Gesellschaften [repräsentiert], in denen diese Frauen kaum Alternativen hatten“. Tatsächlich war Hera denn auch „beliebter “ als die von Männern wie Homer und Ovid über sie erdachten Mythen vermuten lassen könnten. Die zahlreichen ihr gewidmeten und teils überaus mächtigen Tempel zeugen davon.

Dass Hera die Göttin ist, „die am häufigsten mit spektakulären Racheakten in Verbindung gebracht wird“, will etwas heißen. Denn auch viele ihrer Kolleginnen sind geborene Rächerinnen. Und die Herren des Olymp standen ihnen kein bisschen nach. Es sei nur an das grässliche Ende des von Apollo so ungerecht behandelten Flussgottes Marsyas erinnert.

Die Göttin der Jagd, des Waldes und der Geburt Artemis drückte ebenfalls nur selten ein Auge zu und ließ einen Spanner schon einmal von seinen eigenen Hunden zerreißen. Allerdings ist sie der Autorin zufolge „schwerer zu fassen“ als Hera und andere Göttinnen. Zu unterschiedlich, gelegentlich sogar widersprüchlich sind die ihr gewidmeten Mythen. So werden ihr die verschiedensten Geburtsorte zugeschrieben. Auch ist es etwas verwunderlich, dass sie als dezidierte Jungfrau als Göttin dafür verantwortlich war, dass Geburten komplikationsfrei verliefen. Sicher aber ist, dass sie zusammen mit Athene und Hestia eine der drei „jungfräulichen Göttinnen auf dem Olymp“ war und Katniss Everdeen aus Die Tribute von Panem ihre „natürliche Nachkommin“ ist.

Hestia wiederum unterscheidet sich von Hera, Artemis und anderen olympischen Göttinnen durch zweierlei. Zum einen ist sie „bemerkenswert friedfertig und freundlich“. Sie besaß sogar „die wirklich außergewöhnliche Fähigkeit Männer abzuweisen, ohne sie zu verletzen, und Aphrodite zu missfallen, ohne sie zu beleidigen“. Zum zweiten unterschied sie sich von anderen Göttinnen des Olymps dadurch, dass ihr keine Tempel gebaut wurden; zumindest keine größeren. Daraus lässt sich aber keineswegs schließen, dass sie weniger verehrt worden wäre als diese. Der Grund liegt vielmehr darin, dass die Göttin des Herdes in jedem Haus ihre heilige Stätte hatte, nämlich die Feuerstelle. Hestia, resümiert die Autorin, ist nicht nur eine heutzutage weithin unbekannte Göttin, sondern auch eine, „die selten handelt, aber für vieles steht“.

In dem Kapitel über Athene konzentriert sich die Autorin auf deren nicht immer sehr rühmliche Rolle im trojanischen Krieg, in dem sie, wie schon ihr Name vermuten lässt, auf Seiten der Griechen stand. Demeter bringt die Autorin den Lesenden in erster Linie anhand eines Mythos nahe, der sich um die Fruchtbarkeitsgöttin selbst, ihre Tochter Persephone und deren Vergewaltiger rankt. Es ist ein Mythos, „in de[m] eine Frau ihrer entführten Tochter eine teilweise Erleichterung verschafft, indem sie sich weigert, das zu tun, was von Frauen erwartet wird, nämlich den Missbrauch durch mächtige Männer einfach so hinzunehmen“.

Auch die Erinnyen werden anhand eines bestimmten Mythos vorgestellt. Genauer gesagt anhand des Eumeniden genannten dritten Teils der Orestie. In Aischylos’ Tragödie „vertreten“ Athene und ihr Bruder Apollo gegen die Rachegöttinnen zwar einerseits „patriarchalische Wert[e]“, denn sie werten das Leben von Männern höher als dasjenige von Frauen. Andererseits aber „verändern“ sie die griechische Gesellschaft „zum Besseren“, indem sie an die Stelle des individuellen Rechts auf Rache eine „formalisierte Rechtsprechung“ setzen. Überdies gelingt es ihnen, die angesichts ihrer als schmachvoll empfundenen Niederlage zornigen Erinnyen zu befrieden, sie in das neue (Rechts-)System zu integrieren, indem sie ihnen einen ehrenvollen Platz zuweisen, und die ehemaligen Rachegöttinnen so in die titelstiftenden Eumeniden, also in Wohlgesonnene zu verwandeln. Es sind diese Göttinnen, welche die Autorin „am liebsten in einem modernen Pantheon wiedersehen würde“.

Haynes erzählt all das, indem sie einen flüssigen und dabei äußerst unterhaltsamen, oft auch humorvollen Sachbuchstil mit einer inhaltlichen Kompetenz kombiniert, die manchem Fachbuch gut zu Gesicht stünde.

Titelbild

Natalie Haynes: Goddesses. Die Macht der griechischen Göttinnen – Mut, Verlangen, Leidenschaft.
dtv Verlag, München 2024.
352 Seiten , 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783423264068

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