Leben in einem zerrissenen Land

In seinem neuen Roman „Unterm Staub der Zeit“ erinnert sich Christoph Hein autobiographisch grundiert noch einmal an die späten 50er Jahre im geteilten Deutschland

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ende August des Jahres 1958 betritt der 14-jährige Daniel zum ersten Mal das evangelische Schülerheim im Westberliner Stadtteil Grunewald, wo er die nächsten fünf Jahre zusammen mit anderen aus dem Ostteil Deutschlands stammenden Jungen wohnen soll. Als Pfarrerssohn ist ihm in der DDR, die sich die Förderung von Kindern aus Arbeiter- und Bauernfamilien aufs Panier geschrieben hat, der Besuch einer Schule, an der man das Abitur ablegen kann, verweigert worden. Also folgt er dem Vorbild seines älteren Bruders David, der die kleine Stadt Guldenberg, in der die Flüchtlingsfamilie nach dem Krieg eine neue Bleibe gefunden hatte, zwei Jahre früher Richtung Westberlin verließ. Nun gehen die beiden Jungen gemeinsam auf das altsprachliche Evangelische Gymnasium und versuchen, die Trennung von Eltern und Geschwistern so gut wie möglich zu verarbeiten. Große Schwierigkeiten, sich in den Lernstoff an seiner neuen Schule einzuarbeiten, hat Daniel übrigens nicht. Denn, wie einer seiner zukünftigen Mitschüler ihn gleich am ersten Tag aufklärt, „wer an dieser Schule gut beten kann, kommt auch so durchs Abitur.“

Mit Unterm Staub der Zeit kehrt Christoph Hein in seinem neuen Roman zu Themen zurück, die in seinem Werk bereits öfter eine Rolle spielten. Sowohl die fiktive Stadt Guldenberg – sie steht für das nordsächsische Bad Düben, in dem Hein als Kind einer aus Schlesien stammenden Flüchtlingsfamilie bis zu seiner Konfirmation 1958 aufwuchs – als auch die Erinnerung an die Westberliner Gymnasialjahre besitzen einen autobiographischen Hintergrund. Beschrieben wurden sie bereits in Werken wie Von allem Anfang an (1997), Landnahme (2004), Glückskind mit Vater (2016) sowie dem weniger gelungenen, in der jüngsten Zeit spielenden und die Flüchtlingsproblematik behandelnden Roman Guldenberg (2021). Dass es dabei in jedem Fall auch um Fragestellungen geht, die die Entwicklung des Verhältnisses zwischen den beiden deutschen Teilstaaten bis 1990 und die seitdem erneut gesamtdeutsche Gegenwart betrafen, macht Hein nicht zuletzt zu jenem Chronisten deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, als den ihn die Kritik immer wahrnimmt.

Es ist ein streng reglementierter Tagesablauf, dem sich Daniel zwischen Internat und Gymnasium unterzuordnen hat. Man nimmt die Mahlzeiten gemeinsam ein. Punkt zehn Uhr am Abend hat Ruhe in den Zimmern zu herrschen. Nur Lesen im Bett und kurze, leise Unterhaltungen werden noch geduldet. Während Jungen und Mädchen am Gymnasium zusammen unterrichtet werden, leben sie den Rest des Tages in getrennten Wohnheimen. Bei Disziplinverstößen drohen Hausarrest und, sollte es sich um schwerere Vergehen handeln, der Schulverweis.

Über seine Zukunft hat der Junge, als er in Westberlin ankommt, offenbar schon entschieden. Schriftsteller will er werden, am liebsten Theaterautor. Schon beim Einzug ins Heim bringt er „fünfzehn längere Gedichte, die [ihm] gelungen erschienen“, drei Erzählungen und zwei Theaterstücke mit. Dazu einen kleinen Stapel von Romanen, Dramen und die geliebten Rilke-Gedichte. Am liebsten sind ihm fortan jene Stunden an den Sonntagnachmittagen, die die fünf Mitbewohner seines Zimmers nutzen, um in der Stadt unterwegs zu sein. Dann findet er Muße zum Schreiben und ist ganz bei sich.

Als er später die Westberliner Theaterszene, beginnend mit dem Schillertheater am Ernst-Reuter-Platz, für sich entdeckt, macht er schon bald erste Erfahrungen mit dem Milieu, in das er eines Tages ganz einzutauchen gedenkt. In der kleinen „Vagantenbühne“ nahe dem Bahnhof Zoo sitzt er mit Erlaubnis des dortigen Inspizienten Montag für Montag in den Abendproben, wird vom jeweiligen Regisseur in dessen dramaturgische Überlegungen mit einbezogen und gerät sogar in ein kleines erotisches Abenteuer mit einer jungen Schauspielerin. Dass sich im Ostteil der Stadt ebenfalls interessante Spielstätten wie das von Bertolt Brecht gegründete Berliner Ensemble am Schiffbauerdamm befinden, weiß er zwar, ist sich aber gleichzeitig der Gefahr bewusst, die ein Aufenthalt in der DDR-Hauptstadt für ihn als Flüchtling bedeuten könnte. Erst nach dem Umzug der Familie von Guldenberg nach Berlin, weil der Vater dort eine neue berufliche Herausforderung wahrnimmt, und nachdem die beiden Söhne sich wieder ein Zimmer in ihrem Elternhaus teilen dürfen, entspannt sich diese Situation ein wenig.        

Was Daniel allerdings glaubte, in Westberlin loszuwerden, das ständige Empfinden nämlich, ein Außenseiter unter seinen Mitmenschen zu sein – während seiner Schuljahre in der DDR dadurch ausgelöst, dass er als Pfarrerssohn vom Rest der Klasse deutlich abstach und man ihn das auch spüren ließ –, holt ihn fern von zu Hause schnell wieder ein. Die gesamte Schülerschaft des Gymnasiums ist unterteilt in drei Zweige, wobei der A- und der B-Zweig für die Einheimischen bestimmt ist, der C-Zweig hingegen für all jene Jungen und Mädchen, die aus dem Osten Deutschlands stammen. Schnell ist Heins Helden klar: „Wir galten als Hungerleider […], die aus der Staatskasse finanziert wurden, nichts hatten, nichts konnten und überdies in ihrer Kindheit von einem kommunistischen Staat indoktriniert worden waren.“ Wie wehrt man sich gegen die Zumutungen des tagtäglichen Lebens, wo Beziehungen zum anderen Geschlecht von Anfang an scheitern, weil die Eltern der oder des Angebeteten sich nicht überwinden können, einem mit „diesem russisch-verbrecherischen Virus“ Infizierten Platz in ihrer Familie einzuräumen? Indem man demonstrativ ein Gefühl der Überlegenheit zur Schau trägt. Denn Daniels neue Freunde merken schon bald, dass sie auf etlichen Gebieten nicht nur mithalten können, sondern eindeutig die Besseren sind. „Wir haben einfach ein Niveau, das von unten wie Arroganz aussieht“, kommentiert Daniels Bruder David die Lage, die natürlich trotz dieser Attitüde auch zahlreiche Nachteile mit sich bringt.

Unterm Staub der Zeit ist formell angelegt wie eine Anekdotensammlung rund um seine Hauptfigur. In 16 kurzen Kapiteln berichtet Hein von einer Zeit und aus einem Leben, die er sehr gut kennt. Oft – wie bei den Episoden um den Besuch einer Ostberliner Tanzschule oder um den verrückten Onkel eines Mitschülers, der als Sektenfanatiker aus Argentinien zurückkommt, wo er sich in Wilderich Baron von Bromstein-Haller umbenannt hat, und die „Kirche der Erstgeborenen“ mit seinem Neffen als deren zukünftigem Oberhaupt in Deutschland etablieren will – dominiert Humor den Text.

Wie außerordentlich elegant und gewitzt Christoph Hein als Erzähler sein kann, hat er schon des Öfteren bewiesen. Dass seine Romane gelegentlich aber auch ein bisschen betulich, allzu detailliert und abschweifend daherkommen, wissen ebenfalls alle, die seine schriftstellerische Karriere als Leserinnen und Leser von Anfang an mitverfolgt haben. In seinem neuen Roman freilich ist davon nichts zu spüren. Vielleicht liegt das daran, dass man sich, wenn man ein Alter erreicht hat, in dem die eigenen Erinnerungen eine immer größere Rolle spielen, lieber mit den heiteren Seiten der Vergangenheit auseinandersetzt als mit den tragischen.

Dass Hein der Tragik des Seins trotzdem nie ausgewichen ist, beweisen Romane wie Horns Ende (1985), Weiskerns Nachlass (2011) oder Trutz (2017). Doch Unterm Staub der Zeit ist so dicht an der eigenen Biographie entlanggeschrieben, dass man es dem Autor nur zu gern nachsieht, wenn er hier einmal die Gymnasiastenstreiche, ersten Liebeleien eines eben erwachsen Werdenden – gerade weil sie ihn noch für zu kindisch hält, beendet die Schauspielerin Friederike ihr Verhältnis mit Daniel – in den Mittelpunkt rückt.  

Die Jahre von Heins Helden am Evangelischen Gymnasium enden nicht nach fünf, sondern bereits nach drei Jahren. Bis zum Abitur verbleibt noch ein langer Weg. Doch im August 1961 versperrt dem jungen Mann, der für zwei Wochen als Rucksacktourist nach Hiddensee aufgebrochen ist, und seinem Bruder der Mauerbau den Rückweg nach Westberlin. Eine Geschichte endet, eine Geschichte beginnt, wie das letzte Kapitel des Romans überschrieben ist, deutet an, dass jede scheinbare Niederlage aber auch neue Chancen birgt. In Daniels Fall hat diese neue Chance nach einer abgebrochenen Buchhandelslehre, einem Rausschmiss an der Abendschule, in der er sein Abitur nachholen will, und einer gefährlichen Episode als Fluchthelfer auch mit einer neuen Liebe zu tun. Doch davon wird uns Christoph Hein sicher in einem seiner nächsten Bücher noch erzählen.

Titelbild

Christoph Hein: Unterm Staub der Zeit. Eine Jugend im Schatten des Mauerbaus.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
200 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431122

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