Venceremos! – Leider nicht

Reinhard Federmanns großer politischer Roman „Das Himmelreich der Lügner“ in einer Neuausgabe

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1959: In der Bundesrepublik Deutschland ist es literarisch das Jahr des politisch-zeitgeschichtlichen, sich an Gegenwart und jüngerer wie jüngster Vergangenheit abarbeitenden Romans, das Jahr der Blechtrommel, der Mutmaßungen über Jakob und von Billard um halb zehn, aber auch das der Rollbahn und des Strafbataillon 999.

Die letzten beiden Titel sind nicht geläufig? Das hat der hier zur Rede stehende, im selben Jahr erschienene Roman Das Himmelreich der Lügner mit diesen beiden Titeln gemeinsam – sie stammen übrigens von dem auch knapp 25 Jahre nach seinem Tod sich noch prächtig verkaufenden Heinz G. Konsalik –, obwohl ihn sonst nahezu alles von diesen beiden Romanen trennt, vieles hingegen mit den zuerst genannten drei Romanen verbindet. Will heißen: Das Himmelreich der Lügner, zuletzt 1993 aufgelegt, ist ein großer, ein freilich immer noch zu kanonisierender Roman.

Geschrieben hat den Roman Reinhard Federmann (1923-1976), der früh verstorbene österreichische Schriftsteller, Sachbuchautor, Übersetzer und Herausgeber der Literaturzeitschrift Die Pestsäule, die für jüngere und junge sowie für vergessene Autoren wie Robert Müller von großer Bedeutung war. Er, eine schillernde, aus finanziellen Gründen auch kulturelle ‚Tiefen‘ nicht scheuende Figur, gehörte mit Milo Dor, Gerhard Fritsch, Fritz Habeck, Hans Lebert oder Martina Wied zu einer Reihe von österreichischen Autorinnen und Autoren der langen 1950er Jahre, die, obwohl einschlägig am literarischen Leben beteiligt, literaturpolitisch wenig Beachtung fanden und später lange Zeit auch literarhistorisch vernachlässigt oder ignoriert wurden.

Ihr ‚Vergehen‘: Sie forderten Vergangenheitsbewältigung, Zeitgenossenschaft und eine sich einmischende, politisch verstehende Literatur, eine „Literatur der Verpflichtung“, wie es bei den befreundeten Federmann und Dor schon 1949 heißt. Alle Genannten wandten sich damit gegen jene Ausblendung von Ständestaat (1934-1938) und Anschluss an Deutschland (1938-1945), die für das konservativ-reaktionäre, die Zukunft in der habsburgischen Vergangenheit suchende Nachkriegsösterreich typisch war. Dieses Nachkriegsösterreich schätzte Autoren wie Heimito von Doderer, Alexander Lernet-Holenia, Max Mell, Franz Nabl oder Franz Karl Ginzkey und verwarf neben den genannten Vertretern einer littérature engagée auch sprachexperimentelle Neuerer, Stichwort Wiener Gruppe. Von denen distanzierte sich später auch Federmann selbst, er ganz gewiss kein Neuerer im engeren Sinne, was zu seinem heutigen Vergessensein maßgeblich beigetragen haben dürfte.

Als Motti vorangestellt sind dem zunächst im noch republikanischen Österreich und hier in Wien spielenden Roman Das Himmelreich der Lügner Zeilen von Heinrich Heine und Leo Trotzki, aus denen sich der Romantitel speist und in denen sich brennglasartig das Widerspiel von großen Hoffnungen, Vertrauen und Gutgläubigkeit einerseits und herben Enttäuschungen, Verrat und Ernüchterung andererseits spiegelt, das den Roman durchzieht: „Ein neues Lied, ein besseres Lied, / O Freunde, will ich euch dichten! / Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten“ (Heine) und „Unsere Zeit ist vor allem eine Zeit der Lüge“ (Trotzki).

In fünf selbst weiter untergliederten Teilen „Signale“, „Die Täter“, „Das Menschenrecht“, „Die Lügner“ und „Ein Himmelreich wird beerdigt“ wird dann die verwickelte, an Stationen, Ereignissen, Erlebnissen, Erfahrungen und Reflexionen reiche und sich über ein knappes Vierteljahrhundert erstreckende Geschichte des aus prekären Verhältnissen stammenden und meist in solchen lebenden Ich-Erzählers Bruno Schindler (Jg. 1913) entfaltet, dazu diejenige etlicher seiner Weggefährten und -gefährtinnen. Unter diesen sind aus Wien insbesondere die großbürgerliche und von Bruno auf verquere Weise geliebte Olga Squarenina, der mit Olga liierte Sozialdemokrat „mosaischer Konfession“ Heinz Rubin, der „Zugführer des Republikanischen Schutzbunds“ Robert Gernhardt, dessen Braut und Brunos „Ersatzliebe“ Trude Ullrich, der ‚Linksanwalt‘ Doktor Sterzer, der allüberall umtriebige und allzeit aufschwimmende Parteibonze Paul Heller, ein „Niemand […], ein Feigling und ein Lügner“, der „Anführer der klerikalen Studenten“ Eugen Naderny als „Feind schlechthin“, der rechte Schläger Fredy Sobalik, der Eisenbahner Josef Chwala und dessen Vater Joseph, der Buchdrucker und Parteiobmann Karl Beranek nebst dessen Frau Ilse und deren Schwester Melitta sowie Herr Schindler, der Stiefvater Brunos, hervorzuheben, dazu Dascha Weber-Burzewa, später in der Sowjetunion Bruno Schindlers Geliebte und scharfe Kritikerin, dazu Doktor Marcel Breit, neben anderen ein selbstverständlich unbescholtener Wendehals par excellence. Dabei versteht es sich, dass, wenn nicht alle, so doch etliche Figuren über sich ins Prototypische hinausweisen.

Ohne zu viel vorwegzunehmen, kann verraten werden, dass mit diesen um Bruno Schindler gruppierten Figuren ein heterogenes Potpourri an Eigenschaften, Verhaltensdispositionen und Handlungsweisen einhergeht, darunter Standhaftigkeit, Aufrichtigkeit, Treue, „sozialistische Kameradschaft“, „Glaube[] der Seligen“, Skrupelhaftigkeit, Opferbereitschaft und Märtyrertum, aber eben auch Eigennutz, Hass, Eifersucht, Hinterlist, Täuschung, ‚Fahnenflucht‘, Seitenwechsel, Verrat, Indolenz, Verleugnung, Opportunismus, Karrierismus und politische Amnesie. Womit auch angedeutet sein mag, dass sich die Zahl derjenigen, die die Kämpfe und Katastrophen der 1930er und 1940er Jahre überleben und/oder in Bruno Schindlers Nähe bleiben, in Grenzen hält.

Der Roman beginnt im Dezember des Jahres 1956 kurz nach der Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstandes mit dem bemerkenswerten Satz des als Journalist tätigen, in Frankfurt lebenden und des Aufstandes halber vorübergehend wieder in Wien weilenden Bruno Schindler. „Jetzt, nach mehr als zwanzig Jahren, kann ich nicht beschwören, ob alles so gewesen ist.“ Wir haben es also mit einem zwar aufrichtig und, ist zu ergänzen, selbstkritisch und schonungslos sich selbst gegenüber um „Rechenschaft“ bemühten, doch letztlich unzuverlässigen Erzähler zu tun. Der ist sich nicht einmal darin sicher, dass sein Erinnern der eigenen Person nach Fakten, Gedanken, Gefühlen, Wahrnehmungen usw. zutreffend ist: „Das alles gilt nur für mich. […] Das bin nur ich. Wenn ich es bin.“

Doch erweist sich der scheinbare Mangel – die Unsicherheiten nehmen im Romanverlauf im Übrigen ab, je näher das Geschehen der Erzählgegenwart rückt – insofern als Vorteil, als der auch fortwährend über das Wie und Warum des eigenen Schreibens räsonierende und mit „skeptisch überlegene[m] Blick“ zurückschauende Bruno Schindler Kontingenzen der Wirklichkeit auf das Entwerfen der Wahrheit dieser Wirklichkeit hin überwinden kann –  seiner Wahrheit, um genau zu sein. Dabei ist ihm ein ganzes Bündel an Notizen, die er sich 1934 im Exil in Brünn gemacht hat und das ihm von Trude Ullrich überbracht wird – richtig, Trude gehört zu den Treuen und Überlebenden –, eine zwar wertvolle, zuweilen aber dem Sinn nach nicht mehr entzifferbare Stütze.

Erinnernd jedenfalls führt der sich damals als „Enterbter unter Enterbten“ fühlende Bruno, als zwanzigjähriges Mitglied der „Sozialistischen Jungfront“ allein am „politischen Umschwung“ und dem Aufbau einer „neuen Welt“ interessiert, zunächst in den frühen März des Jahres 1933 und hier in verschiedene Milieus und an verschiedene Orte: Großbürgertum, Universität, proletaroides Kleinbürgertum und immer wieder die Straße. Hier nämlich finden die zusehends brutaleren Auseinandersetzungen zwischen Rechts und Links und offiziellen wie inoffiziellen Ordnungskräften (Heimwehr, Schutzbund, Polizei, Militär) statt.

Dabei ist es in den ersten beiden Teilen „Signale“ und „Die Täter“, die gut die Hälfte des Romans ausmachen, Schindlers Ziel, „einen bestimmten Augenblick der Geschichte“ – Rücktritt der drei Nationalratspräsidenten Karl Renner, Rudolf Ramek und Sepp Straffner am 4. März 1933, Ausschaltung des Parlaments durch und Staatsstreich von Engelbert Dollfuß am 15. März 1933, Errichtung des Ständestaates bzw. der Diktatur, Februarkämpfe 1934 mit der völligen Ausschaltung der Sozialdemokratie – darzustellen. In diesem Zusammenhang wird auch auf weiter zurückliegende historische Ereignisse wie die Julirevolte in Österreich im Jahr 1927 und auf weitere Milieus wie bspw. das Lumpenproletariat oder die Justiz eingegangen, um die Geschehnisse 1933/34 zu kontextualisieren und zu konkretisieren.

Thematisch geht es im Einzelnen um die Sozialdemokratie bzw. den Austromarxismus (Otto Bauer), die Gewerkschaften und die KPÖ, um Aktionismus und Strategie und in Zusammenhang damit auch um moralische Fragen, um die angemessene Gewichtung von Privat-Menschlichem im politischen Kampf, um Gewalt, Recht, Gerechtigkeit und Schuld, um Antisemitismus (später auch den Holocaust), um große Politik inklusive dazu gehöriger Theorien (Victor Adler) und lokale Aktionen, um das Verhalten der „Massen“, um Bruno Schindlers Flucht in die Tschechoslowakei im Februar 1934, um seinen Wunsch, die „Wahrheit“ zu schreiben und in diesem Zusammenhang um seinen Antrag, in die Sowjetunion einreisen zu dürfen:

Dort […] warteten sie auf mich, dort würden sie mich brauchen, dort würde ich zum ersten Mal in meinem Leben ein Mensch unter Menschen sein. Ich würde ihre Sprache lernen. Ich würde ihre Gedanken begreifen lernen. Ich würde erfahren, wie die Welt sein kann, wenn wir nur wollen.

Die Teile „Das Menschenrecht“, „Die Lügner“ und „Ein Himmelreich wird beerdigt“ berichten dann davon, was von Bruno Schindlers diesbezüglichen Hoffnungen nach einem schmerzvollen und schuldbeladenen Lernprozess am Ende übriggeblieben ist – rein gar nichts. Schon anfangs, für das Jahr 1939, ist von „Angst“ und davon die Rede, „dass ich alle Kraft zusammennehmen musste, um mich aus der Falle zu ziehen.“ Dann wird einlässlich und spannend vom hoch gefährdeten und Selbstverleugnungen jeder Art abverlangenden Leben der Exilanten, von allen möglichen Varianten des stalinistischen Terrors und der diesem zuarbeitenden „sozialistischen Wachsamkeit“, von Gefängnis-, Lager- und Lazarettaufenthalten sowie von weiteren innen- und außenpolitischen Entwicklungen der späteren 1930er und frühen 1940er Jahre erzählt. Dabei fällt u.a. über die Figur Paul Heller – das wird sich bis in die 1950er Jahre fortsetzen – auch ein bedenkliches Licht auf den Austromarxismus. „Ich war irrsinnig gewesen, nach Russland zu fahren“, lautet jedenfalls eine früh formulierte Einsicht Bruno Schindlers.

Ihn, den „Hochverräter, Flüchtling, Außenseiter und Soldat[en]“, begleiten wir dann als „Verbindungsmann“ im Pressehaus „zwischen den Einheimischen und den russischen Offizieren“ ins besetzte Nachkriegs-Wien. Das erinnert, obwohl thematisch ganz anders gelagert, atmosphärisch an Der dritte Mann. „Der Mörder hat unbegrenzte Chancen. Nur der Ermordete ist dumm dran“, so ein zentraler Satz in Die Lügner.

Bei Bruno Schindler verdrängt schließlich der „Ekel alle anderen Gefühle“ angesichts des „großen und höchst befriedigten Einverständnis[ses]“ zwischen einstmaligen Todfeinden der SPÖ und der ÖVP, das die frühe zweite Republik charakterisiert. Dies umso mehr, als er im Nachgang u.a. von der dramatischen Geschichte seines Freundes Heinz Rubin erfährt. Da kann es nicht verwundern, dass mit Blick auf diese zweite Republik für ihn auch jener Satz gilt, den er schon in der Sowjetunion und für die Sowjetunion formuliert hatte: „Nun war die Zeit gekommen, da mich keine Gemeinschaft der Welt mehr etwas anging.“

Abschließend sei auf das substantielle Nachwort des Herausgebers Günther Stocker hingewiesen. Das ordnet Federmann nicht nur mit weiteren Werken wie dem Heimkehrerroman Chronik einer Nacht (1950/1988) und den zusammen mit Dor verfassten „Kalter-Kriegs-Thriller[n]“ Internationale Zone (1953) und Und einer folgt dem anderen (1953) in der österreichischen Nachkriegs- und jüngeren Gegenwartsliteratur ein. Es kontextualisiert auch Das Himmelreich der Lügner – beispielsweise wird auf Jura Soyfers Romanfragment So starb eine Partei (1937) verwiesen – und gibt erhellende Hinweise auf Struktur, Themen und Rezeption des Romans.

Titelbild

Reinhard Federmann: Das Himmelreich der Lügner.
Picus Verlag, Wien 2023.
544 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783711721297

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