Die große Finsternis
Aleksandar Hemon schickt in „Die Welt und alles, was sie enthält“ seinen Helden auf eine Odyssee durch das menschliche Grauen
Von Beat Mazenauer
Besprochene Bücher / Literaturhinweise„Literatur ist, was in der Zusammenfassung verloren geht“, hat der Schweizer Literaturkritiker Manfred Papst einmal gesagt. Ein schönes Beispiel findet dieser Satz im Roman Die Welt und alles, was sie enthält des bosnisch-amerikanischen Autors Aleksandar Hemon. Er erzählt darin die Geschichte des bosnischen Juden Rafael Pinto und seiner Odyssee quer durch Asien. Als er in Shanghai verstirbt, lässt er eine junge Frau zurück, die er auf der Flucht wie seine Tochter beschützt hat. Das war 1949. Ein halbes Jahrhundert später, im Sommer 2001, besucht der Autor Aleksandar Hemon in Jerusalem ein Literaturfestival. Dabei kommt es zu einer eindrücklichen Begegnung, die er im Epilog des Romans festhält. Nach der Lesung stellt sich ihm eine alte Frau als Rahela Pinto vor. „Meine Geschichte ist sehr lang und verworren, sagte sie, aber ich möchte Ihnen trotzdem davon erzählen“. Aufs Wesentliche gerafft berichtet sie von ihren zwei Vätern Rafael und Osman, der eigenen Geburt unter schwierigen Umständen, der Flucht vor dem Krieg und wie sie in Rafaels Obhut bis nach China gelangte. Weil er mehr erfahren möchte, bittet sie der Autor um ein zweites Gespräch Tags darauf, zu dem sie aber nicht erscheint. Die Geschichte von Rafael und Rahela Pinto müsste deshalb eine lose Zusammenfassung bleiben, hätte sie Aleksandar Hemon nicht mit allen Registern seiner Erzählkunst zu einem Stück beeindruckender Literatur gemacht. Die Welt und alles, was sie enthält erzählt mit weit ausladender epischer Geste ein individuelles Schicksal voller Schrecken und Schönheit, voller Liebe und Angst, das Hemon kraftvoll zum Leben erweckt.
Der jüdische Apotheker Rafael Pinto gerät am 28. Juni 1914 ins Räderwerk der Geschichte. An diesem Tag bricht die Welt und alles, was sie enthält, auseinander. Rafael wird unweit seines Zuhauses in Sarajevo Zeuge des tödlichen Attentats auf den Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Frau Sophie. In eine amouröse Tändelei verwickelt, hört er das Krachen der beiden Schüsse, die den Anfang des Weltkriegs und das Ende der jüdischen Kultur in Bosnien bedeuten. Wenig später wird er eingezogen und nach Galizien an die Front geschickt. Die Perversion dieser Zwangsverpflichtung liegt für ihn darin, dass er durch den Krieg unerträgliche Greuel erlebt und zugleich den Muslim Osman Karišik kennenlernt, die Liebe seines Lebens. Rafael und Osman erkennen sich auf den ersten Blick, sie halten fortan einander am Leben. Sie überstehen die Brussilow-Offensive und entkommen gemeinsam, als ihr Trupp aufgerieben wird. Später geraten sie in Gefangenschaft und werden von der Roten Armee nach Buchara und weiter nach Taschkent deportiert.
Aleksandar Hemon erzählt die Liebe zwischen Osman und Rafael voller Empathie und mit einer Prise idealisierendem Pathos, aber frei von Kitsch. Während sich Rafael angesichts der Kriegsgreuel ohnmächtig und hilflos fühlt, bewährt sich Osman als Agent der Geschichte, indem er ein mysteriöses Doppelleben führt, das er vor Rafael verborgen hält. Er verschwindet immer wieder auf Zeit, während sich Rafael nach ihm sehnt. „Was ich tue, spielt keine Rolle. Ich tue, was ich tun muss“, besänftigt Osman die Angst des Geliebten. In Taschkent haben sie einen Unterschlupf bei einem Juden namens Isak Abramovich gefunden, dessen idyllischer Garten ihre Liebe vor argwöhnischen Blicken schützt. 1921 gelingt es Osman, ihre Flucht aus Taschkent zu organisieren, um den Preis, dass er selbst dabei aus der Geschichte verschwindet. In dieser Situation entdeckt Rafael seine eigene innere Stärke, die darin besteht, durchzuhalten. Mit ihm flieht eine schwangere Frau, die in einer Hütte in den Bergen ein Mädchen zur Welt bringt und dabei ihr Leben verliert. Die neugeborene Rahela, die mutmaßlich Osmans Tochter ist, wird von Rafael in Obhut genommen. Er flüchtet mit ihr über unwirtliche Berg- und staubige Wüstenpfade, bis sie 1932 im von Flüchtlingen überfüllten Shanghai Unterschlupf finden. So beginnt seine Geschichte mit Laudanum in Sarajevo und endet in den Opiumhöhlen Chinas. Der Rausch ist Rafaels Begleiter und Tröster. Auch Rahela vermag ihn mit ihrer frühreifen Nüchternheit nicht zu retten. Zum Schluss aber vernimmt auch sie Osmans Stimme, die Rafael auf der Flucht begleitet hat:
Der Himmel funkelte, die Zahl der Sterne ging in die Millionen. Osman strich über ihr Haar wie Padri, behutsam und zärtlich, als wollte er nie damit aufhören. Manche dieser glitzernden Sterne waren längst tot und erloschen. Solange man sie sehen kann, sagte Osman, sind sie nicht tot.
„In Bewegung zu bleiben, hieß, am Leben zu bleiben“, treibt der Erzähler seine Geschichte voran. Dabei dehnt und rafft er die Zeit nach Belieben, indem er das Augenmerk weniger auf das Unterwegssein legt als auf die Momente dazwischen, wenn die Flucht für Momente stillsteht: glücklich im Garten, in angespannter Erwartung vor den Verfolgern, in der quälenden Hitze oder schließlich verloren im Chaos von Shanghai. Je länger die Flucht dauert und je größere Zeiträume er zwischen diesen Etappen überspringt, umso mehr macht sich der Erzähler selber bemerkbar. Äußert er sich anfänglich nur kurz („Wie ich gestehen muss, teile ich die Meinung des Majors.“), fügt er später längere dokumentarische Notizen in die Schilderung ein, um das Erzählte historisch zu beglaubigen und den Zauber der Fiktion aufzuheben. Dabei tritt wiederholt eine mysteriöse Figur in Erscheinung: Major Moser-Ethering, ein blasiert-zynischer britischer Agent auf der Flucht vor den Bolschewiken, der später mehrere Reisebücher und autobiografische Texte verfasst haben soll, aus denen der Erzähler gerne zitiert. Doch selbst hier, wo Hemon mit historischen Zeugnissen operiert, betreibt er ein literarisches Maskenspiel. Hinter dem fiktiven Haudegen Moser-Ethering verbirgt sich tatsächlich der englische Offizier Frederick Bailey, von dem es ein Buch mit dem Titel Mission to Tashkent gibt. Das verfremdende Verfahren wendet Hemon auch bei der Schilderung des Massakers in der uigurischen Stadt Korla an, das Rafael und Rahela 1922 nur mit Glück überleben. Die dichte, beklemmende Schilderung des Gemetzels, das marodierende Truppen des blutrünstigen Barons von Teutenberg begehen, gleicht einem historischen Ereignis ein Jahr zuvor: der Plünderung und Zerstörung der mongolischen Stadt Urga durch Truppen des nicht minder irrlichternden Freiherrn Ungern-Sternberg. Indem Hemon sich die historischen Tatsachen auf eigene Weise aneignet, sie fiktionalisiert, verortet er Rafaels Flucht in den Turbulenzen jener Epoche und bleibt auf suggestive Weise doch ganz Herr über die eigene Geschichte.
Die Welt und alles, was sie enthält erzählt eine Chronik der menschlichen Verwüstung und zugleich eine ergreifende Liebesgeschichte in Zeiten der Kriege und der „gran eskuridad“, wie Rafael es in seinem „Mischmasch aus Bosnisch, Ladino und Deutsch“ ausdrückt. Diese Sprache ebenso wie der Sehnsuchtsort Sarajevo trägt er auf der Flucht im Herzen mit sich. Doch dieses sein Ithaka bleibt eine Fata Morgana, zu der kein Weg zurückführt, weil die Kultur Sarajevos zerstört wurde. Als Rahela die Stadt viel später besuchen wird, um hier nach Lebenszeichen ihrer beiden Väter zu forschen, wird sie nichts finden und enttäuscht nach Jerusalem weiterreisen. Indem Aleksandar Hemon diese „große Finsternis“ sowie weitere Liedzeilen und Gesprächsfetzen in Rafaels Sprachengemisch unübersetzt stehen lässt, lebt darin das Dunkel der Geschichte auch für die Leser und Leserinnen fort.
Im eingangs erwähnten Epilog, der kurz vor 9/11 spielt, deutet der Autor die fortdauernde Gegenwärtigkeit seiner Geschichte an. Fernsehbilder von „bis an die unsichtbaren Zähne bewaffneter israelischer Soldaten“ und die latente Angst vor Anschlägen umrahmen die sarkastisch geschilderte Podiumsdiskussion zum Thema „Schreiben, Krieg, Leiden“, in der ein Streit darüber entbrennt, wer als erster ohne Schutzweste das belagerte Sarajevo besucht habe. Die Geschichte nimmt kein Ende. Rafaels Durchhaltewillen aber erfüllt sich zuletzt, indem Rahela den Autor anspricht und an seine „Fantasie“ appelliert. Unter der Hand von Aleksandar Hemon hat sich das Skelett ihrer gerafften Erzählung in ein Epos voller Farben, Eindrücke und Emotionen verwandelt.
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