Lyrische Wiederentdeckungen mit biografischen Informationen

Die Jenaer Reihe „VERSENSPORN“ widmet sich vergessenen LyrikerInnen

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit zehn Jahren widmet sich die Jenaer Edition POESIE SCHMECKT GUT mit der Reihe VERSENSPORN – Heft für lyrische Reize heute meist vergessenen LyrikerInnen. Mit vier Neuerscheinungen pro Jahr, wobei die Auflage auf 100 bis 200 Exemplare begrenzt ist, spüren Herausgeber Tom Riebe und seine Mitstreiter dabei AutorInnen auf, die selbst Literaturliebhabern kaum bekannt sind. Den Auftakt der farbigen Broschüren machte 2011 eine Gedichtauswahl des Dresdner Spätexpressionisten Walter Rheiner (1895–1925), der neben seiner Novelle Kokain (1918) und einigen Prosaskizzen nur ein schmales Lyrikwerk von rund achtzig Gedichten hinterließ. Heft 2 widmete sich dann dem halleschen Punkpoeten und Aktionist „Matthias“ BAADER Holst (1962–1990), der in den 1980er Jahren mit Lesungen und künstlerischen Aktionen in der Untergrundszene der Saalestadt in Erscheinung trat und eine der schillerndsten Figuren der ehemaligen inoffiziellen DDR-Literaturszene war. Der gemeinnützige Jenaer Verein hatte sich bereits seit 1996 um die Sicherung und Bewahrung seines Werkes verdient gemacht. Ein Großteil des umfangreichen Materials (ca. 1000 Texte und Textfragmente, Fotos, Zeichnungen usw.) wurde 2015 an das Deutsche Literaturarchiv Marbach übergeben.

Bisher sind 45 VERSENSPORN-Hefte erschienen, wobei der Schwerpunkt auf der Vorstellung von expressionistischen LyrikerInnen liegt: u.a. Bess Brenck-Kalischer, Wilhelm Runge, John Höxter, Paul Boldt, Reinhard Goering, Karl Brand, Frida Bettingen, Peter Baum, Franz Janowitz, Ernst Balcke, Egon Schiele, Bruno Quandt, Ernst Blass, Robert Jentzsch, Otfried Krzyzanowski, Gustav Sack, Ernst Wilhelm Lotz, Ernst Stadler, Friedrich Wilhelm Wagner oder Kurd Adler. Eine kompakte Biografie auf der Coverrückseite ergänzt jedes Heft, wobei die Herausgeber bemüht sind, den „AutorInnen nach neuestem Forschungsstand ihre „richtigen“ Biografien wiederzugeben bzw. mit überlieferten Legenden aufzuräumen“. Exklusiv liegt den Exemplaren der Abonnenten eine Reproduktion eines Porträts bei, die rückseitig mit einem Gedicht bedruckt ist.

Die ersten beiden 2021-Neuerscheinungen sind ebenfalls expressionistischer Lyrik gewidmet. Heft 44 erinnert an den Dichter Hans Leybold, der nur ein schmales Werk hinterlassen hat. Am 2. April 1892 in Frankfurt am Main geboren wuchs er nach einem Familienumzug in Hamburg auf. Hier besuchte er die Schule und machte 1911 an der Oberrealschule in St. Georg sein Abitur. Im Anschluss folgte ein einjähriger Militärdienst in Itzehoe. Noch bevor Leybold im Oktober 1912 ein Philosophiestudium an der Ludwig-Maximilians-Universität in München begann, konnte er bereits Rezensionen, Glossen und Aufsätze in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichen, in denen er vor allem das wilhelminische Bürgertum angriff.

Zum 50. Geburtstag von Gerhart Hauptmann (15. November 1912) organisierte er mit Hugo Ball eine Sonntagsmatinee mit einer Uraufführung von dessen mythischen Dramenfragment Helios. Mit Hugo Ball entwickelte sich daraufhin eine enge Freundschaft. Unter dem Pseudonym Ha Hu Baley verfassten sie gemeinsam Gedichte, die 1914 in der von Franz Pfemfert verantworteten Wochenschrift Die Aktion erschienen.

Der blaue Abend

Es wettert Lichtkomplex vom Himmel auf die Straßen,
Aus Fensterfronten wandeln hoch die blauen Huren.
Oh holde Stunde sanfter Mädchennasen,
Oh Unisono und Zusammenklang der Turm- und Taschenuhren!

Der Mond steigt in die Rundung metaphysisch höher,
Ein Pferd macht müde sich’s bequem in einem Vogelneste.
Verzückt entschwebt dem Volk ein violetter Seher,
Und schwarzer Violinklang tönt aus dem Asbeste.

Glasbläserei und Kuppel weißer Bögen,
Wölbt hoch euch aus dem Lichtkreis dieser Stadt!
Es ist, als ob aus Finsternis viel Tränen zögen
Und kranken Gottes Haupt erglänzet matt.

Es lehnen sich die Häuser blond zurücke.
Sind Türme weiße Engel, die entschweben.
Vom Himmel stürzt zur Hölle eine Brücke,
Auf der die Toten händeringend kleben.

Nach nur einem Semester wechselte Leybold das Studienfach und wandte sich nun der Germanistik zu. In München hatte er zudem Kontakt mit Käthe Brodnitz, Emmy Hennings, Richard Huelsenbeck, Klabund, Erich Mühsam und Gustav Sack. Ab Oktober war er außerdem Herausgeber der literarisch-politischen Zweiwochenschrift Revolution, in der u. a. Hugo Ball, Johannes R. Becher, Kurt Hiller, Klabund, Ernst Wilhelm Lotz und Erich Mühsam veröffentlichten. Die erste von insgesamt fünf erscheinenden Nummern wurde jedoch von der Münchner Polizei wegen „Verbreitung unzüchtiger Schriften“ zunächst beschlagnahmt.

Im Mai 1914 immatrikulierte sich Leybold an der Philosophischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, musste jedoch bereits Anfang August nach Kriegsausbruch seinen Dienst als Unteroffizier der Reserve antreten. Über die nächsten Wochen seiner Biografie herrscht bis heute Unklarheit. Leybold kämpfte an der belgischen Front; es folgte ein Aufenthalt in einem Militärlazarett – Grund war jedoch keine Verwundung, sondern eine Geschlechtskrankheit, wie aus einem überlieferten Krankenblatt hervorgeht. Nach zwei Wochen wurde er dienstfähig zu seiner Truppe entlassen. Am 8. September 1914 erschoss sich Hans Leybold in seiner Wohnung in Itzehoe. Über seinen Selbstmord gibt es nur Mutmaßungen, denn selbst in den Tagebuchnotizen und Nachrufen seiner Freunde (Kurt Hiller, Hugo Kersten oder Erich Mühsam) finden sich widersprüchliche Angaben – von der Angst über seine scheinbar unheilbare Krankheit bis zu erschreckenden Erlebnissen an der Front. Leybold war einer der ersten toten Dichter des Ersten Weltkriegs.

Neben sieben Ha Hu Baley-Gedichten präsentiert das Lyrikheft 44 zwanzig eigenständige Gedichte von Hans Leybold, die – bis auf eine Ausnahme – in der Wochenschrift Die Aktion im Zeitraum von 1914 bis 1918 erschienen. Isolation, Ängste und Entwurzelung sind die vorherrschenden Themen dieser Gedichte, die bereits surreale und dadaistische Elemente enthalten.

Ich schlafe

Ich schlafe: aber meine Ängste wachen;
in meine Träume beißen sie sich fest
wie Hunde. Rot grellt ihr Lachen
gleich dem von einer Dirne, die sich kitzeln läßt.

Die Augen schmerzen. Und die Arme zittern;
das Mädchen neben mir ist kühl wie Schnee.
Ich reiße an den Pfosten wie an Eisengittern …
- Gib mir die Hand: mir tut die Stirn so weh. -

Das zuletzt erschienene VERSENSPORN-Heft 45 ist der deutschen Schriftstellerin und Dada-Mitbegründerin Emmy Hennings gewidmet, die am 17. Januar 1885 als Emma Maria Cordsen und Tochter eines Werftarbeiters und einer Wäscherin in Flensburg geboren wurde. Dort besuchte sie auch die Volksschule und hatte danach verschiedene Anstellungen als Dienstmädchen und Animierkellnerin; schlug sich aber auch als Hausiererin und Gelegenheitsprostituierte durch. Mit 18 Jahren heiratete sie und schloss sich einer Wanderbühne an. Nach der Scheidung 1904 und dem Auseinanderbrechen der Theatergruppe tingelte sie als Vortragskünstlerin alleine durch Deutschland. Es folgten Jahre wechselnder Aufenthalte und Auftritte in Berlin (im Café Größenwahn) und München (in der Schwabinger Künstlerkneipe Simplicissimus), wo sie als Diseuse auftrat und Kontakt mit Erich Mühsam, Johannes R. Becher, Klabund oder Francisca Stoecklin hatte.

1913 erschien mit Die letzte Freude ihr erster Gedichtband im Verlag von Kurt Wolff als fünfter Band der Reihe Der jüngste Tag. Hier versuchte sie, der expressionistischen Wortkunst ihrer männlichen Kollegen eine andere Stimme entgegenzusetzen – oder wie die Vossische Zeitung schrieb: ihren Gedichten „geht immer ein Sehen, Fühlen, Ahnen voraus.“

Und nachts in tiefer Dunkelheit

Und nachts in tiefer Dunkelheit,
Da fallen Bilder von den Wänden,
Und jemand lacht so frech und breit,
Man greift nach mir mit langen Händen.
Und eine Frau mit grünem Haar,
Die sieht mich traurig an
Und sagt, dass sie einst Mutter war,
Ihr Leid nicht tragen kann.
(Ich presse Dornen in mein Herz
Und halte ruhig still,
Und leiden will ich jeden Schmerz,
Weil man es von mir will.)

Im Februar 1916 gründete Hennings mit Hugo Ball, Jean Arp, Tristan Tzara, Richard Huelsenbeck und anderen in Zürich das „Cabaret Voltaire“, die Keimzelle der Dada-Bewegung. Obwohl ihre Gedichte in zahlreichen Tageszeitungen abgedruckt wurden, fand sie im Literaturbetrieb der Weimarer Republik keinen festen Platz. 1920 heirateten Hennings und Ball. Nach dem Tod ihres Mannes im September 1927 führte Emmy Ball-Hennings ein rastloses Leben. Mit Feuilletons, Zimmervermietungen oder als Arbeiterin in einer Tabakfabrik bestritt sie ihren kläglichen Lebensunterhalt. Bis zu ihrem Tod am 10. August 1948 in Sorengo bei Lugano machte sie sich als Verwalterin und Herausgeberin der Werke von Hugo Ball verdient.

Hennings publizierte einige Romane, Erzählungen, autobiografische Werke, Märchen und Legenden. Neben ihrem Lyrikdebüt Die letzte Freude veröffentlichte sie noch zwei weitere Gedichtbände. Die Gedichte in Helle Nacht (1922) sind von einer ergreifenden Innigkeit und erinnern mit ihrer religiösen Tendenz (Marienlieder) an Novalis. „Ein heimgekehrtes müdes Kind, dem Einschlafen nah, summt vor sich hin, weint vor sich hin, lächelt vor sich hin, so sind diese Gedichte“, resümierte Hermann Hesse in einer Rezension (In: Vivos Voco. Zeitschrift für neues Deutschtum. Jg.2, Heft 12 (Juni 1922)). In ihrem letzten Gedichtband Der Kranz (1939) verarbeitete Hennings u. a. ihre Trauer über den Verlust ihres Gefährten Hugo Ball.

Sag, bist du fortgeflogen?

Sag, bist du fortgeflogen?
Und hörst du mich nicht mehr?
Will dich ganz leise fragen:
Was sind deine Hände so schwer?

[…]

Einst schliefst du in meinen Armen,
Und jetzt, wie weit entfernt von mir?
Träumst du am Herzen der Liebe,
Sag einen Gruß von mir.

Neben einem Querschnitt aus Hennings drei Lyrikbänden wird die VERSENSPORN-Neuerscheinung auch durch verstreut publizierte Gedichte sowie durch Gedichte aus ihrem Nachlass ergänzt. Das nächste Heft macht mit dem lyrischen Schaffen des Wiener Journalisten und expressionistischen Schriftstellers Heinrich Nowak (1890–1955) bekannt.

Titelbild

Emmy Hennings: Versensporn – Heft für lyrische Reize. Nr. 45: Emmy Hennings.
Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2021.
32 Seiten, 4,00 EUR.

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Titelbild

Hans Leybold: Versensporn – Heft für lyrische Reize. Nr. 44: Hans Leybold.
Edition Poesie schmeckt gut, Jena 2021.
32 Seiten, 4,00 EUR.

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