Porträt einer Puppenmacherin

Thomas Hettche haucht Jim Knopf, dem Urmel und Kalle Wirsch neues Leben ein

Von Laura HarffRSS-Newsfeed neuer Artikel von Laura Harff

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Zweite Weltkrieg, eine mittellose jugendliche Puppenmacherin und ihr Wunsch, die Menschen mit inszenierten Märchen zu berühren: Thomas Hettches neuer Roman Herzfaden ist allein aufgrund dieser Thematik zum Erfolg prädestiniert gewesen. Eine Vermutung, die sich nach der Veröffentlichung der Short List des Deutschen Buchpreises Mitte September bestätigt hat. Das Thema Zweiter Weltkrieg bewegt, ist aber eben auch schon beinahe ein Garant für Anerkennung und literarisches Prestige im deutschsprachigen Raum. Ohne dabei unbedingt besonders originell sein zu müssen.

Doch Hettche schreibt kein Buch über die Gräuel des NS-Regimes, sondern das zugleich autobiographische und fiktionale Porträt einer historischen Figur – Hannelore „Hatü“ Marshall-Oehmichen (1931-2003). Und der Zweite Weltkrieg spielt nur insofern eine Rolle, als dass er die Geburtsstunde des wohl bekanntesten deutschen Marionettentheaters markiert, das zunächst unter dem Namen „Der Puppenschrein“ auftritt, ehe es 1948 als „Augsburger Puppenkiste“ mit erweitertem Ensemble neu gegründet wird. Auch wenn die Zerstörung Augsburgs durch einen Bombenangriff am 25. Februar 1944, die der Autor im ersten Drittel des Romans behandelt, dadurch nicht weniger erschüttert:

Dann gibt es eine Explosion in allernächster Nähe, alle schreien, die Glühbirne flackert ein paarmal in ihrem Drahtkäfig und verlöscht. Doch bevor es im Keller dunkel wird, sieht Hatü jeden einzelnen Stein der Wände erzittern und wie der Putz von der Decke herabrieselt. Der Staub hüllt sie im Dunkeln ein, sie spürt ihn auf den Lippen, in den Augen, hält sich ihre Jacke vor den Mund und muss doch husten. Das Einzige, was sie noch hört, ist das Fiepen in ihren tauben Ohren. Der Betonboden vibriert unter den Explosionen, die ihn jetzt ohne Pause erschüttern, aber nur dumpf zu ihr durchdringen. Und irgendwann hört sie, wie von fern, die Stimme der Schwester nah an ihrem Ohr. „Hänsel und Gretel“, singt Ulla leise, „verirren sich im Wald.“

Es ist diese einzelne Liedzeile ohne die dazugehörigen Folgestrophen, in denen die Kinder nach Hause finden, die die Hoffnungslosigkeit der Situation am besten darzustellen vermag. Mehr noch, da auch die Hänsel und Gretel-Marionetten, die Hatüs Vater für die Aufführungen des familiären Puppentheaters gebaut hat, in den Feuern zerstört werden. In Momenten wie diesem erliegt man dem Zauber von Hettches Sprache, dem es mit wenigen Worten gelingt, die hölzernen Marionetten auf dem Papier so zum Leben zu erwecken, dass man um ihren Verlust zu trauern beginnt wie um den Tod einer lieb gewonnenen Romanfigur.

Der Roman beginnt mit einem namenlosen 12-jährigen Mädchen, das sich nach einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste, für die sie sich viel zu alt glaubt, vor ihrem entfremdeten Vater versteckt. Sie öffnet eine Holztür, steigt eine Treppe hinauf und findet sich plötzlich, ähnlich wie der gleichaltrige Jugendbuchheld Bastian Balthasar Bux, auf einem geheimnisvollen mondbeleuchteten Dachboden wieder. Der Eintritt in diese magische Parallelwelt hat sie auf die Größe einer Marionette schrumpfen lassen (hier schmeckt man eine Prise Alice im Wunderland heraus) und sie begegnet, neben den lebendig gewordenen Gestalten der Augsburger Puppenkiste, auch dem Gespenst der verstorbenen Schöpferin. Auf den folgenden 288 Seiten wird Hatü ihr die Geschichte des Theaters und die eigene Vergangenheit erzählen.

Hettche charakterisiert Hatü vor allem über die Liebe zu ihren Marionetten, die nur von der Zuneigung übertroffen wird, die sie für ihren Vater Walter Oehmichen empfindet. Der ehemalige Schauspieler und Augsburger Oberspielleiter hatte die Macht der Marionette, die anders als der Mensch nicht eitel ist, die aus Holz besteht und trotzdem lebt und die Erwachsene wieder zu Kindern werden lässt, während einer provisorischen Aufführung für seine Mitsoldaten im Krieg erkannt. Dieses Phänomen beschreibt er mit der titelgebenden Metapher des „Herzfadens“, der als unsichtbares Band zwischen der Marionette und den Herzen der Zuschauenden besteht und der uns glauben macht, die Puppen seien lebendig. 

Ein Mädchen, dessen Jugendjahre vom Zweiten Weltkrieg überschattet werden, ist gegen die alltäglichen Schrecken nicht gewappnet. Zwar helfen die Märchen, die sie mit der Augsburger Puppenkiste auf die Bühne bringt; das Erlebte kann dadurch jedoch nicht verarbeitet werden. So hält Hatü im Spiel inne, als sie die böse Hexe in Hänsel und Gretel im Ofen verbrennen soll. Zu sehr fühlt sie sich an die Gerüchte erinnert, die aus den Konzentrationslagern an die Öffentlichkeit dringen – ein Gedanke, der so ähnlich auch im Späten Tagebuch des KZ-Überlebenden Max Mannheimer (1920-2016) zu finden ist. Hinzu kommt die Schuld, die sie angesichts ihrer ersten eigenen Marionette empfindet, der sie unbewusst das Gesicht einer antisemitischen Karikatur gegeben hat. Eine Schuld, die sie über den Tod hinaus begleiten soll.

Die Romanhandlung wechselt zwischen zwei Erzählebenen, die wie in Michael Endes Die unendliche Geschichte durch verschiedene Textfarben kennzeichnet sind: dem Hier und Jetzt des namenlosen Mädchens auf der einen und Hatüs Jugendjahren auf der anderen Seite.

Dabei sind es vor allem die mit der Farbe Rot markierten Abschnitte über das namenlose Mädchen, die den Roman als Märchen oder phantastischen Jugendroman qualifizieren. Die andauernde Präsenz ihres iPhones, das später durch die antisemitisch verzerrte Kasperl-Marionette geklaut wird und dessen Zurückholen die typische „Quest“ der Heldin und ihrer Gefährten, Jim Knopf, dem Urmel und Kalle Wirsch, ersetzt, wirkt von Zeit zu Zeit jedoch eher unfreiwillig komisch.

Überzeugen kann Herzfaden vielmehr durch die in Blau gedruckten ‚Rückblenden‘ in Hatüs Vergangenheit: ihre Kindheit, der Beginn und Verlauf des Krieges, die Gründung der Augsburger Puppenkiste, ihre Heirat und Familiengründung. Durch die Verwendung des Präsens als Erzählzeit entwickeln diese Vergangenheitskapitel einen Sog, die der im distanzierten Präteritum verfassten Gegenwart fehlt. Gleichzeitig inszenieren sie Hatü als Geschichtenerzählerin, die Autoren wie Michael Ende, dessen Jim Knopf-Bände die Augsburger Puppenkiste 1961/62 fürs westdeutsche Fernsehen adaptierte, zu Unsterblichkeit verholfen hat. Und die dabei selbst unsterblich geworden ist.

Thomas Hettche hat mit Herzfaden ein modernes Märchen verfasst – eine Geschichte wie Michael Endes Jim Knopf und Antoine de Saint-Exupérys Der Kleine Prinz, die den Krieg behandelt und dann auch wieder nicht und von der wir nicht wissen, ob sie für Kinder oder für Erwachsene geschrieben ist.

Titelbild

Thomas Hettche: Herzfaden. Roman der Augsburger Puppenkiste.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020.
288 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783462052565

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