Sehnsuchtsland Deutschland

Karla Hielscher bietet einen Einblick in das Wirken von „Dostojewski in Deutschland“

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fjodor M. Dostojewski (1821–1881) war Deutschland zeitlebens verbunden. In keinem anderen Land außerhalb Russlands lebte der Schriftsteller so lange wie in Deutschland, wo er sich zwischen 1862 und 1879 neunmal aufgehalten hat. Seine teils mehrmonatigen Aufenthalte fanden Niederschlag in seinen Romanen, Tagebüchern und Briefen, ja ohne die Aufenthalte in Europa und Deutschland ist sein gewaltiges Werk nicht zu denken.

Wie jeder gebildete Russe war Dostojewski damals mit westeuropäischer Literatur und Philosophie aufgewachsen. Honoré de Balzac, George Sand, Victor Hugo, Alexandre Dumas, Johann Wolfgang von Goethe und besonders E.T.A. Hoffmann sowie Friedrich von Schiller waren ihm vertraut. Und so notierte er im Sommer 1862 bei seinem ersten Besuch in seinen Reiseskizzen: „Es ist nicht zu fassen, daß ich nun endlich Europa zu Gesicht bekomme, ich, der ich vierzig Jahre lang vergeblich von Europa geträumt habe“.

Bereits 1999 widmete sich die Literaturwissenschaftlerin und Slawistin Karla Hielscher in Dostojewski in Deutschland ausführlich und detailliert den zahlreichen Aufenthalten Dostojewskis in Deutschland. Zum diesjährigen 200. Geburtstag des russischen Schriftstellers am 11. November (nach julianischem Kalender 30. Oktober) hat dieses Insel-Taschenbuch nun eine Neuauflage erlebt. Dostojewskis erste Reisen – vor allem in Wiesbaden, Baden-Baden und Homburg – waren stark von seiner Spielsucht motiviert, die im Sommer 1863 ihren Anfang nahm. Häufig stand Dostojewski, der außerdem sehr an Epilepsie litt, vor dem nackten Nichts und musste dann Freunde verzweifelt um Hilfe bitten, die seine Schulden bezahlten oder ihm die Rückreise nach Russland ermöglichten.

Das schlimmste ist, daß meine Natur gemein und allzu leidenschaftlich ist: Immer und in allem muß ich bis an die äußerste Grenze gehen, mein Leben lang habe ich diese Linie wieder und wieder überschritten. Gleich zu Beginn trieb der Teufel sein Spiel mit mir: Ich gewann mit ungewöhnlicher Leichtigkeit innerhalb von drei Tagen 4000 Francs. […] Auf der einen Seite dieser leichte Gewinn. Andererseits die Schulden, die Eintreibungen, die seelische Unruhe und die Aussichtslosigkeit, nach Russland zurückzukehren. Und schließlich das dritte und Wichtigste – das Spiel selbst. Wissen Sie, wie das einen anzieht? Nein, ich schwöre Ihnen, es ging nicht allein um den Gewinn, wenngleich ich vor allem Geld um des Geldes willen benötigte. Anna Grigorjewna flehte mich an, mich mit den 4000 Francs zufriedenzugeben und sofort abzureisen. Doch eine so leichte und wahrscheinliche Möglichkeit, alles in Ordnung zu bringen! […] Schließlich war es vorbei, alles verspielt.

aus einem Brief an den Dichter und engen Freund Apollon Nikolajewitsch Maikow (1821–1886)

Ein Jahrzehnt war Dostojewski von dieser fast selbstzerstörerischen Sucht besessen, deren qualvolle Faszination aber auch immer wieder neue Antriebskräfte und Kreativität freisetzte. Dank seiner zweiten Ehefrau Anna Grigorjewna (1846–1918), die ihn auf seinen Reisen häufig begleitete, und der Schließung sämtlicher Spielcasinos durch die deutsche Reichsregierung zum Jahreswechsel 1872/73 fand Dostojewski zurück zu alter Schaffenskraft auch ohne den Glücksspielstachel.

In der sächsischen Residenzstadt Dresden war Dostojewski länger als an jedem anderen Ort in Deutschland; die hier verbrachte Zeit betrug im Ganzen fast zweieinhalb Jahre. Neben den ersten Notizen für seinen Roman Der Idiot entstanden in der Stadt an der Elbe auch mehrere Kapitel für Die Dämonen. Beide Romane zählen heute zu den wichtigsten Werken seines Schaffens. Es sind vor allem die künstlerischen Eindrücke der Gemäldegalerie, durch die Dresden in Dostojewskis Werk verewigt ist. Bei seinen letzten Deutschland-Aufenthalten Ende der 1870er Jahre in Bad Ems arbeitete Dostojewski dann an seinen Romanen Der Jüngling und Die Brüder Karamasow.

Obwohl Dostojewski in Deutschland das „Land meiner Sehnsüchte und Träume“ sah, hielt er die Bedeutung der europäischen Zivilisation für Russland für „historisch abgeschlossen“; vielmehr beginne nun eine neue Epoche der Rückkehr zum „heimatlichen Boden“. Schon bei seinen ersten Besuchen ist seine Sicht stark geprägt durch seine „russische Idee“; bewusst widersetzt er sich den überwältigenden Eindrücken des Westens und seiner materiellen Errungenschaften. Im Gegensatz zu den „Westlern“, die eine Europäisierung Russlands anstrebten, befestigten ihn die Aufenthalte in der Überzeugung, dass Russland seinen eigenen Weg zu gehen habe.

Anhand zahlreicher Dokumente, die einen Großteil der Publikation einnehmen, beleuchtet Hielscher nicht nur Dostojewskis Aufenthalte in seinem „Sehnsuchtsland“ sondern auch den Zwiespalt zwischen Erwartung und Realität. Sein Verhältnis zum zeitgenössischen Deutschland blieb von Ressentiments geprägt – ganz im Gegensatz zu seinem Rivalen Iwan Turgenjew. Eine beeindruckende Fülle an Materialien hat die Autorin recherchiert: Briefe des Schriftstellers, in denen er sich u. a. über die deutschen Verhältnisse äußert, ferner die Tagebuchnotizen von Anna Grigorjewna, die die gemeinsamen Aufenthalte gewissenhaft festhielt. So berichtete sie in ihren Erinnerungen über Dresden:

Die Zeit verging, und im April 1871 waren es vier Jahre, seit wir im Auslande lebten; die Hoffnung, nach Rußland zurückzukehren, loderte bald auf, bald verschwand sie wieder. Endlich beschlossen wir beide, in absehbarer Zeit unbedingt nach Petersburg zurückzukehren, was auch immer für Folgen diese Reise nach sich ziehen möge. Aber unsere Berechnungen hingen an einem Haar: wir erwarteten die Geburt des Kindes im Juli oder anfangs August, und wenn wir nicht einen Monat vor der Entbindung nach Rußland zurückkehrten, mußten wir unvermeidlich noch ein ganzes Jahr bis zum Frühling in der Fremde bleiben, da man das Neugeborene im Spätherbst unmöglich hätte mitnehmen können.

Sogar die damaligen Reiseführer, die Dostojewski zur Planung seiner Reisen benutzte, hat Hielscher ausfindig gemacht. Illustriert wird das Insel-Taschenbuch durch zahlreiche historische Abbildungen, die die Archive der deutschen Kurbäder, das Rheinische Bildarchiv sowie das Literaturmuseum in Moskau zur Verfügung stellten.

Dostojewski selbst beeinflusste viele deutschsprachige Schriftsteller – von Friedrich Nietzsche über Franz Kafka, Hermann Hesse, Alfred Döblin bis hin zu Martin Walser. Sein Werk fasziniert die deutschen Leser noch heute, was die zahlreichen Neuerscheinungen in diesem Jubiläumsjahr bestätigen.

Titelbild

Karla Hielscher: Dostojewski in Deutschland.
Insel Verlag, Berlin 2021.
290 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-13: 9783458681724

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