Alles wird gut

Im Roman „Die Erinnerungsfotografen“ erzählt Sanaka Hiiragi, dass das Leben spätestens im Jenseits wieder schön wird

Von Lisette GebhardtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lisette Gebhardt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die 2019 im Verlag Takarajimasha publizierte japanische Originalfassung von Die Erinnerungsfotografen trägt den Titel Jinsei shashinkan no kiseki, auf Deutsch „Das Wunder im Fotostudio des Lebens“. Wie viele neuere Texte aus Japan, die in westliche Sprachen übertragen werden, zählt Sanaka Hiiragis Erzählung von einem geheimnisvollen Fotoatelier zur Sparte der Unterhaltungs- oder Schemaliteratur. Auf dem japanischen Buchmarkt führt man Jinsei shashinkan no kiseki unter dem Label „Mystery“. In Content-Maßstäben betrachtet, greift das Werk auf die beim Publikum beliebten großen Themen Lebenssinn, Leben und Tod zurück, um nach der Schilderung zahlreicher Problemlagen, mit denen sich die drei Hauptfiguren konfrontiert sehen, das Moment der Hoffnung herauszustellen.

Im Limbus

Das Buch schildert eine Limbussituation: Bevor Gestorbene ins Jenseits eingehen, erhalten sie vom Meister des Ateliers, Hirasaka, die Anleitung, ihr Leben noch einmal Revue passieren zu lassen. Dies geschieht anhand einer Fotoauswahl (ein Foto pro Lebensjahr), mit der eine Drehlaterne zu bestücken ist. Hat der Mensch im Jenseitstransit seine Laterne vollendet, erinnert er sich beim Durchlauf der Bilder an die wichtigen Momente seines Daseins, um dann beim letzten Bild ausgesöhnt in die andere Welt hinüberzuwechseln. In Hiiragis fiktivem Kosmos existieren offenbar mehrere solcher Transitstationen, die von Zustellern der Firma Weißkatze-Paketdienst (der Name findet sich nur angedeutet) – in Anspielung an den japanischen Lieferservice Kuroneko Yamato (Schwarzkatze-Paketservice) – mit einschlägigem Material beliefert werden. Kenner japanischer Kulturerzeugnisse denken bei diesem Szenario sicher an den Film Wonderful Life / After Life (1998) des Regisseurs Hirokazu Koreeda. Hier kommen die frisch Gestorbenen in einem Filmstudio an und drehen – betreut von Beratern – eine Woche lang einen Film über ihre glücklichste Lebenserinnerung. Wenn der Streifen am Freitag vollendet ist, verlassen die zweiundzwanzig Toten unterschiedlichen Alters mit einem Gefühl der Zufriedenheit die Werkstatt und finden einen guten Weg in die Ewigkeit.

Für die Kinder

Sanaka Hiiragi beschränkt sich in den „Erinnerungsfotografen“ auf drei Schicksale. Die ausführliche erste Episode ist der 92-jährigen Hatsue gewidmet, die lange Jahre als Kindererzieherin tätig war. Anlässlich der zweiten Ankunft einer Seele im Atelier erfährt man von Shohei Waniguchi, einem Yakuza, der unerwartet menschenfreundliche Regungen zeigt. Mitsuru, ein junges Mädchen, das vom Stiefvater und ihrer Mutter gequält wird, steht im Mittelpunkt der dritten Geschichte – die Autorin wendet in Mitsurus Fall einen Kunstgriff an, mit dem man schließlich auch über Hirasakas einigermaßen rätselhaften Hintergrund (ihm fehlt jede Erinnerung an seine frühere Existenz) aufgeklärt wird. Zugleich knüpft diese Episode an die erste Sequenz an: Mitsuru (mittlerweile Michi) hat den Beruf der Erzieherin gewählt und setzt die Arbeit von Hatsue fort.

Das Prinzip japanischer Unterhaltungskunst basiert seit jeher auf dem Moment der Rührung durch menschliche Emotionen. Hiiragi arbeitet ganz im Melodrama-Modus, d.h. gemäß dem Prinzip gesteigerter Gefühligkeit. Gewissenhaft berücksichtigt sie zudem die Grundsätze der Content-Produktion, die da lauten, durch die Figurengestaltung möglichst viele Leserinnen und Leser zu erreichen bzw. emotional anzusprechen. Was in den 1990er Jahren eine Autorin wie Shungiku Uchida mit dem Text Father Fucker (dt. „Wenn der Morgen kommt, werde ich traurig“, 1997) lakonisch und poetisch präzise erzählt, nämlich Demütigung und Missbrauch durch den Stiefvater, erhält bei Hiiragi einen boulevardesken Anstrich. Effektheischend, aber ohne jede psychologische Tiefe, stellt sie das Leid der gequälten Mitsuru dar – man rettet das Kind in letzter Minute von einem brennenden Balkon:

Der Feuerwehrmann hielt Mitsurus von blauen Flecken übersäten kleinen Körper fest in den Armen. Er strich ihr sachte über den kahl geschorenen Kopf. Als er mit ihr sprach, standen ihm die Tränen in den Augen.

Allen drei Fällen ist gemeinsam, dass – in Bezug zum Handeln der Protagonisten – die Frage aufgeworfen wird, welche Auswirkungen deren Entscheidungen und Taten für die Zukunft von Kindern haben. Vorbildlich verläuft in dieser Hinsicht das im ersten Abschnitt „Die alte Dame und ihr Bus“ dargestellte Leben Hatsues, die sich stets mit vollem Engagement für ihre Schützlinge einsetzt. Sogar der herbe Waniguchi aus „Das Mäuschen und der Held“ tut Gutes, indem er einem autistisch veranlagten, unscheinbaren Mann (Michiya Nezu alias Nezumi-kun, „Maus“) eine Chance in seinem Geschäft gibt und darüber hinaus einem vietnamesischen Jungen hilft, den die japanischen Klassenkameraden mobben.

Moral, Sprache, Kunst

Während die Hatsue-Episode sich ausschweifend im Lob der Tugendhaftigkeit ihrer Hauptfigur ergeht und der Fall der Mitsuru im Schnelldurchgang präsentiert wird, um an ihm Hirasakas besondere Rolle in der Jenseitswelt festzumachen, erweist sich die Erzählung um Leben und Tod des Yakuzas Waniguchi am originellsten. Wie viele Unternehmen weltweit leidet auch Waniguchis Branche an chronischen Finanzproblemen:

War immer schwieriger geworden, die Kohle reinzuholen, in den letzten Jahren, und auf Schutzgelder konntest du erst recht nicht mehr zählen. Da hat man mich doch tatsächlich beauftragt, einen Gebrauchtwarenladen zu betreiben – weiß der Teufel, wie ich mir das wieder angelacht hatte.

Leider trübt den Genuss dieses Abschnitts der gewollte, teilweise unpassende Zungenschlag der deutschen Übersetzung. Ob ein Neologismus auf Pennäler-Niveau wie „ameisenfurzegal“ angemessen ist, die Sprache eines harten Gangsters wiederzugeben, bleibt zu bezweifeln, selbst wenn die Autorin im japanischen Original ebenfalls keinen hohen Kunstanspruch verfolgt haben sollte. An dieser und anderen Stellen mit fraglicher Sprachlichkeit wäre der Eingriff der Verlagsredaktion zu vermuten. Man setzt vermutlich darauf, auch japanische Literatur dem Gleichklang aktueller deutschsprachiger Medienprodukte zuzuführen – mit einem (vermeintlich) publikumsnahen, „einfachen“ Sprachstil. Ab und an darf es da gern „witzig“ sein. Vielleicht weil ansonsten die Botschaft von Die Erinnerungsfotografen allzu deutlich an altmodische Erbauungsliteratur erinnert: Lob dem bescheidenen, das Gute anstrebenden Menschen, Tadel den Rücksichtslosen und Hoffärtigen.

Verlass ist bei japanischem Content auch stets auf eine das Gemütliche der alten Moderne transportierende Retrokulisse, auf das Märchen von der Rechtschaffenheit menschlicher Gemeinschaften sowie auf den übernatürlichen Trostfaktor: Erweist sich das Leben als noch so unerfreulich, darf man doch gewiss sein, dass das Jenseits für jede Unbill entschädigt. Neue japanische Phantastik dient zur allgefälligen Herzerwärmung, versorgt die Bevölkerung also mit einer Dosis Resilienz und bekräftigt nicht zuletzt die Ordnung der Dinge.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sanaka Hiiragi: Die Erinnerungsfotografen.
Aus dem Japanischen von Sabine Mangold und Yukiko Luginbühl.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2023.
176 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783455016161

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