Licht und Schatten
Oliver Hilmes neues Buch über Deutschland im Jahr 1943 fasziniert und enttäuscht
Von Günther Rüther
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseOliver Hilmes zählt zu den etablierten Sachbuchautoren. Neben dem hier angezeigten Buch Schattenzeit bestätigen dies seine Biografien über Alma Mahler-Werfel und Cosima Wagner. Herausragt sein Bestseller Berlin 1936. Darin erzählt er die 16 ereignisreichen Tage der Olympiade in der Hauptstadt des „Dritten Reiches“, in denen die NS-Diktatur dem Bösen eine Atempause gönnt, um sich von ihrer charmanten, generösen Seite für die Weltöffentlichkeit zu zeigen. Hilmes verfährt dabei chronologisch und episodisch, indem er die Perspektiven mehrfach wechselt und zusammenfügt, was auf den ersten Blick nicht zusammenzugehören scheint. Eben auf den ersten Blick. Doch beim zweiten Blick wird deutlich, dass auch das Ungleichzeitige und Gegensätzliche einen inneren Zusammenhalt haben kann. Nicht nur, weil es am gleichen Tag passiert, sondern auch, weil es den Geist der Zeit einfängt. Die gewählte Methode, Zeitgeschichte mit Geschichten zu durchdringen, mag nicht jedem gleichermaßen gefallen. In den letzten Jahren sind einige Bücher erschienen, die sich dieser Vorgehensweise bedienen. Zu ihnen zählt unter anderen Florian Illies 1913. Sommer des Jahrhunderts, ein Superbestseller, der ein Jahr vor Hilmes „Olympiade-Buch“ erschien.
Um es freimütig zu bekennen: Der Verfasser dieser Rezension mag diese Art der Darstellung, weil sie kurzweilig ist, überraschende Zusammenhänge aufzeigt und deutlich macht, dass Zeitgeschichte vielfältiger ist, als sie uns häufig wissenschaftliche Studien vermitteln, die Belege für ihre Thesen suchen und auswerten. Dennoch ist diese traditionelle Form der zeitgeschichtlichen Analyse unverzichtbar. Sie bildet das Fundament für Bücher wie die beiden zuvor genannten. Ohne dieses Fundament kämen sie nicht aus- und wohl auch nicht zustande.
Bei allem Verständnis, ja auch Begeisterung dafür, Geschichte durch Geschichten zu vermitteln, stößt diese Variante der Geschichtsschreibung jedoch mit Oliver Hilmes Schattenzeit. Deutschland 1943: Alltag und Abgründe an ihre Grenzen. Sie offenbart Licht und Schatten dieser Vorgehensweise. Dies wird schon darin deutlich, dass Schattenzeit nicht im Jahr 1943 endet, wie es der Titel nahelegt, sondern ein weiteres Kapitel „Nachleben“ folgt, das bis in die fünfziger Jahre hineinreicht und darüber hinaus. Dieser Verlängerung hätte es eigentlich nicht bedurft, da eine knappe, trockene Aufklärung, wie wir sie von vielen Filmen im Abspann zu Personen kennen, die im Mittelpunkt der Handlung stehen, ausgereicht hätte, um darzulegen, wie deren Lebensweg nach 1943 weiter verlief. So aber wird „Länge“ erzeugt, die lähmt und vom Kernthema des Alltags und der Abgründe im Wendejahr des Krieges wegführt. Denn jeder weiß, dass auch das schicksalsschwere Jahr 1943 nicht das „Ende der Geschichte“ bedeutete.
Aber mein Haupteinwand, der einer Lobpreisung dieses Buches entgegensteht, ist jedoch ein anderer. In seinen Mittelpunkt rückt Oliver Hilmes die tieftraurige, schier fassungslos machende Geschichte des jungen Pianisten Karlrobert Kreiten. Er schickte sich an, eine Weltkarriere zu machen, als er vor einem Konzert in Heidelberg aus seinem Künstlerleben jäh herausgerissen wird. Die Geheime Staatspolizei klopft morgens an seiner Zimmertür im Hotel Reichspost, um ihn in Schutzhaft, wie die beiden Beamten verlauten lassen, zu nehmen. Karlrobert ist davon überzeugt, dass es sich bei dieser Festnahme nur um ein Missverständnis handeln könne. An das noch nicht lange zurückliegende, verstörende Gespräch mit seiner Gastgeberin Ellen Ott-Monecke, einer guten Bekannten seiner Mutter, bei der er für kurze Zeit am Lützowufer im schönen Tiergarten in Berlin vor einem Konzert in der Philharmonie gewohnt hat, erinnert er sich kaum noch. Aus einer Mischung von innerem Aufbegehren und politischer Naivität heraus hat er seiner Gastgeberin offenbart, was er von Banausen wie Hitler und seinen Schergen hält. Und damit nicht genug: Er erzählt ihr, die etwa doppelt so alt ist wie er, dass der zweite Weltkrieg den Untergang Deutschlands bedeute und es nicht mehr lange dauern könne, bis die Revolution ausbräche. Der verdutzten Zuhörerin empfiehlt er, schon mal vorab die Führerbilder von den Wänden zu nehmen, denn der Krieg sei verloren, Hitler und seine engsten Gefolgsleute würden wohl alsbald hingerichtet werden oder eines ähnlichen Todes sterben. Karlrobert äußert sich in dieser Weise, obwohl oder vielleicht auch weil der Schmuck der Wohnung seiner Gastgeberin und diese selbst keinen Zweifel daran aufkommen lassen, dass er bei einer glühenden Verehrerin des Führers und der nationalsozialistischen Bewegung gastiert, die selbstverständlich trotz Stalingrad von einem deutschen Sieg ausgeht. Zudem ist ihm die Dame äußerst unsympathisch, weil sie seiner Meinung nach von Tuten und Blasen keine Ahnung hat und auf unangenehme Weise verbohrt ist.
Mit dieser vertrackten Situation nimmt die unheilvolle Geschichte des Pianisten Karlrobert Kreiten ihren folgenschweren Verlauf. Sie endet mit seiner Hinrichtung auf grausamste Weise in Plötzensee in der Nacht am 7. September 1943. Dieser Blutnacht folgen bis zum 10. September weitere, in denen insgesamt 250 Opfer der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft erhängt werden. Mit diesem bitteren Ende hat sich die Erzählung des Buches erschöpft. Alles was folgt, verblasst angesichts dieser Katastrophe.
Hilmes gebührt Anerkennung dafür, dass er die schreckliche, unter die Haut gehende Tragödie eines begabten Musikers aus dem Verborgenen der Archive emporgehoben hat. Er erzählt sie auf ergreifende, streckenweise fassungslos machende und so spannende Weise, dass ich mir gewünscht hätte, er hätte sie zu einem Roman geformt. So aber steht sie wie ein Monolit in seinem Geschichten-Buch, in dem es mal um Elizabeths Arden Erfolgsstory und ihre Schönheitssalons geht, die auch in Berlin unweit der Gedächtniskirche ihr Angebot unterbreiten, mal um Thomas Mann im schönen Pacific Palisades in Los Angeles und seine Notizen im Tagebuch, mal um den Widerstand der Geschwister Scholl und deren Hinrichtung, mal um den militärischen Widerstand um Rudolf-Christoph Freiherr von Gersdorff und Fabian von Schlabrendorff, mal um Victor Klemperer und seine Analysen der Sprache im NS-Regime, mal um Knut Hamsuns Besuch bei Hitler auf dem Berghof in Berchtesgaden, mal um Josef Goebbels und seine Sportpalastrede, mal um den jungen Hansi Rosenthal und sein Überleben in einer Laubenkolonie, der später zum Fernsehstar werden wird, und natürlich um die zunehmende zerstörerische Wirkung der Bombennächte in Berlin. In einer von ihnen kam auch Dr. jur. Roland Freisler, Hitlers oberster Henker, zu Tode.
Manches davon ist bekannt. Anderes weniger oder gar nicht. Alles fußt auf fleißiger Recherche und wird glänzend erzählt. Doch viele Episoden geraten, von denen abgesehen, die zum engeren Kontext des im Mittelpunkt stehenden Schicksals des Pianisten Karlrobert Kreiten stehen, zur Randerscheinung, zur Garnitur, obwohl sie selbst wie etwa die Schilderung des Widerstands der Geschwister Scholl vertiefte Aufmerksamkeit verdienen. Der nachdenkliche Leser fragt nach dem Stellenwert einzelner Geschichten und Episoden neben dem im Mittelpunkt stehenden Schicksal des jungen Pianisten, insbesondere dort, wo sie darüber hinausgehen, die Atmosphäre des Jahres 1943 einzufangen.
Oliver Hilmes legt mit Schattenzeit ein bemerkenswertes Buch vor, das allerdings einige kompositorische Mängel aufweist. Dieses innere Defizit geht auf das im Zentrum stehende, berührende Schicksal von Karlrobert Kreiten zurück, das so eindrucksvoll geschildert wird, dass einzelne Nebengeschichten und die Fortschreibung des Jahres 1943 über seine Hinrichtung hinaus nicht zuträglich erscheinen. Auch wenn die Darstellung von Zeitgeschichte als Mosaik, in dem sich die Elemente anders als im Puzzle nicht nahtlos ineinander fügen, sondern ihre Wirkung dadurch entfalten, dass die einzelnen Teile sich mal ergänzen, ein anderes Mal schroff entgegenstehen, bedarf es einer inneren Balance. Schattenzeit mangelt es daran.
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