An der Ganzheit gescheitert

Wie Christoph Höhtker den Abgesang auf die Soziologie einleitet – und ästhetisch triumphiert

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bereits nach wenigen Passagen des 2015 im Mainzer Ventil Verlag erschienen Romans Alles sehen deutet sich bereits an, dass sich sein Autor Christoph Höhtker in konsequenter Weise an der Überblendung von Form und Inhalt versucht: Trotz der Schwierigkeit, eine konventionelle lineare Handlung zu rekonstruieren, zeigen sich doch mit fortschreitender Lektüre prägnante Linien des Erzählverlaufs. Den Rahmen der Geschichte bildet dabei die deutsche, mutmaßlich westfälische Großstadt B., die als eine Art paradoxes Musterbeispiel der deutschen Gegenwartsstadt, lustvoll zwischen provinzieller Rückständigkeit und technischer Überfrachtung pendelnd, dargestellt wird: Sie ist gewissermaßen die dystopische Dienstleistungswüste, in der gesellschaftlicher Zusammenhalt – ganz im Sinne Margaret Thatchers – nicht mehr existiert. Sie ist der Ort florierender bewusstseinserweiternder Substanzen, die auf den Überdruck kapitalistischer Konkurrenz als probate Lösungen im weitesten Sinne Anwendung finden. Sie ist nicht zuletzt die paradoxe Zuspitzung spätmoderner Sexualität: allgegenwärtig und rustikal in Milliarden pornografischer Videos, sublimiert und moralisiert im öffentlichen Raum und Diskurs. All diese überaus kritischen Facetten der Stadt hätten Höhtker dazu motivieren können, eine düstere Abrechnung mit der Gegenwart vorzunehmen und im Tone des Propheten das apokalyptische Ende der Gesellschaft anzukündigen. Dennoch konzentriert er sich im Wesentlichen auf das Agieren von fünf zentralen Figuren und arbeitet sich an einer ungemein humoristischen Textform ab, die – fast modellartig – Soziologie und Literatur miteinander verschmelzen lässt.

Die Text und Handlung gewissermaßen klammerartig zusammenhaltende Figur ist der ominöse Soziologie-Professor Höhtker (!), der eine sogenannte „Totale Soziologie“ entwickelt und zu etablieren sucht. Ganz im Sinne des titelgebenden umfassenden Sehens soll sie den im Zuge der Wissensspezialisierung und aller Bindestrich-Soziologien verlorenen Allheits-Anspruch des Faches wiederaufleben lassen und die Gesellschaft in der Totale neu abbilden. Ironischerweise ist der ambitionierte Professor im Verlauf der Handlung physisch so gut wie nie präsent, sein – an Niklas Luhmann erinnernder – Geist schwebt über der Geschichte und führt Höhtker selbst, wie sich bald zeigt, ins Sanatorium. Daran anknüpfend lässt sich eine zweite zentrale Figur, die Soziologiestudentin Ania, einführen: Sie erweist sich als eine Art Groupie Höhtkers und widmet ihre Arbeit und Freizeit – ganz im Sinne des totalen Anspruchs des Faches – dieser neuen Richtung der Soziologie. Markant ist ihr inflationäres Interesse für nahezu alles, was sich in B. abspielt und damit auch nicht vor jeglicher Form expliziter Sexualität haltmacht, für sie ist Soziologie Sex und Sex Soziologie, was dem Grundgedanken der Disziplin folgt und Ania von einer nicht nur intellektuellen Vereinigung mit ihrem Idol träumen lässt.

Das eigentliche Zentrum der Handlung ist allerdings die Verbindung zwischen dem Stadt-Urgestein Michael Brandt und dem – bereits in anderen Texten Höhtkers auftauchenden – in Genf wohnenden Kosmopoliten Frank Stremmer. Brandt fristet sein isoliertes Dasein zwischen wechselnden Jobs, wechselnden Substanzen und (leider) wenigen wechselnden Frauen vor der tristen Kulisse der Stadt, die ihn eines Tages (und damit setzt der Text ein) auf die überaus attraktive totale Soziologin Ania treffen lässt – während er auf einem Einkaufsparkplatz mit seinem distanziert-bekannten Freund Stremmer telefoniert. Der mittlerweile in der Schweiz ansässige und eigentlich vielbeschäftigte Stremmer plant offenbar den nächsten Heimatbesuch, wird allerdings während des Gesprächs von Brandts Interesse an der Studentin unterrichtet und organisiert einen die Handlung nun bestimmenden Coup: In Absprache mit seiner Ex-Frau Marion, die ausgebrannt in einer Firma für Möbel-Design arbeitet und das zentrale Figurenensemble komplettiert, leiht er sich eine stattliche Summe von ihr, um skurrilerweise ein erstes Date von Brandt und Ania zu „finanzieren“ und den vom Schicksal so gebeutelten Bekannten zu einem vielleicht länger währenden Glück zu verhelfen. Jenes Date, auf das der Text finalartig zusteuert, soll im offenbar einzigen Sternerestaurant B.s stattfinden. Dass dieser Ort trotzdem nicht der abschließende Handlungsort des Textes ist, dem Professor schlussendlich doch noch eine besondere Rolle zuteilwird und das ganze Arrangement durch einen frustrierten Konvertiten doch noch droht, im wahrsten Sinne des Wortes gesprengt zu werden, zeigt, wie kurvig und variantenreich der Autor durch das Minenfeld der Stadt rast.

Was diesen Romantext so überaus ambitioniert werden lässt, ist der hochgradig geglückte Versuch, der augenscheinlich soziologisch motivierten Annäherung an die Stadt B. eine entsprechende literarische Form zu geben: Das geschieht zunächst über das metanarrative Spiel mit der Autorinstanz, die gleichsam als Figur in den Kosmos der Handlung integriert wird und einen ironischen Hinweis auf die soziologischen Ambitionen des Literaten Höhtker geben: Sein Alter Ego landet als Vertreter einer dubiosen Totalen Soziologie im Sanatorium und hat dazu noch den größten Fan in der Ania-Figur, die sein Projekt über die sexuelle Entgrenzung sang- und klanglos torpediert. Dazu greift der Text nicht weniger als die konventionellen Grundvereinbarungen linearen Erzählens an und versteht sich als multiperspektivisches Panorama nebeneinander geschalteter Figuren- und Strukturwelten in einer Art „breiten Gegenwart“ (Hans Ulrich Gumbrecht): Das Dialogische der Handlung steht dabei neben analytischen Passagen zur städtischen Gesellschaftsstruktur, zuweilen abstrusen zusammenfassenden Merkmalen der handelnden Figuren (Beziehungsstatus, Selbstmordgefahr, Nachrichtinhalten et cetera) sowie Gedicht-, Post-it- oder Lebenslaufformaten. Dazu kommentiert sich der Text über die umfangreich eingeführten Fußnoten selbst und verschärft die Komplexität einer Darstellung, die sich – so lässt sich vermuten – als Persiflage auf den totalen und absoluten, empirisch beglaubigten Anspruch der Soziologie als Wissenschaft lesen lässt, die zwar eine Fülle an gesellschaftlichen Parametern sammeln und ausstellen kann, damit aber nicht notwendigerweise ein Verständnis von Figuren und deren Handlungsmotiven herstellt. Damit konstruiert der Text formal einen Zugang auf Gesellschaft und die in ihr handelnden Figuren und bietet entsprechende Darstellungsformate an, destruiert ihn aber final wieder und zeigt – fast wissenschaftskritisch – den Mangel der rein empirischen oder metrischen Perspektive der Soziologie an. Auf einer dritten Ebene argumentiert er damit als literarischer Text aber wieder für die Literatur und das Ästhetische, deren Fokus auf das Ganze des Menschen im Sinne Friedrich Schillers immer noch das Alleinstellungsmerkmal derselben darstellt.

Titelbild

Christoph Höhtker: Alles sehen. Roman.
Ventil Verlag, Mainz am Rhein 2015.
337 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783955750459

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