Schweigen und beten

Sandra Hoffmann bricht in ,,Paula“ das Schweigen ihrer Großmutter und erinnert sich an eine ambivalente Beziehung

Von Franziska RauhRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franziska Rauh

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Das Schweigen hat sich über die Generationen verschleppt.“ Was wie eine medizinische Diagnose klingt, beschreibt das Programm für den ganzen Text: Mit anamnetischer Sorgfalt ergründet Sandra Hoffmann in Paula ein Schweigen, das sich „wie ein Virus“ auf drei Generationen überträgt und in dem initialen Schweigen ihrer Großmutter wurzelt, nach der der Text benannt ist. Die Großmutter schweigt über ihre Lebensgeschichte im Allgemeinen und den Vater ihrer Tochter im Besonderen, die Tochter schweigt über das Schweigen der Mutter und die Enkelin, die versucht all das zu verstehen und daran fast zerbricht, schweigt am Ende auch, obwohl sie sprechen möchte. Aber sie schreibt auch. Das Schreiben über das Schweigen, den Eindruck gewinnt man bei der Lektüre schnell, hat hier eine therapeutische Funktion.

Paula ist eine junge Frau, als der Zweite Weltkrieg ausbricht. Sie ist fröhlich, hübsch, lebendig, vielleicht ein wenig unsicher, aber wer ist das nicht mit Anfang zwanzig? Als sie Großmutter ist, ist sie verschwiegen, versteinert vor Angst und Scham, zeitweise alkoholabhängig. Dazwischen: eine Leerstelle. „Ich finde meine Großmutter, ich finde die junge Paula lebendig, und in der Freude darüber spüre ich zugleich die Größe des Unglücks, das dazu geführt haben muss, dass es anders wurde. Dass nichts von der Freude übrig war, als ich sie erlebte und unsere beiden Leben sich unheilvoll ineinander verschränkten.“ Was ist im Leben von Paula schiefgelaufen? Ihre Lebensgeschichte, das legt ihr ganzes Verhalten nahe, kann nur eine tragische gewesen sein. Aber was genau passiert ist, das weiß die Enkelin nicht. Da gibt es einen Bräutigam, der im Krieg gefallen ist, und noch einen anderen jungen Mann, von dem ihre Großmutter Fotografien hütete; auch er stirbt als Soldat. Ein erstes Kind stirbt früh. Und dann ist da ein zweites unehelich geborenes Kind, die Mutter der Erzählerin. Wer ist ihr Vater? Die Frage nach dem Großvater ist für die Enkelin Anstoß für eigene Nachforschungen, sie fragt, so lange die Großmutter lebt, und sie spekuliert, kombiniert und erfindet, als diese tot ist.

Dem unbekannten Großvater hat Sandra Hoffmann bereits einen literarischen Text gewidmet: Der Roman Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist  von 2012 erzählt die Geschichte des polnischen Zwangsarbeiters Janek Biliński, dessen uneheliches Kind von einer Paula zur Welt gebracht wird. So könnte es gewesen sein mit der Herkunft ihrer Mutter, legt Sandra Hoffmann in Paula nahe, indem sie sich auf den Roman zurückbezieht. Paula nun soll ein „Memoir“ sein, so gibt es der Verlag an, der Text selbst referiert auf sich als „Erzählung“, eine Gattungsangabe auf dem Umschlag gibt es nicht. Es wird jedoch klar: Hier darf ausnahmsweise die Ich-Erzählerin mit der Autorin gleichgesetzt werden. Die Grenzen zwischen erzählter Erinnerung – wie unzuverlässig diese auch immer sein mag – und bewusster Fiktion werden im Text markiert. „Man kann sich hier auf mich verlassen.“, sagt die Erzählerin über sich selbst, obwohl sie sich als unzuverlässig charakterisiert, „Man kann sich darauf verlassen, dass ich alles, was ich nicht mehr weiß, alles, was ich nie gewusst habe, alles, was ich unbedingt wissen will, erfinden werde.“ Den größten Teil des Textes machen die Erinnerungen der Erzählerin an verschiedene Lebensphasen aus, immer mit Blick auf das Verhältnis zur Großmutter. Dazwischen wird bruchstückhaft deren Leben erzählt: Anhand des Wenigen, das die Enkelin weiß, anhand von Fotos und Erinnerungsstücken, zu denen sie sich Geschichten ausdenkt, anhand von Gesprächen mit anderen Familienmitgliedern, z.B. der Schwester ihrer Großmutter. Das Schema lautet: „Was weiß ich, was kann ich mutmaßen und was habe ich selbst mit meiner Großmutter erlebt“. Die Fiktion füllt dabei die Lücken, die das mangelnde Erinnerungsvermögen und das Schweigen der Großmutter hinterlassen haben. Dabei reflektiert die Erzählerin immer wieder ihr Tun, stellt die Frage: Darf ich das? Gilt Paulas Schweigegebot über deren Tod hinaus? Gibt es auch ein Verbot, „Paula zu erfinden“? Immerhin ist die eigene Wahrnehmung sicher nicht die der Großmutter, dessen ist sich die Autorin voll bewusst, und die Großmutter hat keine Gelegenheit mehr zu sagen: „Das war alles nicht so mit uns, wie du es erzählst“.

Neben Paulas Biographie ist vor allem die Beziehung zwischen Großmutter und Enkelin Thema der Erinnerungen. Diese ist wohl am ehesten als ambivalent zu beschreiben: Die Enkeltochter liebt ihre Großmutter, sie findet bei ihr als Kind Geborgenheit, kriecht bei Alpträumen zu ihr ins Bett. Nebeneinander auf dem Sofa sehen sie sich Bonanza an. Zugleich spürt die Erzählerin die Angst, die die Großmutter immer umgibt, und diese Angst überträgt sich auf sie selbst: „Meine Großmutter gab mir die größte Sicherheit und vermachte mir die größte Angst für mein Leben.“ Im Haus ihrer Eltern hat Sandra ihr Zimmer im oberen Stock, in der Wohnung der Großmutter. Diese Nähe zur Großmutter wird mit zunehmendem Alter zum Problem, sodass die Liebe im Teenageralter in Zurückweisung und Hass umschlägt. Die Großmutter ist ständig präsent, kommt ohne anzuklopfen ins Zimmer, durchsucht die Schränke ihrer Enkelin und hinterlässt Heiligenbildchen darin (als Warnung oder als Talisman?). Wie ein Gespenst geistert sie durch den Lebensraum ihrer Enkelin. Beide, Enkelin und Großmutter, lassen einander nicht teilhaben an ihren Leben, belauern sich gegenseitig, und dennoch scheint das Problem eher zu sein, dass sie einander zu nahe sind, als zu abgewandt. Sie brauchen einander. Aber die Enkelin leidet unter der permanenten Aufmerksamkeit, sie fühlt sich „im Klammergriff“ der Großmutter: „Sie wird mich werden lassen wie sie selbst, sie wird alles tun, damit es keinen Unterschied mehr gibt zwischen ihrer Angst und meiner Angst, zwischen ihren Gebeten und meinen, zwischen ihrer Sorge, ich könnte etwas mit Männern zu tun haben, und meiner, ich könnte von einem Jungen schwanger werden, ohne mit ihm zu schlafen.“

Neben solchen irrationalen Ängsten ist eine problematische Religiosität das schwere Erbe der Großmutter an die Erzählerin: Paula betet, ununterbrochen, stumm, „wie eine Schlange“ bewegt sich der Rosenkranz unaufhörlich in ihrer Schürzentasche. An ihm hangelt sie sich durch den Alltag, ohne ihn fühlt sie sich hilflos, ausgeliefert. Auch ihrer Enkelin bringt Paula das Beten bei, und das Beichten. Ein fatales Gemisch aus Ängsten, dem Bewusstsein „Der liebe Gott sieht alles“ und Gebet mündet in Zwangshandlungen. Die Enkelin betet, um nicht zu sterben, um sich für schlechte Gedanken zu bestrafen, um gar nicht erst schlechte Gedanken zu haben, um Unglück von ihrer Familie fernzuhalten. Sind zwanzig Vaterunser und zwanzig Ave Maria genug? Volle Konzentration ist nötig, denn wenn sie sich ablenken lässt, gilt es nicht, dann muss sie von vorne anfangen. Die Gottesbeziehung des jungen Mädchens ist vollkommen mit der Beziehung zu Paula verwoben, Gott ist der Gott der Großmutter, und er erfüllt die gleiche Funktion: Er sieht und kontrolliert alles. Es überrascht nicht, dass die Teenagerin eine Essstörung entwickelt. Ihre Mutter kann ihr nicht helfen, ihr Verhältnis zu Paula ist mindestens ebenso problematisch: Sie ist die Tochter, „die sie nicht lieben konnte, weil sie sie an etwas oder jemanden oder an eine Schmach, einen Fehltritt erinnerte, tagaus, tagein, und von der sie deshalb auch nicht geliebt wurde.“

Die große Stärke der Erzählung liegt in der Atmosphäre, die sie erzeugt. Das Beklemmende in der Konstellation der drei Frauen, die erstickende Atmosphäre im gemeinsamen Wohnhaus sind mit Händen zu greifen. Der Text zieht seine LeserInnen hinein in ein Gewirr widerstreitender Gefühle: Wütend wird man auf diese Paula, die das Leben ihrer Tochter und ihrer Enkeltochter auf so bedrückende Weise prägt, aber auch auf die anderen Familienmitglieder, die sich das Leben gegenseitig schwer machen und keine Verantwortung füreinander übernehmen. Zugleich spürt man ein stellenweise heftiges Mitgefühl für Paula, für ihre Einsamkeit, ihr Versagen, ihre Angst. Nachvollziehbar werden auch die Gefühle der Erzählerin: ihr Schwanken zwischen Hass und Liebe zur Großmutter, ihre Zerrissenheit zwischen ihr und der Mutter. Das Gefühl des Alleinseins mit ihren Problemen in diesem Elternhaus umgibt die Erzählerin so aufdringlich, dass man die Tatsache, dass sie einen Bruder hat, als LeserIn völlig vergisst. Allgemein sind die Männer in diesem Kosmos, der von komplizierten Frauenverhältnissen geprägt ist, nur Statisten: Der Vater arbeitet rund um die Uhr oder ist auf Geschäftsreise, der Bruder scheint für das Zusammenleben keine Rolle zu spielen. Entsprechend lautet das Fazit der Erzählerin: „Mein Bruder und ich hatten eine komplett unterschiedliche Kindheit. Wir hatten andere Eltern.“

So außergewöhnlich bedrückend sich dieses Generationengeflecht darstellt, bietet Paula, Sandra Hoffmanns Großmutterfigur, doch Anknüpfungspunkte für LeserInnen. Authentisch und einfühlsam beschreibt Hoffmann die Normalität inmitten der Ausnahmekonstellation: wenn die Großmutter zur Fußpflege gefahren werden will, wenn sie Marmelade kocht, wenn sie mit ihren Einkäufen im Schulbus der Enkelin nach Hause fährt, wenn sie mit ihr bei der Fronleichnamsprozession im Dorf Blumen streut. Die geweihten Kerzen aus Altötting, die Gerichte, bei denen Butter die einzige Luxus-Zutat ist und die so auf die ärmliche Herkunft der Großmutter verweisen, ihre liebevoll beschriebenen Hände, Gesichtszüge und verknöcherten Füße und nicht zuletzt der Rosenkranz, der durch die Finger wandert: In all diesen Details können sicher viele LeserInnen etwas von der eigenen Großmutter wiederfinden. Unwillkürlich beginnt man, sich bei der Lektüre dieses Buches zu fragen, was man selbst eigentlich weiß und was man nicht weiß über die Menschen, die einem am nächsten stehen.

Sandra Hoffmann legt mit ihrem fünften Werk Paula ein höchst lesenswertes Stück Erinnerungsarbeit vor, das mit dem Hans-Fallada-Preis 2018 ausgezeichnet wurde. Der Text funktioniert dank einer schlichten Sprache, die niemals zu dick aufträgt. Emotional berührend wird er, auch ohne dass sprachgewaltig auf die Tränendrüse gedrückt wird. Man kann diesen Text als Skizze eines Familienromans lesen, wie es der Klappentext vorschlägt, als Auseinandersetzung mit der Funktionsweise des Erinnerns, als Psychogramm einer tragischen Frauenkonstellation oder als Anregung für eigene Erinnerungsspaziergänge. Aber lesen sollte man ihn.

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Sandra Hoffmann: Paula.
Hanser Berlin, Berlin 2017.
159 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783446256828

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