Die Krankheit zum Tode
Suizidalität in den Werken Martin Walsers und darüber hinaus
Von Stefan Neuhaus
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas moderne Subjekt wird im 18. Jahrhundert krisenhaft geboren, dies hat beispielsweise Andreas Reckwitz in seiner großen Studie Das hybride Subjekt festgestellt und näher ausgeführt. Der extremste und dann auch finale Punkt der Krisenhaftigkeit wird durch den Suizid markiert, den bereits Goethes Werther als „Krankheit zum Tode“ apostrophierte. Heute ist Depression nicht nur eine Diagnose, sondern auch eine Volkskrankheit geworden. Ob und inwiefern Suizidalität als Symptom für etwas Anderes gesehen werden kann, sei es ein krankes Individuum oder eine kranke Gesellschaft, das hat die Literatur bereits vielfach verhandelt, auch wenn es bisher nur selten genauer von der Literaturwissenschaft untersucht wurde. Eine lesenswerte Arbeit zum Thema hat nun Viktor Hoffmann vorgelegt.
Es handelt sich um eine publizierte Masterarbeit, die zuvor mit dem „Oskar-Walzel-Preis für hervorragende Abschlussarbeiten in der germanistischen Literatur- und Kulturwissenschaft“ an der Universität Dresden ausgezeichnet wurde. Generell ist es eine gute Sache, hervorragende Masterarbeiten auch der Forschung zugänglich zu machen. In Österreich ist es sogar üblich (dort hat der Universitätsabschluss allerdings einen höheren Stellenwert), alle Arbeiten solcher Art auch über die Bibliotheken recherchier- und neuerdings oft auch digital lesbar zu machen. Der Verlag hat sich um eine freundliche Preisgestaltung bemüht, hätte aber vielleicht doch nicht unbedingt ein rein schwarzes Cover (mit weißer Schrift) nehmen sollen. So sieht das Buch wie ein kleiner Grabstein aus.
Die Intention der Studie ist freilich, vom Ende her gelesen, eine ganz andere. Sie weist nach, dass die Darstellung von (auch versuchten oder nur überlegten) Suiziden eine gesellschaftskritische Funktion hat. Insbesondere die Überlegungen zur Konzeption von Walsers Romanen treffen (hierzu passt dann auch wieder die Cover-Farbe) ins Schwarze und eröffnen, über den Weg eines wichtigen Motivs, einen Zugang zum Gesamtwerk:
Die Intention der Walser-Protagonisten bleibt der allerdings scheiternde Versuch, eine „lebbare Balance“ zu finden, zwischen den inneren, widerstreitenden Bedürfnissen und den eigenen Erwartungen an das Leben. Ihm folgend gelangen sie in Situationen, die ausweglos erscheinen und in denen Suizidalität ihren Ausstieg aus einer quälenden Abwärtsspirale bedeutet, die sie nicht stoppen können.
Angesichts der überraschenden Vielzahl von Belegen für Suizidalität im Gesamtwerk könnte man schlussfolgern, dass es sich um eine generelle Disposition der Figurenzeichnung bei Walser handelt. Auch hier zeigt sich nicht nur der Einfluss der Literatur etwa des Existentialismus, die für die Walser-Generation existentiell wichtig war, sondern auch der Lektüre Franz Kafkas, über den der junge Martin Walser bereits promoviert hatte.
Auch wenn zum Vergleich Max Frischs Stiller, Peter Handkes Wunschloses Unglück und Siegfried Lenz’ Arnes Nachlaß herangezogen werden: Solchen Spuren nachzugehen kann die Masterarbeit nicht leisten, aber es wäre eine lohnende Aufgabe für künftige Arbeiten, die dann auch eine breitere Materialbasis bieten könnten. Das dreigliedrige Schema zur Einteilung von Suizidalität ist denkbar einfach und es fehlt doch eine ganze Menge an Forschungsliteratur, von Arbeiten zu Literatur und Medizin über solche zum Suizid in der Literatur früherer Epochen bis hin zu Spezialarbeiten zu Walsers Werk. Dieser auf der Qualifikationsstufe nicht leistbaren Ausweitung des Blicks dürfte es auch geschuldet sein, dass bei einigen Werken sogar bestimmende Diskursstränge gar nicht beachtet werden, etwa die Bedeutung der deutschen Geschichte für Die Verteidigung der Kindheit, auch und besonders für die Lebensgeschichte des Protagonisten. Die sicher zutreffende Kritik im Werk an den Regeln „Leistungsprinzip und Selbstoptimierung“ ist daher eine Verkürzung.
Der etwas manieristische Stil (zum Beispiel: „dessen Betrachtung hier besonders anzustrengen ist“) wirkt angesichts der erkennbaren Freude am Formulieren eher sympathisch; ebenso wie die überall durchscheinende Begeisterung für Literatur bis hin zur Lanze, die zum Schluss noch für sie als „ein eigenes Erkenntnissystem“ gebrochen wird.
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