Welt ohne Geschichte

Vladimír Holans lyrisches Spätwerk festigt in seiner Melancholie und Abgewandtheit den besonderen Rang des Autors und provoziert die Literaturwissenschaft

Von Simon ScharfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Simon Scharf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Reden über den tschechischen Dichter Vladimír Holan (1905–1980) war nicht selten frei von Zuschreibungen des Mystischen und Auratischen. Bereits während des Zweiten Weltkriegs avanciert er zu einer der resonanzstärksten tschechischen Stimmen gegen den Faschismus, die zwar unter den Stalinisten kurzzeitig (aber umso radikaler ohne jegliche Leserschaft) verstummt, aber mit dem Eintritt in die liberalen 1960er Jahre wieder bedeutend zur Geltung kommt. Als Sinnbild des Künstlers und der Kunstfreiheit wird Holan zum Nationaldichter erhoben und 1969 sogar für den Literaturnobelpreis nominiert. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 und der verschärften Einflussnahme des kommunistischen Regimes beginnt für den Dichter jedoch abermals eine konfliktreiche Phase von Publikationsverboten und Diffamierungen. Diese resultieren allerdings weniger aus seinem politischen Engagement (was als eher marginal einzuordnen ist) als vielmehr aus seiner Symbolkraft als freier Künstler mit enormem Identifikationspotenzial innerhalb der tschechischen Bevölkerung. Der notwendigerweise folgende Rückzug in die Privatheit bewirkt aber keinesfalls die poetische Abstinenz Holans – ganz im Gegenteil wird er zum Ausgangspunkt eines nach 1968 fortgesetzt emsigen lyrischen Schaffens, das vor seinem Tod 1980 in zwei geschlossenen Bänden gipfelt.

Einer dieser Bände stellt das aus 250 Gedichten bestehende, kohärent gedachte Werk Das Vorletzte dar, welches Holans Lyrik der Jahre 1968 bis 1971 versammelt und im tschechischen Original erst 1982 publiziert werden konnte. Dass das Werk einer der wichtigsten Stimmen der tschechischen Literatur seit einigen Jahren auch den Zugang zum deutschen Publikum gefunden hat, ist dem großen, auf 30 Jahre angelegten Editionsprojekt der deutsch-tschechischen Werkausgabe unter der Leitung des Heidelberger Slavisten Urs Heftrich zu verdanken, zu dem sich nun bereits Band 11 gesellt.

Nähert man sich der Lyrik Holans, fällt zunächst die Freiheit ihrer Form auf. Losgelöst von Reim und Formbindungen regiert in fragmentarischer und impressionistischer Weise der freie Vers, der eine radikal zugespitzte, fast elliptische Poetik ermöglicht. Verbunden mit einfachen syntaktischen Konstruktionen erzeugt dies keinesfalls Unmittelbarkeit beim Leser, führt – im Sinne einer „abgründigen Simplizität“ (so Heftrich im überaus erhellenden Nachwort des Bandes) – vielmehr zur Steigerung des Anspruchs und der Hermetik. Die Sprache bewegt sich oftmals zwischen einer konkreten und einer symbolischen Ebene, weist zuweilen mythische Züge auf und irritiert mit flüchtigen, sich permanent verändernden Adressierungen (als Spiel von Anonymität und Zurückgezogenheit). Damit bleiben sowohl Figuren als auch Situationen und symbolische Zusammenhänge unscharf und bedürfen einer besonderen Deutung.

Der Grundton seiner Lyrik steht thematisch im Zeichen des Verlusts („nur das Leid ist unerschöpflich wie die Muttersprache“, Ad Candidum Decembrem). Als Begleitstimmung und Unterbau der Gedichte konzentriert sich dieser stark melancholische Sog auf eine Geschichte, die keine Chronologie und keinen Zielpunkt mehr kennt. Holan sieht in der „Unmöglichkeit zurückzukehren“ und der „Unmöglichkeit loszuschreiten“ (beide Zitate aus Hic bibitur) die Negation von Vergangenheit und Zukunft als solche, was notwendigerweise in einen Zustand erstarrter und paralysierter Gegenwart mündet.

Religiöse Heilserwartungen spielen in einem Geschichtsmodell des Umherirrens, ohne ein Wohin ausmachen zu können (Es gibt kein), nur eine oberflächliche Rolle. Fast scheint es, als sei die Geschichte in Gänze infrage gestellt, insbesondere, wenn das lyrische Ich konstatiert: „Und es ist der Historiker, der die Plakate anbringt, und der Dichter reißt sie ab“ (An der Zeit). Auch die zwar bewohnte, aber verlassen wirkende Wohnung, die aufgrund des mangelnden Glaubens an die Zukunft nicht eingerichtet wird und langsam an Profil verliert (Es gibt kein) illustriert dies auf symptomatische Weise und wird zudem biografisch verstehbar als Rückzugsort des vereinsamenden Dichters.

Auch wenn Holan thematisch den Versuch unternimmt, das Heterogene und Vielfältige des Lebens über die Mannigfaltigkeit der geschilderten Situationen und Umstände in den Gedichten einzufangen, spricht aus der Lyrik selbst das Defensive und der Rückzug jenseits einer vielleicht erwartbaren Eroberung von Welt. Er entwickelt eine Poetik des Wartens, der Flüchtigkeit und des Dahingehenden, die sich als solche nicht zuletzt über die zahlreichen Punktierungen („…“) entlarvt und überdies den fragmentarischen Charakter seines Schaffens, auch den Verlust an Lebenssehnsucht, illustriert. Symptomatisch dafür steht die vielfach thematisierte Mauer als schutzwallartiges Sinnbild des Selbst, die als solche zwar Halt verspricht, immer wieder aber in seiner Hinfälligkeit durch pflanzlichen Bewuchs, die Brüchigkeit seiner Steine oder die drohende Unterspülung durch den angrenzenden Fluss gezeichnet wird.

Die nur sehr vagen politischen Stellungnahmen zum Zeitgeschehen (Böhmen, Anno Domini 1969 etwa) müssen – was explizit die von zahlreichen Kritikern bescheinigte Faszination und Größe Holans ausmacht – tiefschürfenden Reflexionen zur Humanität als solcher weichen. So ist seine Lyrik der Jahre 1968 bis 1971 auch als Parteinahme für ein Verständnis vom Menschen zu verstehen, das die Schonungslosigkeit der eigenen Betrachtung des Seins wieder kultiviert: Fast aktuell mutet seine unterschwellige Kritik an einer Affirmation und Selbstbespiegelung des Ich im Spiegelsaal des Ichtums an, sieht er doch die Gefahr, Identitätssuche mit einer Art Doppelgängersein zu verwechseln und nur das sehen zu wollen, was dem eigenen Vorstellungshorizont entspricht. Dagegen setzt er konfrontativ die Auffassung, dass Identitätsbildung immer von der Differenz, dem konstruktiven Anderen lebt und damit zum Lebensrisiko, ja, zur Gefährdung des Selbst wird. Folglich wird die Selbst-Findung zum zentralen Lebensinhalt und zur Grundbedingung des eigenen Lebens, zur Schicksalsfrage (Igitur II).

Holans Lyrik zeigt sich in Anbetracht dieser hohen Ideale der Identitätsfindung skeptisch, der Mensch ist in seinem Menschsein – wie er es definiert – radikal bedroht, durch politische Rückschritte (Dämon und Schicksal), Entwertung und Objektivierung (verkörpert im Ausruf Ich kenne nur Dinge des Blinden), die allesamt zum Selbstverlust beitragen. Weil das Denken (als mögliches Medium dieser Selbstfindung) von ihm als zu grenzenlos, zu anfällig für gefährliche Deutungen und abwegige Vorstellungen und zu stark orientiert an Vereinheitlichung und Letztbegründungen beschrieben wird, bleibt nur die Liebe unentbehrlich: Als rationales Phänomen denkt Holan sie idealiter als Ermöglichung der eigenen Einheit durch den Dialog mit einem Gegenbild. In Abkehr von Eigenliebe, Leistungs- und Trieborientierung überwindet sie den temporären und oberflächlichen Schein und führt zum nachhaltigen Erkennen des Ich. Weil die harten Schnitte der Realität aber unheilvoll Betrug, Täuschung und Sprachlosigkeit erwarten lassen, trifft man auch hier auf einen skeptischen Ausblick, der keine Linderung erwarten lässt.

Auch wenn die hier vorgenommenen Deutungsversuche den Anschein von Ordnung und Zugänglichkeit der Lyrik Holans wecken, seien selbige postwendend wieder dementiert: Das deutungsoffen schillernde Profil seiner Gedichte erweist sich dennoch als maximaler Glücksfall, als offensive Einladung zur Entdeckung eines eminent wichtigen Werks, das neben der zeitgeschichtlichen und politischen Einordnung auch einer philosophischen Analyse bedarf, um angemessen gewürdigt zu werden. Damit dürfte auch dem Understatement des Autors selbst, nur umrisshaft zum Lauf der Geschichte beitragen zu können (Vielleicht), widersprochen werden können, wie hoffentlich auch an den bereits entstehenden Dissertationen zu Vladimír Holan abzulesen sein wird.

Titelbild

Vladimír Holan: Gesammelte Werke. Deutsch-tschechische Ausgabe. Lyrik VIII: 1968–1971.
Herausgegeben von Urs Heftrich und Michael Špirit.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2018.
605 Seiten, 39,00 EUR.
ISBN-13: 9783825367855

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