Heil von den Inseln?

Sebastian Holtzhauer stellt die mittelalterliche literarische Tradierung der Reisen des Heiligen Brendan dar

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Ire Brendan (oder auch Brandan) war ein Heiliger, der vom 5. bis in das 6. Jahrhundert lebte, einer Zeit, in der die irische Kirche bereits (oder auch noch) in einer Sonderposition gegenüber dem kontinentalen Katholizismus stand. Neben einem wohl grundsätzlichen Primat monastischen Lebens war für Irland und seine Kleriker (und sicherlich auch die Klerikerinnen) insbesondere der Aspekt der Peregrinatio bedeutsam, das heißt das bewusste Weggehen, um abseits vorhandener und womöglich eingefahrener sozialer Einbindungen einen Weg zu Gott zu finden. Ganz offensichtlich war dieser Aspekt auch für den Heiligen wesentlich, und so wurden seine Fahrten bereits im Frühmittelalter bis in die Frühe Neuzeit hinein immer wieder kolportiert beziehungsweise in unterschiedlichen Varietäten niedergeschrieben. In diesen Zusammenhang gehören auch die Fahrten des Heiligen Brendan, über den allerdings wenig Konkretes bekannt ist.

Und Brendan steht auch im Zentrum der vorliegenden Publikation: Der Verfasser hat sich in seiner Dissertation, die dem Buch zugrunde liegt, das Ziel gesetzt, die verschiedenen Stränge der Überlieferungen kontextual, aber auch in Hinblick auf ihre Wirkungen anzugehen, was sich auch in der Betitelung des ersten Unterkapitels der Einleitung „Ein Heiliger, viele Erzählungen“ niederschlägt. Wesentliches Anliegen Holtzhauers ist, die Vielschichtigkeit der entsprechenden hagiographischen Texte darzulegen, die sich dann anschließend anhand eines Stammbaums zumindest systematisieren lässt. Es geht ihm darum, anhand eines exemplarischen Textkorpus zum einen die Tradierung des Brendan-Stoffes darzulegen, darüber hinaus aber zum anderen die immer wieder erfolgte (Weiter-)Verbreitung dieses Sujets über Zeit- und Raumgrenzen hinweg zu beleuchten, die nicht nur sprachlich unterschiedliche Räume betraf, sondern sozial und sogar medial anders strukturierte Gegebenheiten umfasste.

Der von Sebastian Holtzhauer verfolgte Ansatz ist interdisziplinär angelegt. Er orientiert sich am aktuellen mediävistischen Forschungsdiskurs zur Problematik des Wiedererzählens beziehungsweise der Retextualisierung. Unter Rückgriff auf die material philology wird ein erweiterter Textbegriff zugrunde gelegt, neben textinternen werden auch textexterne Modifikationen, zu denken ist hier etwa an die handschriftliche Mitüberlieferung, herangezogen. Auf diese Weise lassen sich, das wäre dann zu erweisen, erweiternde Impulse für die Brendan-Forschung gewinnen.

In diesem Sinne erfolgt auch ‚eine erste Annäherung‘ hinsichtlich der Chancen einer erweiterten Brendan-Forschung und damit an den Heiligen, indem – nach Voranstellung der biographischen respektive hagiographischen Aspekte – sowohl die grundsätzliche Funktion und Rezeption der entsprechenden Darstellungen als auch die Fragen der Textüberlieferung diskutiert werden. Im weiteren einführenden Verlauf macht der Verfasser auf die Bedeutung der Retextualisierung in ihrer Funktion als Forschungsansatz aufmerksam. Es werden hier sowohl die Forschungsgeschichte als auch die Möglichkeiten einer praktischen Anwendung im literaturwissenschaftlichen Kontext erörtert. Konkret ausgedrückt geht es Sebastian Holtzhauer um die Frage nach dem ‚Mehrwert‘ materialphilologischer und textverbundorientierter Analysen im Zusammenhang mit dem Brandan-Corpus (beziehungsweise den Brandan-Corpora).

Im eigentlichen, knapp 250 Seiten umfassenden Forschungsteil werden diese theoretischen Vorgaben auf die Textkorpora (also sowohl Handschriften als auch frühe Drucke) der Brendan-Hagiographie angewendet, wobei für die Reim- und Prosaüberlieferungen zunächst jeweils Stammbaumentwicklungen dargestellt sind. Dies mag zunächst an die Altgermanistik vergangener Zeiten erinnern, in der insbesondere die Heldenepikforschung durch die Entwicklung solcher Systeme geprägt war. Hier sind die postulierten Grundlagen, wenngleich hypothetischer Natur, stringenter, als das etwa im 19. Jahrhundert der Fall war. Und überdies zeigt das Vorgehen auch, dass bestimmte Parameter in der Forschungsdiskussion immer wieder auftreten – einfach deshalb, weil sich mit ihnen vernünftig operieren lässt.

Dezidiert in den Blick genommen werden dann im zweiten Abschnitt die Heidelberger und die Berliner Fassung der Reisen des Heiligen Brandan. Während erstere eine vielschichtige, durch diverse Einschübe erweiterte Variante darstellt, bietet die Berliner Handschrift aufgrund ihrer Einbettung in die Deutschordenstradition eine Besonderheit, die sich gewissermaßen aus der Exklusivität der ursprünglichen Zielgruppe rückerschließen lässt, das heißt, die spezifisch auf ‚Ideologie‘ und (Selbst-)Darstellung des Deutschen Ordens bezogenen Einschübe werden in den Kontext einer durch das Beispiel des Heiligen erweiterten Heilsdarstellung eingebunden. Grundsätzlich, und das gilt selbstverständlich auch für die von Sebastian Holtzhauer untersuchten Texte um Brendan, bieten hagiographische Überlieferungen mehr als nur Biographisches; das Leben des beziehungsweise der jeweiligen Heiligen soll zum Vorbild für die Gläubigen werden und damit theologisch ‚aktivierend‘ wirken.

Gerade auch die von Holtzhauer in den Blick genommene Heidelberger Handschrift weist diese theologisch ‚aktiven‘ Aspekte auf, die anhand der Zusammenstellung der Handschrift erkennbar werden. In diesem Zusammenhang lassen sich zwischen den Brendan-Viten und etwa der im späteren Mittelalter weitverbreiteten ‚ars moriendi‘-Literatur durchaus Verknüpfungen erstellen, wie der Verfasser nachweist. In den Rahmen dieser Funktionalität passt sich auch die Einbindung einer in Prosaform verfassten ‚Historienbibel‘ ein, die die Alternativen zwischen ewigem Tod und naher Gnade verdeutlicht. Der christliche Heilsaspekt wird in dieser Handschrift auch durch heute Befremdliches illustriert. Die – fingierte – Epistel des Rabbi Samuel an Rabbi Isaak, vordergründig als Disputation zweier konkurrierender jüdischer Auslegungsschulen dargestellt, zerlegt tatsächlich die Glaubenswahrheit des Judentums mit dem Ziel, die Exklusivität, das heißt den Absolutheitsanspruch des Christentums zu erweisen. Hier werden eindeutig dubiose Ansätze erkennbar, deren Fragwürdigkeit allerdings zur Zeit ihrer Entstehung nicht als solche empfunden wurde.

Hat Sebastian Holtzhauer hier großflächige Motive in den Blick genommen, werden im dritten Hauptabschnitt bestimmte Elemente, Muster und bisweilen auch Strukturen thematisiert, die zunächst über den engeren Kontext einer Hagiographie hinausweisen. Dabei wird nach der Bedeutung von Zahlen und von Wasser in mittelalterlichen Überlieferungen gefragt, die dann stringent in den Zusammenhang mit der Hagiographie des Heiligen Brendan gebracht werden. Gerade über die Zahlensymbolik etwa gelingt eine Anbindung an eine venetische Überlieferung der Fahrten des Heiligen, die durch diesen Aspekt pseudoapokalyptische Dimensionen gewinnt. Aber auch in der lateinischen Überlieferung der Navigatio sancti Brendiani abbatis, der frühneuhochdeutschen Legend Sand Brandan des Johannes Hartlieb sowie einer anglonormannischen Fassung – der Voyage of St. Brendan des Benedeit – weist Holtzhauer Möglichkeiten und Grenzen einer numerologischen Analyse der Brendan-Texte auf. Auch wenn die hier ausgewählten und vorgestellten Texte gegenüber der Ausgangsüberlieferung ausgeprägte numerologische Aspekte aufweisen.

Ähnliches gilt für die Wassersymbolik, die anhand des lateinischen und anglonormannischen Textes weitergeführt wird. Anhand der Navigatio sancti Brendiani abbatis zeigt der Verfasser die Entwicklung des irischen Heiligen zu einem Schutzpatron der Seefahrer auf, während die Voyage of St. Brendan die Polarität zwischen geistlicher Moraldidaxe und weltlich-höfisch adaptierter Aventiure abbildet. Die in den Zusammenhang mit der Wassersymbolik untersuchte mitteldeutsche Fassung M der Reise des Heiligen Brandan geht insofern zurück zu den Wurzeln, als hier explizit die Meerfahrt des Iren als Bußpraxis in den Fokus gestellt wird, womit sie also den tatsächlichen Gepflogenheiten irischer Mönche sehr nahekommt.

Sehr positiv ist letztlich auch die Edition der Münchner Variante Pm der Brendan-Hagiographie; hier wird die Möglichkeit geboten, zumindest wesentliche Aspekte und Überlegungen Sebastian Holtzhauers an einem Originaltext nachzuvollziehen. Dies ist umso verdienstvoller, als dieser Text bislang nicht in einer edierten Fassung zugänglich war. Dass vor die eigentliche Edition allgemeine Hinweise gestellt sind, macht den vorgenommenen Prozess definitiv transparenter und liefert Meta-Informationen, die einem auch über die vorliegende Publikation allgemeineren Verständnis zuträglich sind. Dem engeren Verständnis mögen die Episodenschemata der Navigatio beziehungsweise der ‚Reise‘ dienen, auch wenn diese dafür eigentlich zu kurz gehalten sind. Das Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis, der Nachweis der Handschriften sowie eine umfangreiche Bibliographie runden den positiven Gesamteindruck der Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum ab.

Angesichts der Komplexität der Vorgehensweise, aber auch des Textumfangs ist es schwer möglich, detailliert jeden Schritt des Verfassers nachzuvollziehen, und so sind einige der interessanten Querverbindungen, die aufgezeigt werden, unerwähnt geblieben. Gleichwohl sollten genügend Anregungen gegeben sein, sich mit dem vorliegenden Buch näher zu beschäftigen. Sowohl im engeren Sinne auf die Brendan-Überlieferung als auch im Weiteren auf hagiographische Texte bezogen lässt sich – gerade auch unter dem Blickwinkel einer angewandten Retextualisierung eines beziehungsweise explizit dieses Stoffes – das Ganze mit Gewinn lesen.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Sebastian Holtzhauer: Die Fahrt eines Heiligen durch Zeit und Raum. Untersuchungen ausgewählter Retextualisierungen des Brandan-Corpus von den Anfängen bis zum 15. Jahrhundert.
Mit 22 Abbildungen.
V&R unipress, Göttingen 2019.
633 Seiten, 90,00 EUR.
ISBN-13: 9783847110194

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