Postmemoriale Erinnerungsreise

Mit dem Romandebüt „Für Seka“ wirft Mina Hava einen einfühlsamen Blick auf eine bosniakische Familiengeschichte

Von Nele HonigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nele Honig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Südlich der Jurakette lernt ein Mädchen schwimmen. Sie hat Chlor in der Nase, das Atmen fällt ihr schwer. Zeitgleich werden Berichte aus dem Gefangenenlager in Omarska veröffentlicht, Tote ausgegraben und Traumata in Familien weitergegeben. Mit Anfang zwanzig sitzt die nun junge Frau in ihrer Wohnung in Leipzig, enttäuscht von der ersten Liebe und gequält von Erinnerungen an den Vater. Sekas Geschichte ist verwoben mit der Vergangenheit, begleitet von jenem Schmerz, der sich erst im Laufe ihrer Erzählung offenbart.

Der Schriftsteller W.G. Sebald fragt „A quoi bon la littérature?“ und antwortet im nächsten Satz: „Einzig vielleicht dazu, daß wir uns erinnern und daß wir begreifen lernen, daß es sonderbare, von keiner Kausallogik zu ergründende Zusammenhänge gibt.“ Unser Leben sei bestimmt von unsichtbaren Fäden. Eine Fotografie, auf den ersten Blick gewöhnlich, hält für ausgewählte Augenpaare die Retrospektive bereit. Sebald entwickelte mittels Aufnahmen seine Erzählungen. Mina Hava folgt dieser Tradition:

Das Wasser spiegelt das Licht, das durch das Fensterband seitlich in die Halle flutet. Ein weiteres Bild. Es spiegelt die Farbe der Decke, das Mosaik, seine Muscheln und Delfine. Seka und ihr Vater im Hallenbad. Er hat beide Arme auf den Beckenrand gelegt, auf dem sie sitzt, nackt, maximal zweijährig, mit ihrer Hand auf seiner Stirn.

Mit einem Brief an seine Tochter verabschiedet sich der Vater. „Za Seku“ lautet seine Aufschrift, für Seka. Sein Inhalt, eine Handvoll Fotos, gibt den Impuls für die Suche nach der eigenen Herkunft. Mit Gesprächsaufzeichnungen, Bildern und Prozessberichten wird Seka zur Archäologin ihrer eigenen bosniakischen Familiengeschichte. Gekonnt konstelliert die Autorin dabei immer wieder das individuelle Schicksal mit weltgeschichtlichen Ereignissen. Dreh- und Angelpunkt ist dabei das Gefangenenlager Omarska, in dem sich in den 1990er Jahren brutale Kriegsverbrechen ereigneten. Die vielen Absätze des Romans durchbrechen eine chronologische Darstellung der Ereignisse, kennzeichnen die Leerstellen der Geschichtsschreibung. Majka, Nena, Ramiz, Amir, Mirza, Muhamed, Minka – es sind viele Namen, deren Biographien sich nur fragmentarisch entfalten.

Die Schweizer Schriftstellerin Mina Hava wird mit ihrem Debütroman zur jungen, transnationalen Stimme einer postmemorialen Erinnerungskultur. Geboren 1998, studiert Hava Literarisches Schreiben in Leipzig sowie Global- und Wissenschaftsgeschichte in Zürich. In ihrem Werk behandelt sie schwere Themen, fordert politische Teilhabe und kritisiert die Vormachtstellung Westeuropas: „Für die westliche Öffentlichkeit brauchte es eine Fotografie von Gerippen, die denjenigen glichen, die man bereits kannte.“ Neben autoreflexiven und autofiktionalen Passagen sind es Sätze wie diese, die politische Diskurse verhandeln und aufhorchen lassen. So kommt mit Für Seka eine aufstrebende Autorin zu Wort, die neben dem literarischen auch einen politischen Anspruch hat.

Splitterhaft erzählt der Roman die Geschichte einer Familie und die eines ganzen Volks. Immer wieder verflechtet die Autorin Personen- und Globalgeschichte, gibt umfangreiche Literaturhinweise und stellt Bezüge zur Popkultur her: „Listen mit Büchern […], Lyrics, Covern – überall diese Ahnung, es wohne ihnen etwas Erklärendes inne und bedürfte nur ein wenig Arbeit, es herauszuschälen.“ Dabei nimmt sich Mina Hava viel vor.

Die zahlreichen Verweise sind eindrücklich, das Alltägliche wirkt neben dem Gräuel, und doch scheint ein allumfassender Fokus gesetzt worden. Vielfältige Themen werden angerissen, doch nur wenige näher ausgeführt. Geschlechter- und religionskritische Perspektiven sowie die Verhandlung einer Krebserkrankung verlieren ihre Sichtbarkeit in der Polyphonie. Andere Sujets brillieren durch die nüchterne Gegenüberstellung individueller und kollektiver Traumata. Von dem Bau der ersten Mine um 1500 führt der Roman zum Bergwerk in Omarska und von Sekas Fitnessgerät in Zürich zum Folterinstrument Treadmill. So verbleibt am Ende die Frage: Wie viele Leben kann ein junger Mensch bereits gelebt haben?

Es sind viele Schicksale, die der Roman zu verhandelt sucht. Doch es sind auch Hinweise auf einen größeren Zusammenhang zwischen der Erinnerung und den Dingen, die während der Lektüre immer wieder auftauchen. Da ist die Großmutter Majka, früher Leidtragende ihres alkoholsüchtigen Mannes, nun eine wichtige Zeitzeugin. Immer wieder werden auch Zitate aus einem Briefwechsel zwischen einer bosnischen Kinderärztin und ihrem Mann eingestreut. Aus dem Lager schreibt er: „Is it to be that life is so unpredictable and so brutal?“

Die Protagonistin Seka wird im Erstlingswerk der Schweizer Autorin zur Erinnerungsforscherin und verleiht all jenen eine Stimme, die in der hegemonialen Geschichtsschreibung verstummen. „Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, über die Registrierung der Tatsachen und über die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der Restitution,“ resümiert Sebald. Und so beschließt Mina Havas neuer Roman Für Seka nicht nur ein nationales Denkmal, sondern auch ein literarisches Plädoyer wider der Barbarei des westlichen Funktionsgedächtnisses zu setzen.

Titelbild

Mina Hava: Für Seka. Eine Geschichte vom Verlassen und Verlassenwerden.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023.
278 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783518431115

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