Erleichterte Einblicke in das Werk Georg Lukács’

Axel Honneths und Rüdiger Dannemanns neue Auswahl „Ästhetik, Marxismus, Ontologie“

Von Maximilian HuschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Huschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Editionen ausgewählter Texte von Autor:innen dienen gemeinhin dazu, einem breiteren Publikum das konzentrierte Substrat eines Werkes vorzulegen. Meist wird dieser Zweck dadurch erfüllt, indem die wichtigsten und am häufigsten rezipierten Texte von Autor:innen in solchen Bänden gesammelt werden. Dass eine Auswahl nach diesem Kriterium erfolgt, ist jedoch keineswegs festgelegt. In ihrer Auswahl von Texten Georg Lukács’ haben Rüdiger Dannemann und Axel Honneth im letzten Jahr ein anderes Auswahlkriterium gefunden. Anstatt „in Form einer Präsentation […] von Ausschnitten aus Hauptwerken des Autors“ haben Dannemann und Honneth eine Auswahl „vorrangig von weniger bekannten, aber symptomatischen Texten“ getroffen.

Selbstredend finden sich in dem Band trotzdem einige Ausschnitte aus größeren Werkzusammenhängen oder berühmten Aufsatzsammlungen Lukács’. Beispiele dafür sind der Aufsatz Klassenbewußtsein, der in späterer Fassung in die für den Westlichen Marxismus so wichtige Sammlung Geschichte und Klassenbewußtsein aufgenommen wurde, oder die Einleitung in das Spätwerk Zur Ontologie des gesellschaftlichen Seins.

In einer Fußnote zu dem Vortrag von Die ontologischen Grundlagen des menschlichen Denkens und Handelns merken die Herausgeber an, es sei „ein Versuch, Grundgedanken der monumentalen Ontologie [Lukács’] komprimiert darzustellen“. Womöglich drückt sich hierin ein Leitgedanke der beiden Herausgeber aus, Texte zusammenzustellen, die die größeren Werke ebenso inhaltlich vertreten, wie sie für die Entwicklung und die thematische Breite des Werkes Georg Lukács’ repräsentativ sind. Beides ist ihnen gelungen.

Neben Texten, die einem interessierten Publikum bereits bekannt sein dürften, wie die beiden erwähnten oder aber auch Lukács’ zentraler Beitrag zur Expressionismusdebatte Es geht um den Realismus, finden sich im Band von Honneth und Dannemann zahlreiche weniger bekannte und teils nur beschränkt zugängliche. Hierunter beispielweise ein Text zur titelgebenden Frage Warum sind Demokratien den Autokratien überlegen?, der in deutscher Übersetzung erst 2015 zum ersten Mal in der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffentlicht worden ist. Oder aber auch der Text Alte und neue Kultur, der sich lediglich in einem Festband anlässlich der Verleihung des Goethepreises an Georg Lukács 1970 findet.

Durch diese Auswahl von bekannten und weniger bekannten Texten schaffen es die Herausgeber sehr erfolgreich, Leser:innen zu gewinnen, die mit dem Werk Lukács weniger vertraut sind. Dessen Spannweite über unterschiedliche Fragen und Bereiche zeigt allein der Titel des Bandes, Ästhetik, Marxismus, Ontologie; so ergeben sich viele Anknüpfungspunkte für Interessierte. Ebenso dürften sich auf diese Weise aber auch Leser:innen, die sich bereits mit den Texten Lukács’ befasst haben, davon überzeugen, dass eine Lektüre von Lukács beinahe immer produktiv ist, sei es auch nur zur inhaltlichen Abgrenzung. Lukács’ Argumentationen, selbst wenn sie nicht überzeugen, bieten immer hinreichend Substanz für eine inspirierende Auseinandersetzung.

Für diejenigen, denen Georg Lukács ein Begriff ist, dürfte der Band noch etwas erreichen. Lukács gehört zu den Autoren, von deren Werk in unterschiedlichen Diskussionszusammenhängen und Denktraditionen immer dieselben Texte gelesen werden und auf sie verwiesen wird. Für einen Teil der Germanistik sind das beispielsweise die frühen Texte zur Ästhetik samt der Theorie des Romans. Die späteren Schriften zur Ästhetik werden dahingegen entweder ignoriert oder gar zurückgewiesen, ganz zu schweigen von den dezidiert politischen und ökonomischen Texten. Einzig für den kleinen Teil einer marxistischen Literaturtheorie mag das nicht oder nur teilweise gelten. Ähnlich verhält es sich beispielsweise in weiten Teilen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Während die Aufsatzsammlung zu Geschichte und Klassenbewußtsein als Klassiker des Westlichen Marxismus und zu Recht als eines von dessen Gründungsdokumenten gilt, hat Die Zerstörung der Vernunft eher den Ruf intellektueller Resignation unter stalinistischem Druck. Diese Isolierung verschiedener Rezeptionsweisen bricht der Band durch seine ebenso Schaffensphasen wie Thematiken übergreifende Auswahl erfolgreich auf.

Dannemann und Honneth haben in dem vorliegenden Band sowohl Texte der frühen ästhetischen Phase ausgewählt als auch solche der marxistischen Diskussion um die Funktion der Kunst für die Sache der Revolution. In dem Band finden sich ebenso Texte aus dem Umfeld von Geschichte und Klassenbewußtsein, wie der Zerstörung der Vernunft oder der späten Ontologie des gesellschaftlichen Seins. So gelingt einerseits der Versuch, die Auswahl repräsentativ für das Werk Lukács’ zu treffen. Auf diese Weise wird dessen ungeheurer thematischer Umfang ebenso deutlich wie Lukács’ außergewöhnliche intellektuelle Entwicklung. Darüber hinaus zeigt es aber auch, dass es im 20. Jahrhundert nur wenige marxistische Intellektuelle gegeben haben dürfte, die in mehr Debatten verstrickt waren, die gleichermaßen wegweisend und essenziell für die Entwicklung des marxistischen Denkens waren und sind. Nicht nur wegen dieser Relevanz seines Werkes dürfte eine Lektüre lohnen – ob die erste oder nicht, spielt kaum eine Rolle.

Durch die Zusammenstellung kleinerer und weniger bekannter Texte aus den verschiedenen Phasen neigt man beim Lesen zudem womöglich eher dazu, eine beschränkte Rezeptionsweise zugunsten der Lektüre der Texte anderer Schaffensphasen aufzugeben, anstatt allein wegen möglicherweise bekannter Titel auf diese zu verzichten. Das mag wenig scheinen, bedeutet aber doch vielleicht die eine oder andere intellektuelle Auseinandersetzung mehr. Dass diese Lukács zu wünschen wäre, auch das stellt der Band unter Beweis.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Georg Lukács: Ästhetik, Marxismus, Ontologie. Ausgewählte Texte. Herausgegeben und mit einer Einleitung von Rüdiger Dannemann und Axel Honneth.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2021.
572 Seiten, 28 EUR.
ISBN-13: 9783518299395

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