Ein Buchhalter im Rotlichtviertel
Joan Coloms fotografische Streifzüge durch Barcelonas Bezirk "Raval" Ende der 1950er-Jahre
Von Marion Malinowski
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Als ich ins Raval hineinging, erkannte ich, dass dies mein Ort war und dass ich ihn, ohne es zu wissen, bereits in mir trug. Es glich für mich einer Offenbarung, einem Wunder, zu sehen, wie diese Menschen spontan ihrem Wesen Ausdruck gaben." 1958 betrat der 38-jährige Buchhalter Joan Colom erstmals das verrufenste Viertel seiner Heimatstadt Barcelona, "El Raval" oder auch "Barrio Chino", wie es auf Castellano genannt wird. Ein Jahr zuvor hatte er begonnen zu fotografieren. Seine Kamera hing ihm unauffällig über der Schulter, baumelte in Hüfthöhe. In den engen, feuchten und dunklen Gassen traf er auf Prostituierte und deren Freier, auf Kleinkriminelle und Obdachlose, verwahrloste Kinder und Hausfrauen beim Friseur. Er drückte heimlich den Auslöser.
In den folgenden drei Jahren verbrachte der Buchhalter seine Wochenenden auf den Straßen des Raval als diskreter Flaneur und stiller Beobachter, der seine Motive dem Zufall überließ. Selten blickte er gezielt durch den Sucher, lieber wählte er erst später in der Dunkelkammer Ausschnitte aus seinen Schnappschüssen. Als Mitbegründer der Fotografengruppe "El Mussol" fühlte er sich im Gegensatz zum dominierenden Ästhetizismus seiner Zeit der Realität verpflichtet.
Obwohl Colom am Rande des berüchtigten Viertels aufwuchs, war ihm dieser Teil der Stadt, ein "Ort, an dem Intimität öffentlich verhandelt wurde", völlig unbekannt. "Sich ins Barrio Chino hinein zu begeben und es zu fotografieren, so ahnte Colom, war eine metaphorische Form, dieses Viertel für den Rest der Stadt zu 'gewinnen' und nebenbei für sich selbst einen Freiraum aufzubauen", schreibt Marta Gili in ihrer Einführung im Ausstellungskatalog "Raval". 84 Schwarzweiß-Bilder des außerhalb Spaniens nahezu unbekannten fotografierenden Buchhalters Joan Colom werden vom 23. September bis zum 12. November in der Fotografischen Sammlung im Museum Folkwang Essen gezeigt. Häufig sind es Szenen aus einer Zwischenwelt von Innen und Außen. Menschen, die im Türrahmen stehen, Aufnahmen im Vorbeigehen durch die geöffnete Tür einer Bar, Silhouetten, deren Umrisse in der Dunkelheit aufleuchten.
Unverwechselbare Typen bevölkern die Straßen, voluminöse Frauen, Lebemänner und ausgezehrte Alte, exzentrische Damen, aber auch Schuljungen, junge Familien und spielende Kinder. Sie erinnern den Betrachter an eigene vertraute Begegnungen in der Stadt, harmlos ist der Alltag in diesem Viertel allerdings nicht. Mit dem sicheren Abstand von fast 50 Jahren könnte man mit romantisierendem Blick die damalige Kleider- und Frisurenmode bestaunen, die ausgezehrte Drogensüchtige im übergroßen Mantel mit historischem Interesse betrachten - aber ein Foto von Henri Cartier-Bresson von 1932, am Anfang zwischen die einführenden Texte platziert, gibt die Richtung vor: Ein Halbstarker, flankiert von seinem feixenden Kumpan, erlaubt sich einen Scherz - mit dem Messer in der Hand. Und der Blick der Frau geht ins Leere.
Solche unterschwelligen Bedrohungen sind auch bei Colom allgegenwärtig, aber seine Fotografien sind noch subtiler. Eine düstere Grundstimmung dominiert den Band und steigert sich bis zur letzten Aufnahme. Die Bildfolge beginnt mit einem Lächeln und endet, vielleicht etwas zu plakativ, in einer ausgekotzten Rotweinlache. Dazwischen stehen aber auch geradezu fröhliche Momentaufnahmen und stille Porträts. Wie nebenbei deckt der Buchhalter gesellschaftliche Verhältnisse und Beziehungsmuster auf: Reichtum und Elend, Momente des Glücks und der Trostlosigkeit, Körper, die sich darbieten und taxiert werden, Dominanz und Unterwerfung. Colom begriff die Straße als "Bühne", auf der die Akteure ein Spiel der Sehnsüchte und Verlockungen aufführen und ein breites Spektrum von Gefühlen zeigen, die in seiner alltäglichen Buchhalterwelt nicht so rücksichtslos und schon gar nicht öffentlich ausgelebt wurden. Die Rollen in diesem Spiel sind nicht immer klar verteilt und können kippen. Wer hat wen in der Hand?
Einige grobkörnige Aufnahmen transportieren die prekäre Situation insbesondere der Frauen. Fokussiert auf Gesten und Blicke rücken sie das Begehren der Männer ins Zentrum. Aufgedeckt wird ein Geschlechterreigen, bei dem nicht für den Fotografen posiert wird, sondern höchstens für potentielle Kunden.
Die Protagonisten dieses verbotenen Straßentheaters, das nicht zuletzt durch seinen Schmutz und die Verwahrlosung eine so große Anziehungskraft auf den Buchhalter ausübte, scheren sich nicht um die Welt "draußen".
Der zurückhaltende Flaneur fiel im Laufe der Zeit sicherlich trotzdem auf, aber durch seine regelmäßige Präsenz gelang es Colom anscheinend, als Teil des gewohnten Straßenbildes wieder unsichtbar zu werden. Aus dem Konglomerat all dessen, "was die anständige Gesellschaft vehement von sich wies", entstand so ein empfindsames Porträt eines Stadtviertels, das mittlerweile zweigeteilt ist. Der nördliche Teil des Raval ist saniert, ganze Häuserblocks wurden abgerissen und sind dem Museum für zeitgenössische Kunst gewichen, Helligkeit und glatte Fassaden, exklusive Geschäfte für kaufkräftige Kunden bestimmen die geraden, breiteren Straßen, die Mieten steigen. Rückeroberung erfolgt heute durch Verdrängung, denn der städtische Raum im Zentrum ist zu wertvoll, um ihn Menschen am Rand der Gesellschaft zu überlassen. Im südlichen Teil des Raval gibt es noch das enge dunkle Labyrinth der kühlen Gassen, in die kaum Sonnenlicht dringt, mit dem Müll und den Pfützen und den Wäscheleinen über den Köpfen der Passanten. Der "blinde Fleck" im Innern des Urbanen existiert weiter und ist in Barcelona (noch) nicht an den geografischen Rand gedrängt.
"Izas, Rabizas y Colipoterras" - Nutten, Flittchen und Freudenmädchen hieß das erste Buch mit Fotografien von Joan Colom, und es beendete zunächst seine Karriere als Fotograf für Jahrzehnte. 1964 veröffentlichte der spätere Literaturnobelpreisträger Camilo José Cela unter diesem verkaufsfördernden Titel einen Text, und die begleitende Bildauswahl sorgte für kontroverse Auseinandersetzungen. Der Buchhalter, dessen Thema das Leben auf der Straße in einem randständigen Viertel war und nicht nur das Leben der Prostituierten, legte seine Kamera weg und blieb fortan seinem Arbeitgeber bis zur Rente treu. Er war kein Voyeur, und er suchte nicht die Provokation, sondern die unverstellte Wirklichkeit.
Erst Mitte der 1980er-Jahre nahm Colom seine Fotokamera wieder mit auf Streifzüge durch die Innenstadt Barcelonas. "Ich ziehe durch die Straßen", flüsterte er Cartier-Bresson zu, als sie sich 2003 kennenlernten. Als Fotograf gelangen ihm so soziale Innenansichten von buchhalterischer Genauigkeit, mit der Kamera über der Schulter in "seinem" Viertel wurde er zum Buchhalter der Seelen.