Teil einer Jugendbewegung
Jörg Albrechts Debütroman "Drei Herzen" zelebriert den Zeitgeist und die Posen dreier Generationen
Von Stefan Mesch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWenn Jungliteraten ihren ersten Roman veröffentlichen, bricht in den Feuilletons oft ein Raunen und Zischeln los. Ein latenter Widerstand, ganz so, als sei der Literaturbetrieb eine geschlossene Gesellschaft. "Wer hat den denn eingeladen?", fragen die Kritiker, missmutig am Rand der Tanzfläche aufgereiht. "Du stinkst nach Mottenkugeln!", begrüßen sie dürre Germanisten mit Brille und Halbglatze, "Deine Garderobe hast du doch Thomas Bernhard abgeluchst, gib's zu!" Tief dekolletierten 'Fräuleinwundern' sagt man, sie seien plump und trampelig und sollten besser erst mal Tanzen lernen. Schreibschulabsolventen sagt man, sie seien glatt und banal und sollten besser erst mal Erfahrungen machen. "Und eigentlich", jammern alle immerzu, "ist diese Party doch schon längst vorbei!"
Jörg Albrecht, geboren 1981, will trotzdem auf die Tanzfläche. Er ist Theater- und Literaturwissenschaftler und arbeitet schon seit einigen Jahren die Formalia ab, die man als Nachwuchsschreiber braucht für den Einlass ins Business: Albrecht war Teilnehmer am "Treffen junger Autoren" in Berlin und beim Literaturkurs des Bachmann-Preises in Klagenfurt, er veröffentlichte in "Edit" und "Bella triste" und machte 2005 den zweiten Platz beim Lesebühnen-Nachwuchspreis "Open Mike". Jetzt erscheint sein erster Roman "Drei Herzen" im Göttinger Wallstein-Verlag. Eine Familiengeschichte um drei Generationen adoleszenter Neinsager, die sich auf den Tanzböden des Lebens blutige Nasen holen: Oma wettert als Edelweißpiratin gegen die Hitlerjugend; Mama und Papa demonstrieren gegen Axel Springer; und ihr Sohn, der Ich-Erzähler des Romans, erfüllt mit Trainingsjacke, Plattensammlung und Emo-Haarschnitt alle Vorraussetzungen, die man als Tocotronic-Revoluzzer braucht für den Kampf gegen die Diktatur der Angepassten.
... und irgendwo da draußen schmeißt gerade ein gegenwartsmüder Literaturkritiker eine Schale Müsli gegen die Bücherwand und heult: "War das denn wirklich nötig - noch so ein Buch? Geht das jetzt immer so weiter?" Eine berechtigte Frage. Denn Jörg Albrechts Roman verkörpert so ziemlich jedes Klischee hoffnungslos aus der Mode gekommener junger deutscher Literatur: vom stilisierten Fotofixautomaten-Männchen auf dem bemüht poppigen Cover, über die bereits arg ausgenudelten Themen und Motive (Hitlerjugend! 68er-Unruhen! Dunkle Geheimnisse auf alten Polaroids!) bis hin zur Retro-Brille auf dem Autorenfoto. Vor zehn Jahren hätten alle noch gejubelt: "Wie schick! Wie frech! Das hat Kultpotenzial!" Und vor fünf Jahren wenigstens noch: "Das ist nichts Neues, aber ausgesprochen zeitgemäß." Heute starrt man auf das Buch und denkt: "Oh Gott - ist dieser Neues-Erzählen-Käse jetzt schon wieder lange genug passé, um als Retro-Phänomen aufgewärmt zu werden?" Jörg Albrechts Roman wirkt in etwa so einladend und vielversprechend wie ein fünf Jahre altes MTV-Special über die "Sportfreunde Stiller", moderiert von den "No Angels": "Drei Herzen" stinkt nach Afri-Cola, Ahoi-Brause und Energydrinks.
"Von innen ist die Welt kleiner, sage ich, oder sagt Josh das oder sagt Pitje das, wo sind wir, wann ist das. Wir stehen nicht auf dem Dachboden, wir tanzen im kleinen Club mit Teppich, der Schweiß lässt meine Strähnen an den Schläfen kleben, von den Schläfen bis zum Hals. Dann ist mein Kopf zu klein. Von innen ist der Kopf größer, denke ich, als Pitje und Josh und ich am DJ-Pult stehen und uns Neues vom Trickser wünschen. Von innen sehen wir unsere Bewegungen nicht, dafür brauchen wir ein Mädchen mit schwarzen Haaren, das uns sagt, eure Bewegungen machen euch einander ähnlich. Ist Nora das Mädchen mit den schwarzen Haaren oder Kathryn oder. Im Halbschatten sind sie kaum zu unterscheiden." Hilfe! Fade Andreas-Neumeister-Samples in halben Sätzen - wenn's gestern bereits gestern war, warum dann heute gleich schon wieder?
So lange die Fransenpony-Jungs noch jaulen, ist die Feier nicht zu Ende. Leider. Dabei ist "Drei Herzen" beileibe kein mieses Buch: Jörg Albrecht erzählt in einem schnellen, eigenen, treibenden Beat, der trotz aller Ellipsen, Halbsätze und Manierismen trägt und trägt und trägt. Er entwirft drei Geschichten mit jeweils ganz eigenen Bildwelten und Motiven, erzählt von drei Menschen in ganz unterschiedlichen Stimmungsfeldern; Handlungsstränge wie auf Klarsichtfolie: Großmutters Ménage a trois im Untergrund, ihr Fotofimmel, ihr langsames Erblinden. Vaters Studentenwelt, die Super-8-Aufnahmen von der Clique, das traurige Mädchen im Off, das sterben will, bevor sie gelebt hat, und dabei selbst nicht weiß, warum.
Und schließlich die Gegenwart: "Pitje filmt mit der Kodak Ektasound 130 Noras Zimmer, Pitje filmt Nora, wie sie auf ihre kleine schwarze Kamera schaut. Linus, Josh und ich heben nun ein anderes Bild ins Bild, ein Geburtstagsgeschenk für Nora, von Joshs Lomo produziert, von Joshs Händen vergrößert, ein Foto, auf dem Nora vor Pitje steht und Pitje Nora ansieht, durch einen Fotoapparat hindurch."
Enge T-Shirts, Vinylplatten, Nächte in Clubs, in Passbildautomaten. Vivazwei, Charlotte Roche. Und dieses Gefühl, in einem riesigen medialen Archiv zu leben. Zwischen Tonbändern, Lomografien und Schwarzweißfotos aus dem Familienalbum irgend etwas zu suchen, etwas wiederfinden zu müssen, das man nie besaß. In der Perfektion, mit der Albrecht diese drei Lebensfolien übereinander blendet, sie durch seine Stroboskopsprache immer schneller, immer scharfkantiger auf die Rückseite unserer Augen projiziert, wird offenbar, wie verflucht gut dieser Roman gearbeitet ist.
"Lebensfolien", "Stroboskopsprache", "Augenrückwand"? Ein fieses Metaphern-Gewöll. Doch kein Vergleich zu dem, was Albrecht selbst auffährt: Fotografie in der Nazizeit, Homevideos in den frühen 70ern, Musik der Gegenwart, symbolträchtig verschnitten mit den schönsten Fakten aus Biologie, Geschichte und Privatem. Zwecklos, genauer auf den Plot dieses Romans einzugehen. Es sind die wabernden Bildwelten, die mörderischen Schnitte und suggestiven Hyperlinks, die "Drei Herzen" lesens-, ja, regelrecht sehenswert machen. Ein gelungenes, ungeheuer souveränes Debüt - trotz aller semantischer Extravaganzen und thematischer Flachheiten. Nur das Schreiben über diesen Roman ist latent witzlos; ein wenig, als müsse man Musikvideos nacherzählen. Jörg Albrecht könnte auch das: Er schafft es, optische Spielereien ohne Qualitätsverlust ins Medium Sprache zu übersetzen. Und verleiht damit beidem - Text und Ton - eine angenehm raue, angenehm fremde Textur:
"Indem sie verrutschen, bilden Lichter und Formen die Ruinen einer Stadt, und wenn wir versuchen, diese Ruinen zu fotografieren, Foto 1: Blutende Stellen innerhalb einer einzigartigen Ansammlung von Zellen, der einzigen, die wir von innen sehen, Foto 2: Soldaten mit Verwacklungsschutz auf Kopf und Körpern bei der Räumung zertrennter Nervenfasern aus der weißen Substanz, Foto 3: ein Mund singt ohne Ton, I know you're dying, I know it's true, I know there's seven thousand things you'd rather be and rather do."
Wer jetzt sagt: "Das ist doch alles bloßer Formalismus! Der Kerl tut doch nichts anderes, als eine bereits ziemlich angestaubte Idee hübsch zu Ende zu denken!", der hat Recht, absolut. "Drei Herzen" ist ein sehr, sehr gut gemachter Roman - aber kein sehr guter. Er liest sich etwas zäh, die Figurenpsychologie ist ein wenig zu dünn geraten, die Metaphern ein wenig zu dick. Egal. Trotzdem toll! Und zwar nicht "für ein Debüt", sondern tatsächlich im Rahmen der Maßstäbe, die man an jeden Roman anlegen sollte.
Natürlich ist es ärgerlich, dass das Buch erst jetzt erscheint. Wer sich ganz und gar dem Aufspüren des Zeitgeists verschrieben hat und vor zwei, drei Jahren über das Neue Erzählen seufzte: "Freunde, hier gibt's nichts mehr zu sehen!", für den ist "Drei Herzen" ein Schlag ins Gesicht. Ein Anachronismus, an dem man eigentlich kein gutes Haar finden dürfte. Doch die Feier ist eben nicht automatisch gelaufen, nur, weil man mit den falschen Leuten in der falschen Ecke stand. Und einem Autor, der bereits mit Mitte 20 eine derart distinkte Stimme für sich gefunden hat, vorzuwerfen, die Tonart, mit der er auftrete, sei mittlerweile einfach nicht mehr gefragt, wäre schlicht und ergreifend dumm. Bei einem solchen Hase-und-Igel-Spiel muss jeder Autor verlieren.
Dranbleiben lohnt sich. Jedenfalls bei Jörg Albrecht: Seine erste größere Veröffentlichung hatte er 2001, in der Jahresanthologie des "Treffen junger Autoren". Der Text handelte von einem jungen Mann namens Rasputin, der den Edelweißpiraten beitritt und daraufhin denunziert wird. 2003 erschien "Nasenbluten [Polaroid 1000 Mix]", eine Kurzgeschichte über einen Ich-Erzähler und seine Freunde Pitje und Josh, die am Stadtrand Dortmunds über Musik und Fotografie philosophieren. Und den "Open Mike" gewann Albrecht mit "Blutanfall // Bildpunkte", einem Text über Stina, die eines Tages einfach verschwindet und ihre Freunde, Linus und Börries und Nora ratlos zurücklässt. Und Pitje. Und Josh! Jörg Albrecht bewegt sich also seit Jahren im gleichen - stark autobiografischen? - Erzählkosmos. Natürlich könnte man auch das als Gleichförmigkeit auslegen, als mangelnde Originalität. Doch wozu? Offenbar schraubt Albrecht an einem fiktiven Kosmos, der zu groß ist, um sich nach allen tagesaktuellen Trends zu richten.
Wer bereit ist, in diese Geschichten, diese Figuren zu investieren, wird sie wahrscheinlich noch durch mehrere Romane begleiten können, wird zusehen können, wie sie gemeinsam mit ihrem Autor wachsen. Dass in diesem Kosmos extrem viele Trainingsjacken vorkommen, war schon vor fünf Jahren so und lässt sich verkraften. Und auch seine Euphorie für faden Hamburg-Rock wird man Albrecht - angesichts des charmanten Cameo-Auftritts von US-Singer-Songwriter Conor Oberst im letzten Drittel des Romans - verzeihen können. "Manchmal", singen Die Sterne, "sagt man vertraute Sachen vor sich hin, weil man nicht sicher ist, ob sie noch stimmen." Und manchmal, denkt man bei der Lektüre von "Drei Herzen", kommen interessante Bücher aus einer Richtung, von der man längst sicher war, dass sie komplett uninteressant geworden ist. Schöne Sache, Herr Albrecht. Weitermachen!
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