Herz aus Finsternis
Wunderkind oder One-Hit-Wonder? Nick McDonell, Autor von "Zwölf", veröffentlicht seinen zweiten Roman: "Der dritte Bruder"
Von Stefan Mesch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn dem Alter, in dem andere Jungs Ballerspiele spielen, Drogen nehmen und ihre Klassenkameraden erschießen, blieb der 17-jährige Nick McDonell brav daheim und arbeitete an "Twelve", einen Roman über Jungs, die Ballerspiele spielen, Drogen nehmen und ihre Klassenkameraden erschießen. Das gefiel den Feuilletons, das gefiel Elke Heidenreich, auch Harald Schmidt war recht euphorisch: "Das ist ein Buch, das wirklich ein tolles Tempo hat."
McDonell, geboren 1984, berichtete in seinem Debütroman in ultrakurzen Kapiteln aus dem Alltag der ultraabgefuckten Söhne und Töchter des New Yorker Geldadels: Designerklamotten, Designerdrogen und eine Silvesterparty, auf der ein paar Waffennarren plötzlich Amok laufen. Das war nicht wirklich originell, aber angenehm glatt, kühl und zurückgenommen erzählt. Englischlehrer, die in den 80ern von "Fegefeuer der Eitelkeiten" schockiert waren und in den 90ern über "American Psycho" den Kopf schüttelten, hatten endlich ein Buch zur Hand, das stromlinienförmig und ironiefrei genug war, um als Schullektüre zu taugen: "Erschreckend, diese innere Leere!", konnten sie seufzen, "immer nur Drogen und Ballerspiele, das zeigt erst richtig, an welchem Abgrund die US-Gesellschaft eigentlich steht!" Dass besagte Gesellschaft dort schon seit über zwanzig Jahren steht, und schon ebenso lang unterkühlte Bücher veröffentlicht werden, die davon berichten, interessierte die Moralisten nicht weiter: Avantgarde ist, was du daraus machst!
Sein Können bewies der literarische Shooting-Star vor allem in kleinen, punktgenauen Beobachtungen. Momente, in denen die Musik aussetzt, alles in Zeitlupe abläuft und die Figuren plötzlich mehr über sich verraten, als ihre glatte Fassade vermuten ließ. Prägnant an "Zwölf" waren nicht etwa die Amoklauf-Passagen, sondern Stellen, in denen sich White Mike, der gefühlskalte Protagonist, an seine Kindheit erinnert. Die Passage, in der der halbwüchsige Dealer in der Küche sitzt und Cheerio-Cornflakes ist, bricht einem fast das Herz: "Dann ging das Karussell los [...], und alle [Kinder] versuchten, nach dem goldenen Ring zu greifen, auch die gute Phoebe, und ich hatte irgendwie Angst, dass sie von dem verfluchten Pferd fiel, aber ich sagte nichts und tat auch nichts. Wenn Kinder nach dem goldenen Ring greifen wollen, muss man sie auch lassen und darf nichts sagen. Wenn sie runterfallen, fallen sie eben runter, aber es ist schlecht, wenn man ihnen was sagt." Stopp. Das war nicht McDonell, sondern J.D. Salingers "Fänger im Roggen". Läuft aber auf dasselbe raus.
Auch "Der dritte Bruder", McDonells neuer Roman, stellt eine Figur namens Mike in den Mittelpunkt: ein19-jähriger Harvardstudent, der im Sommer 2000 ein Zeitungspraktikum in Hongkong macht. Der Job wurde ihm von seinem Vater vermittelt, durch dessen alte Harvard-Connections. Für Mike ist das okay. Denn anders als in "Zwölf" geht es dieses Mal nicht um die Abgrenzung zur Elterngeneration: Wenn sich McDonells Protagonist an die protzigen Dinnerabende in der Stadtwohnung am Central Park erinnert oder an Thanksgiving im Strandhaus auf Long Island, beschleicht ihn nur noch ein vages, ungutes Gefühl. Den passenden Moment für die Rebellion hat der Musterschüler längst verpasst.
Umso zentraler deshalb die Rolle der Familie im Roman. In erneut ultrakurzen Kapiteln berichtet ein auktorialer Erzähler vom Alkoholmissbrauch des Vaters und der Tablettensucht der Mutter und allen leisen Misstönen, die Mike und sein großer Bruder Lyle als Kind auffingen, ohne sie einordnen zu können. Auf der zweiten Zeitebene wird der erwachsene Mike nach Bangkok geschickt, um O-Töne für eine Reisereportage über Rucksacktouristen zu sammeln. Nebenbei soll er Christopher Dorr aufspüren, einen Journalisten, der zu Harvard-Zeiten Teil der Clique seines Vaters war. Also quartiert sich Mike in der Khao San Road ein, der Partymeile Bangkoks, und lässt sich durchs Nachtleben treiben.
Auch in diesem Roman ist es also nicht das - bereits arg überstrapazierte - Setting, mit dem McDonell überzeugt. Sondern die Momente, in denen plötzlich poetische Funken sprühen, zwischen dem vermeintlich banalen Helden und seinem vermeintlich banalen Umfeld: "[Der Kellner] schlenderte zur Küche zurück, und plötzlich überflutete mich eine warme Woge des Glücks. Das Sonnenlicht fiel auf die Straße. Ein Mann baute auf dem Gehweg seinen Stand auf und arrangierte seine Schwarzkassetten in ordentlichen Reihen. Neben ihm schnitt ein kleines Mädchen eine Ananas auf; sie schälte die raue Schale in ordentlichen Spiralmustern ab. Ein noch kleineres Mädchen dahinter hielt mit einem Lappen die Fliegen in Schach. Ich zündete mir die zweite Zigarette des Tages an. Ich wollte sie nicht, aber ich hatte das Gefühl, genau das müsse jetzt sein." Halt, Augenblick. Diese Khao San Road-Beschreibung stammt nicht von McDonell, sondern von Alex Garland aus "Der Strand". Doch das nimmt sich nicht viel.
Natürlich darf man nicht jedes Mal gleich von "Hemingway'schen Kurzsätzen" schwärmen, wenn ein Jugendroman sprachlich simpel bleibt; und auch "Videoclipästhethik" wird allmählich zur Worthülse. Aber es sind nun mal genau diese poetischen, fast neoromantischen Momente, die McDonells Romane tragen: eine leise Sehnsucht nach der Kindheit, manifestiert in kargen, klaren Bildern. Jedes weitere Adjektiv wäre eines zu viel, jede weitere Selbstreflexion ließe die Geschichte implodierten. Nick McDonell teilt sich genau ein, wann er leuchten, strahlen, schwärmen darf. Und wann es besser ist, an der Oberfläche zu verharren. Etwa acht bis neun kitschig-prätentiöse Momente pro Seite scheinen ihm ein vernünftiges Maß zu sein.
Und deshalb kann man mit "Der dritte Bruder" eine Menge 17-Jähriger sehr glücklich machen. Vorausgesetzt, es ist ihr erstes Buch aus dieser Ecke - wer das Coming-of-Age-Genre bereits kennt, wird McDonells Zweitroman nicht viel abgewinnen können. Zum einen wirken die Motive zu holzschnittartig und forciert: Blickkontakt mit einem ernsten, wunderschönen Thai-Mädchen auf einem Motorrad, ihr nacktes Baby im Arm, und für ein paar Sekunden steht auf einer flirrenden, mörderischen, schreiend lebendigen Straßenkreuzung im Moloch Bangkok die Zeit still - das ist schon sehr gewollt.
Zum anderen wirken alle diese Momente arg zusammenhanglos aneinandergereiht: Mike irrlichtert durch Bars und Clubs, Kaschemmen und versiffte Privatwohnungen und ärgert sich über die müden Klischees, aus denen sich das Nachtleben der Stadt zusammensetzt. Der Leser folgt Mike auf seinen Streifzügen und denkt dasselbe: "Klischee!". Und zwar nicht über Bangkok, sondern über das Buch. Spätestens als Mike endlich Christopher Dorr gegenübersteht, dem durchgedrehten Auslandsberichterstatter: "Ich fand ihn, und hätte er mich nicht kommen gehört, so wäre ich obendrein noch über ihn gestolpert; doch er war rechtzeitig aufgestanden. Er erhob sich unsicher, lang, blass, vage, wie ein der Erde entströmender Dampf, und schwankte sacht, nebelhaft und schweigend vor mir, während hinter mir die Lagerfeuer drohend zwischen den Bäumen aufloderten. [...] 'Sie werden verloren sein', sagte ich - 'restlos verloren.'" Nein, wieder nicht "Der dritte Bruder", sondern Joseph Conrad: "Herz der Finsternis"; die Romanvorlage zu "Apocalypse Now". Je tiefer man in McDonells Roman vordringt, desto stärker verkommt die Lektüre zum bloßen Zitate-Raten.
Das wäre nicht schlimm, wären diese Zitate so ökonomisch und unaufdringlich miteinander verwebt wie die Storylines aus "Zwölf". Doch dieses Mal sind Plot und Figuren einfach zu dürftig, um den Kitsch-Overkill auszugleichen. Mikes Tour de Force durch Bangkok (und später New York) krankt an ihrer Drag'n'Drop-Dramaturgie, der dürren Copy-and-Paste-Schreibe: McDonells Thailand ist so windschief wie die Kulissen eines Schülertheaters, das die besten Szenen aus Oliver Stones Vietnam-Filmen nachspielt, ohne Zusammenhang, ohne Esprit. Und natürlich wird die schöne Prostituierte zum Schluss von der korrupten Polizei erschossen. Und natürlich werden tote Babys in Reisfeldern verscharrt. Und natürlich wird Mike am Ende dieses Sommers ein Mann sein und mit einem neuen, abgeklärten Blick über das Trümmerfeld seiner Kindheit schreiten. Und dann springt die Handlung um ein Jahr nach vorn, und der Himmel über Manhattan ist blau, blau, viel zu blau an diesem Morgen. Nur Bruder Lyle hat hellen Staub im Gesicht kleben: "Sag mal, schneist du; oder ist das die Asche, die aus brennenden Wolkenkratzern rieselt?"
Über die 9/11-Passagen gibt es nicht viel zu sagen. Handwerklich sind sie okay (und von Übersetzer Thomas Gunkel gewohnt souverän ins Deutsche übertragen). Für die Dramaturgie des Romans sind sie indes völlig verzichtbar: ein weiter Showeffekt, eine weitere billige Kulisse. Es gibt wenige Romane, die derart selbstzweckhaft vom 11. September 2001 Gebrauch machen.
"Der dritte Bruder" beginnt durchwachsen und wird anschließend mit jeder Seite ärgerlicher. Die Flashbacks aus der Kindheit führen ins Nichts, die Erzählstimme kippt von "er" zu "ich", einfach, weil das zum Ende hin bessere Effekte ermöglicht, und der Plot reiht Katastrophen aneinander, ohne dass sich ein stimmiges Bild ergeben will. Alle Reizthemen und schicken Motive der jungen US-Literatur sind vorhanden: Elternbiografien voller düsterer Geheimnisse, Teenagerleben voller Horror Vacui, attraktive Schauplätze und jede Menge Angst, vor Terror, Globalisierung, Bindung, Entfremdung und Verlust. Eine Gesellschaft am Abgrund und schöne junge Menschen, die eines Tages aufwachen und begreifen, dass sie das selbe hohle Leben führen wie ihre reichen, unglücklichen Eltern.
"Let's slide down the surface of things!", sagt sich Mike und kämpft sich weiter. So lange, bis sich sein Blick in den Dingen verhakt, und sie plötzlich wieder durchbricht, diese alte, amerikanische Sehnsucht: "An dem Tag ist mir klar geworden, dass hinter allen Dingen Leben steckt. Und diese unglaublich gütige Kraft, die mich wissen lassen wollte, dass es keinen Grund gibt, Angst zu haben. Nie wieder. Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie fast nicht ertragen kann. Und mein Herz droht dann, daran zu zerbrechen" - der Plastiktüten-Monolog aus "American Beauty" bringt das Elend auf den Punkt: Ein solches Bild gelingt nur, wenn es nicht ständig wieder aufs Neue aufgebrüht wird. Deshalb benutzten die Profis - Ethan Hawke, Chuck Palahniuk oder Stephen Chbosky in seinem wunderbaren Coming-of-Age-Roman "Vielleicht lieber morgen" - diese Technik nur ein, zwei Mal pro Buch. McDonell dagegen tut nichts anderes: Plastiktütenprosa. Eine zähe Nummernrevue bittersüßer Beobachtungen mit übergroßem Symbolgehalt, klebrig und prätentiös. Ein Roman, so existenziell und bedrückend wie der Endmonolog einer High-School-Serie, in der gerade ein 17-Jähriger seine Klassenkameraden erschossen hat:
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