Bedrohliche Natur
Zu Christoph Ransmayrs Roman "Der fliegende Berg"
Von Thomas Neumann
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Ich starb 6840 Meter über dem Meeresspiegel am vierten Mai im Jahr des Pferdes. Der Ort meines Todes lag am Fuß einer eisgepanzerten Felsnadel, in deren Windschatten ich die Nacht überlebt hatte. Die Lufttemperatur meiner Todesstunde betrug minus 30 Grad Celsius, und ich sah, wie die Feuchtigkeit meiner letzten Atemzüge kristallisierte und als Rauch in der Morgendämmerung zerstob."
Mit diesen Zeilen beginnt der neue Roman von Christoph Ransmayr. Der Protagonist kommt zu Beginn der Handlung in einer extrem menschenfeindlichen Natur zu Tode und es scheint dem Leser, als sollte in der Folge die Geschichte hinter diesem Tod zu klären sein.
Ransmayr hat lange an dem Buch gearbeitet. Oder besser gesagt: Es brauchte lange Zeit, um den jetzt vorliegenden Text zu formen. 1999 hatte er Teile der Geschichte öffentlich vorgetragen. In einem Interview formulierte er zur Entstehungsgeschichte des Romans: "Das erste Kapitel war schon vor zehn Jahren bis auf ganz wenige Änderungen fertig - so wie es jetzt im Buch steht." In den letzten zehn Jahren haben kleinere Projekte die Fertigstellung verhindert. Reisebereichte entstanden aus den ausgedehnten Exkursionen, die Ransmayr in dieser Zeit unternommen hat, u. a. Brasilien, Laos und Tibet. Destillate davon findet man im vorliegenden Roman.
Die Handlung ist schnell beschrieben: Es ist die Geschichte von zwei Brüdern, dem Erzähler und seinem Bruder Liam. Der Erstere ist ein erfahrener Seemann, der Zweite ein erfolgreicher Programmierer, der sich auf eine kleine Insel vor der Küste Irlands zurückgezogen hat und dem sein Bruder in diese Einsamkeit folgt. Beide verbindet die Kindheit in Irland, geprägt durch den Verlust der Mutter, die den Vater wegen eines anderen Mannes verlässt, und die exzessiven Berg- und Klettertouren des Vaters mit den beiden Söhnen in den Hügellandschaften Irlands. Beide finden sich nach dem "Ausstieg" aus ihren Berufen auf einer kleinen irischen Insel zusammen, beginnen wieder gemeinsam zu klettern und machen sich letztendlich nach Tibet auf, um einen mehr oder weniger unentdeckten Berg zu besteigen. Bei den Vorbereitungen zur Ersteigung des Berggipfels und auf dem Weg dorthin verliebt sich der Erzähler in Nyema, eine Frau aus einem Nomadenclan, der die Reise der beiden Brüder bis zum Berg begleitet. Auf der Tour zum Gipfel des "fliegenden Berges" kommt Liam, der Bruder des Erzählers, entgegen der Behauptung im einleitenden Satz des Buches, in dem der Erzähler seinen eigenen Tod konstatiert, um. Das Buch endet auf der irischen Insel mit der Auflösung des Besitzes von Liam und der hoffnungsvollen Perspektive des Erzählers, der zu seiner Geliebten nach Tibet zurückkehren will.
Die von Ransmayrs Texten bekannte Erzählsituation des Romans, die übersichtliche Personenkonstellation und die relativ stringente Handlungsführung offenbaren nur auf den ersten Blick eine einfach strukturierte Erzählung. Auf den zweiten Blick wird aus der vermeintlichen Einfachheit eine besondere Form der Universalität, eine übergreifende Allgemeingültigkeit. Ransmayr erzählt dem Leser eine Fabel, die in ihrer Komplexität Raum für viele Interpretationen lässt. "Noch Liams astronomische Beobachtungen, die er mit computergesteuerten Teleskopen betrieb, erinnerten mich manchmal daran, daß selbst mit Präzisionsinstrumenten nach Welten Ausschau gehalten wurde, die vielleicht nirgendwo anders zu finden waren als in unserem Kopf." Dabei kann sich der Leser überlegen, ob es sich um eine nahe am Kitsch gelegene Geschichte handelt, ob der Berg in der Fabel des Romans eine "sakrale Bedeutung" einnimmt oder ob es sich um einen Roman handelt, der ein allumfassendes "Erhabenheitskonzept" vertritt. Auch autobiografische Details aus dem Leben des Autors, etwa die Freundschaft mit Reinhold Messner, mit dem er in Tibet auf nahezu die gleiche Höhe stieg wie die beiden Brüder im Roman, oder die Geschichte von Reinhold Messner und seinem Bruder Günther, der nach einer gemeinsamen Besteigung des Nanga Parbat zu Tode kam, liefern Interpretationsansätze, zielen aber an der Substanz des Buches vorbei. Letztendlich ist es die Erzählung von einer individuellen Herausforderung, die zur persönlichen Erkenntnis oder Selbstfindung führen kann - wie bei dem Erzähler - oder zum persönlichen Scheitern, zum Tod - wie bei Liam. Weitere Sinnstiftungskonzepte mag man hinzudeuten oder dem Autor zurechnen. Reduziert man aber den Roman auf dieses "Gerüst", könnte man kaum von einem interessanten Buch sprechen: man würde es in die Nähe der Banalität rücken.
Beginnt man mit der Lektüre, ist es aus der Perspektive des Lesers zuerst die typografische Gestaltung des Textes, die ins Auge fällt. Der Text ist im Flattersatz formatiert. Um die Irritation dessen abzufangen, stellt Ransmayr seinem Buch eine "Notiz am Rand" vorweg, die Auskunft darüber gibt, warum er dem besonderen Satz seines Romans wohl mehr als nur marginale Bedeutung zugesteht: "Seit die meisten Dichter sich von der gebundenen Rede verabschiedet haben und nun anstelle von Versen freie Rhythmen und dazu einen in Strophen gegliederten Flattersatz verwenden, ist da und dort das Mißverständnis laut geworden, bei jedem flatternden, also aus ungleich langen Zeilen gestehenden Text handle es sich um ein Gedicht. Das ist ein Irrtum. Der Flattersatz - oder besser: der fliegende Satz - ist frei und gehört nicht allein den Dichtern."
Dies ist für einen Roman ungewöhnlich und erinnert allgemein an die klassischen Texte in Versform, im Besonderen an Ransmayrs Roman "Die letzte Welt" und dessen "Vorlage", an Ovids "Metamorphosen". Es ist also kein Gedicht, das man liest, sondern freie, ungebundene rhythmische Prosa. Ist diese Präsentationsform etwas gewöhnungsbedürftig, mag sie unberechtigterweise den einen oder anderen verschrecken, erlaubt sie doch auch ein anderes Lesen des Textes: Die Zeilenenden und optischen Pausen in den Sätzen, die wiederum noch durch Leerzeilen in Abschnitte unterteilt sind, die auch satzteilend gesetzt werden, betonen die Melodie und den Rhythmus der Prosa.
Liest man sich einmal ein paar Seiten selbst vor, versucht es vorzutragen, kann man ein Gespür für die Melodie von Worten spüren, gewinnt man einen Eindruck von dem Begriff Sprachmelodie. So kann der Text auch anders gelesen werden: als Erzählen der Welt und als Neustrukturierung der Wirklichkeit durch die Macht des Erzählens. Ein Bild dafür findet der Autor zum Ende des Buches: "Zweiundsiebzig Bilder wurden es schließlich, die ich ordnete, neu und noch einmal neu gruppierte, und dabei auf den Knien umherkroch wie in der Hoffnung, Bild für Bild würde sich dadurch aus der Erinnerung, aus der Zweidimensionalität erheben und protestieren gegen die unumkehrbare Richtung der Zeit."
Erst zum Ende der Erzählung klärt sich die Eingangsfeststellung des eigenen Todes des Erzählers. Er berichtet aus seinen Träumen, in denen er sich für den Tod seines Bruder verantwortlich fühlt: "Ich habe meinen Bruder getötet." Und damit ist man wieder am Beginn der Erzählung, als das Ableben des Erzählers konstatiert wird - und bei der Fortsetzung des Erzählens. Geschichte, Handlung, Personen, Plot - alles tritt hinter den Duktus des Erzählens zurück und man ist an die für Kinder ewig fortdauernden und endlos langen Märchen des Orients und an ihre Erzähler erinnert. Einen besonderen Eindruck davon vermittelt die vom Autor gelesene Hörbuchedition des Buches.
Ransmayr hat seinen "Strom des Erzählens" mit dem "fliegenden Berg" fortgesetzt. Er hat ein Stück Prosa geschrieben, das noch lange im Ohr des Lesers nachklingt und zu dem Teil Literatur gehört, der im Bücherschrank verbleibt.
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