Ohne jedes Pathos

Martin Doerry spricht mit 24 Überlebenden des Holocaust

Von Almut VierhufeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Vierhufe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"'Überlebender' ist ein furchtbares Wort." Gila Lustiger, Tochter von Arno Lustiger, bescheinigt dem Begriff Unerbittlichkeit. Er charakterisiere die Menschen, die der physischen Vernichtung entkommen sind, in einer Weise, die dem Leben nach dem Holocaust nicht gerecht werde: "Es klammert den Menschen aus der Gesellschaft aus, auch aus der Gegenwart in Deutschland. Es legt ihn auf einen historischen Moment fest und auf eine einzige Tätigkeit, die des Überlebens. Es wischt sein gesamtes Leben aus, davor und danach. Mit diesem Wort kommt einer aus dem Lager nie heraus." Einige der "Überlebenden" weigern sich gar, mit diesem Wort etikettiert zu werden: "Ich bin kein Überlebender", "Damit habe ich gar nichts zu tun", sagen Georges-Arthur Goldschmidt und Heinz Berggruen mit dem Hinweis, als "Überlebende" dürften nur diejenigen benannt werden, die einem KZ entkommen seien. Auch Imre Kertész und Edgar Hilsenrath wehren sich gegen die weitverbreiteten und häufig so bemüht wirkenden Klischees und Schemata sowie gegen jene Betroffenheitsrhetorik, die jeden literarisch-grotesken oder gar humorvollen Zug im Sprechen und Schreiben über die Shoah verbietet.

Gar nichts Schematisches oder Gezwungenes zeigen jedoch die 24 Gespräche mit "prominenten", aber auch weniger bekannten "Überlebenden" des Holocaust, die Martin Doerry, Historiker und stellvertretender Chefredakteur des "Spiegel", und die Fotografin Monika Zucht in diesem Band dokumentieren. Titel und Untertitel des Buchs wecken falsche Erwartungen, denn es hieße, den Inhalt der Gespräche zu verfremden, wolle man ihn auf das Berichten und Nacherzählen der Lebensgeschichten reduzieren. Tatsächlich werden die persönlichen Erlebnisse, die unglaublich anmutenden Umstände und Zufälle, die das buchstäbliche Überleben ermöglichten, manchmal nur en passant erwähnt. In der völlig unaufgeregten, unpathetischen, sachlichen, vor allem aber ganz offenen Art der Interviews (was nicht zuletzt auch an Doerrys unbefangener und unverkrampfter Gesprächsführung liegt) bekommt der Leser vor allem - und hierin liegt der große Wert des Buchs - einen Einblick in die Möglichkeiten, nicht nur zu überleben, sondern zu leben und als Zeuge der Vergangenheit und der Gegenwart wahrgenommen zu werden, wie Gila Lustiger es einfordert.

Alle Gespräche öffnen ein weites Panorama von politischen wie gesellschaftlichen Aspekten, Fragen und Problemen: So geht es um Kunst ("Was war Picasso für ein Mensch, Herr Berggruen?") und Literatur, etwa um das fehlende Verständnis des Lesepublikums für grotesk, humor- und kunstvoll stilisierte "Auschwitz-Kompositionen" (Imre Kertész, Edgar Hilsenrath). Thematisiert werden "alter" und "neuer" Antisemitismus und Israelkritik (Ruth Klüger, Alfred Grosser, Adam Daniel Rotfeld), der Umgang der Bundesrepublik mit Nazivergangenheit und Holocaust 60 Jahre nach Kriegsende (Anita Lasker-Wallfisch), (europäischer) Sozialismus und Kommunismus (Inge Deutschkron, Lenka Reinerová, Oldrich Stránský), ästhetische Betrachtungen zum Berliner Holocaust-Denkmal (Alfred Grosser) und die "Vertriebenendebatte" (Adam Daniel Rotfeld) - um nur einige Punkte zu nennen. Die Außergewöhnlichkeit ihrer Erfahrungen ermöglicht es den Interviewten, wie Doerry in seinem Vorwort schreibt, einen ganz anderen, nämlich geschärften und auch unverstellten Blick auf brisante, nicht nur politische Debatten zu werfen.

Verblüffend ist die sachliche Bewertung der Erfahrungen in Nazideutschland, wenn die grausamsten Erlebnisse schlicht als "absurd" (Kertész) bezeichnet werden. Ebenso verblüffend ist die Lakonik, ja Zurückgenommenheit der Erzählenden und der Humor und Witz, der in fast allen Gespächen spürbar ist: Ruth Klügers Sohn hat - in ihren eigenen Worten - ihre Autobiografie "weiter leben" (1992) an seine Freunde "wie Gummibärchen" verteilt, sie selbst wolle nicht mit berühmten Namen angeben (!), weil sie sich nicht sicher sei, ob sie in Auschwitz bei der Selektion tatsächlich Mengele gegenübergestanden habe, Albert O. Hirschmann erklärt seine Weigerung, eine Autobiografie zu schreiben damit, er halte dies für das endgültige Eingeständnis der Tatsache, dass einem die Ideen ausgegangen seien.

Leider passen die aus den Interviews entnommenen Zitate, die Martin Doerry den Gesprächen jeweils als Überschriften voranstellt, oft nicht zum Inhalt des Gesprächs, da sie - dem Kontext entrissen - einen Hang zum Pathos zeigen. Das wird dem Charakter der Gespräche nicht gerecht. Auch Doerrys Einleitung, die in einzelnen Passagen durch Wortwahl, "Stimmungsadjektive" und rhetorische Fragen in Betroffenheitsstil verfällt, irritiert mit der Thematisierung des "Authentizitätsproblems" innerhalb von Memoiren und autobiografischen Berichten, das aber bei den verschiedenen Möglichkeiten des nicht nur biografischen Schreibens und Erzählens über die Shoah völlig unerheblich ist. Die Inhalte der in diesem Band dokumentierten Interviews sprechen für sich und zeitigen zusammen mit den Porträtaufnahmen (von Monika Zucht) nachhaltige Wirkung.


Titelbild

Martin Doerry: "Nirgendwo und überall zu Haus". Gespräche mit Überlebenden des Holocaust. Mit Fotografien von Monika Zucht.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
262 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3421042071

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