Erzählen, was in Guantanamo vor sich geht

Der Franzose Nizar Sassi berichtet über seine Erlebnisse im US-Gefangenenlager

Von Gerhard MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Gerhard Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Diese Veröffentlichung ist nicht wegen der literarischen Qualität bemerkenswert, sondern wegen ihres Inhalts. Es handelt sich um Dokumentarliteratur (wie es sie ja, unterschiedlichen Gehalts, seit langem gibt), um einen Erfahrungsbericht. Was aber berichtet wird und ans Tageslicht kommt, das ist tatsächlich berichtenswert und unerhört - oder: Was Nizar Sassi aus eigenem Erleben erzählt, das musste erzählt werden. Solche Erfahrungsberichte sind unersetzlich, und sie sind den Opfern geschuldet. Im "Epilog" heißt es: "Ich habe dieses Buch geschrieben, um ein Versprechen zu halten. Als ich aus Guantanamo fortging, haben mir meine Mitgefangenen gesagt: 'Nizar, erzählt der Welt, was hier vor sich geht.'"

Sassi wurde 1979 als zweites von sieben Kindern in Lyon geboren. Die Familie kommt aus Tunesien und lebt in einfachen Verhältnissen. Nach seiner Ausbildung in der Kunststoffverarbeitung arbeitete Sassi als Wachmann, als Fahrgastbetreuer, danach als Parkplatzwächter in Vénissieux, einem Vorort von Lyon. Im Sommer 2001 reiste er nach Afghanistan, kam kurz nach dem 11. September in die Gewalt der Amerikaner und wurde nach Guantanamo verbracht. Rund drei Jahre war er dort gefangen. Seit seiner Freilassung im Januar 2006 ist er als Lagerist in Lyon tätig.

Anfangs wird das einfache Leben der Familie Sassis geschildert ("Stille Tage in Les Minguettes") und seine Jugend mit der sich anschließenden Ausbildung und den ersten beruflichen Tätigkeiten. Im Jahr 2000 will er sich neu orientieren, womöglich in den Polizeidienst eintreten. "Die Typen von der Polizei kenne ich gut. [...] Außerdem bin ich ein leidenschaftlicher Waffennarr. Das ist eine Sache, die mich schon lange fasziniert."

So wird das Motiv Sassis, später nach Afghanistan zu reisen, eingeführt. Ein zweites kommt hinzu: Er lernt einen "praktizierenden Muslim" kennen, und dieser vermittelt die Reise nach Kandahar. Das Interesse für Waffen und Schießen gewinnt die Oberhand ("Die Religion ist nicht gerade meine Stärke. Ich glaube an Gott, aber das ist auch schon alles"). Sassi nutzt gutgläubig seinen Sommerurlaub 2001 für seinen Abenteuerreise: In Afghanistan gibt es, so wird ihm versichert, die Möglichkeit, an Waffen zu kommen und zu schießen. Über London fliegt er nach Islamabad, unter konspirativ wirkenden Umständen bringt man ihn zunächst nach Dschalalabad. Rückblickend gebraucht er den Ausdruck "Schlepper". Schließlich kommt Sassi auch an die ersehnten Waffen, im Lager Al Walid. "Die erste Woche kommt mir endlos vor. Abgesehen von den glücklichen Momenten, in denen ich die Kalaschnikow in Händen halte, langweilige ich mich entsetzlich. [...] Ich verschmelze vollständig mit der Kalaschnikow. Mich durchströmt ein unbeschreibliches Glücksgefühl."

Die Lagerordnung ist streng, Strapaze reiht sich an Strapaze. "Man fordert von uns blinden Gehorsam und bestraft jeden Verstoß. [...] Bei einigen meiner Ausbildungskameraden weiß ich, dass sie anders motiviert sind. Einige sind tatsächlich hier, um kämpfen zu lernen, bevor sie nach Tschtschenien, Kaschmir oder zu den Taliban weiterziehen." - Dieser Aspekt wird nicht problematisiert (womöglich auch nicht im Hinblick auf andauernde juristische Auseinandersetzungen des Erzählers), das Thema konzentriert sich auf Sassis persönlichen Weg.

Sassi will bald wieder zurück, doch die "Falle" schnappt zu. Schon einige Tagen nach den Attentaten vom 11. September 2001 greift das US-Militär an, und auf Afghanistan fallen Bomben. Sassi wird jetzt klar, dass er sich im Umkreis von Al Qaida befindet: "Wie ich es auch drehe und wende, es wird nicht leicht sein zu erklären, dass ich mit diesen Terrorismusgeschichten nichts zu tun habe. Ich sitze ganz schön in der Scheiße." So seine erste Bilanz, rückblickend formuliert.

Es folgt der Versuch, das Land zu verlassen und nach Pakistan zu kommen, über Tora Bora, unter lebensgefährlichen Umständen. In Pakistan werden sie verraten, gegen Kopfgeld den Amerikanern ausgeliefert. Jetzt beginnt die Kette der Misshandlungen und Demütigungen, die sich bis zur Gefangenschaft in Guantanamo fortsetzen wird. Die gut ausgerüsteten und trainierten US-Soldaten fallen über die Gefangenen her: "Einer nach dem anderen wird ins Innere geführt. [...] Es ist Zeit für die erste Tracht Prügel. An die zehn Männer stehen um mich herum. Es hagelt Schläge, Fausthiebe, Fußtritte. Ich werde zu Boden geworfen, stehe wieder auf, falle wieder hin. Sie stellen sich zu mehreren auf meinen Rücken [...]." Sassi wird jetzt zur Nummer. Verhöre folgen, immer wieder Misshandlungen, Sassis spricht von "Folter". Eine Delegation des Roten Kreuzes bewirkt nichts.

Die Amerikaner fliegen die, die ihnen in Pakistan in die Hände gefallen sind, nach Guantanamo. Nach der Landung des Flugzeugs neue Prügelorgien. "Im nächsten Augenblick stürzen sich Hunde auf mich [...]. Die Tiere sind perfekt dressiert: Sie versetzen uns durch ihre Bisse in Angst und Schrecken, ohne je richtig ins Fleisch zu beißen. Es darf kein Blut fließen. Trotzdem tut es höllisch weh. [...] Das Schlimmste ist überstanden. Gut, ein Kerl glaubt, dass er unbedingt auf mich pinkeln muss. Aber in meinem momentanen Zustand ist mir das auch schon egal."

Und so weiter, mehr als dreißig Monate lang. Weitere Zitate, auch zu Schlimmerem, sind wohl nicht nötig. Über die inhumane und menschenrechtswidrige Praxis, der sich die US-Regierung in Guantanamo schuldig gemacht hat, ist mittlerweile vieles bekannt und dokumentiert. Sassis schildert sein Leben im "Käfig" verhalten; die Emotionen werden unterdrückt, er lässt die Tatsachen sprechen. "Im Verlauf meiner Umzüge von Käfig zu Käfig werde ich viele Kämpfer kennenlernen. [...]. Die Kämpfer stellen die große Mehrheit der Insassen, aber ich begegne auch einigen 'Irrläufern', Leuten, die von ihren Nachbarn als Taliban denunziert wurden, damit sie das Kopfgeld einstreichen konnten [...]." Zahlreiche Verhöre folgen, Sassi kann aber nicht Einschlägiges angelastet werden.

Nach Jahren wird er endlich den französischen Behörden übergeben. Seine Familie und Freunde am französischen Heimatort hatten viel für ihn getan, besonders sein Bruder Aymane gab ihn nie auf. Doch nach der Ankunft in Frankreich wartete wieder das Gefängnis auf ihn, u. a. in Paris; die französischen Behörden verdächtigen ihn trotz allem der Zugehörigkeit zu Al Qaida, also terroristischer Aktivitäten. Noch im Sommer 2006, nach Veröffentlichung dieses Buches, stand Sassi mit anderen vor Gericht.

Sassis Bericht endet mit der Rückkehr nach Lyon im Januar 2006 und dem Dank an die, die sich für seine Freilassung eingesetzt hatten. Im "Epilog", aus dem ich schon zitiert habe, sagt er noch: "Ich bin jetzt ein gebranntes Kind und scheue das Feuer. Ich habe einen Fehler gemacht. Ich habe auf jemanden gehört. Ich habe geglaubt, was er mir erzählt hat. (Hier spielt Sassi auf den Kontaktmann an, der ihm die Möglichkeit des Schießens in Afghanistan schmackhaft gemacht hat.) [...] Ich war ein Draufgänger. [...] Ich übernehme jetzt die Verantwortung für meine Handlungen und jedes einzelne meiner Worte. [...] Jetzt werde ich wieder anfangen zu leben."

Nach einem Medienbericht vom 4. August 2006 über den "Horror von Guantanamo" - auch freigelassene Briten hatten über Misshandlungen geklagt - kündigten zwei französische ehemalige Häftlinge an, die USA auf Schadenersatz zu verklagen: "Meine Mandanten sind entschlossen zu kämpfen, sagte ihr Anwalt Jacques Debray. [...] Sie würden sehr wahrscheinlich juristische Schritte gegen die Vereinigten Staaten einleiten." Debrays Mandanten sind Mourad Benchellali und Nizar Sassi.

Auf die Rolle von Guy Benhamou ist noch zu sprechen zu kommen. Sein Name taucht nur auf der Titelseite des Buches auf, doch scheint ihm die eigentlich Verfasserschaft zuzukommen. Aufbau und Stil dieses Berichts eines ehemaligen Guantanamo-Häftlings sind durchaus literarisch (wenn auch im Sinne von Schlichtheit stilisiert) und können kaum einem Mann von der Ausbildung und Berufskompetenz wie Nizar Sassi zugeschrieben werden. Schon der Duktus der Zitate, wie ich sie dieser Rezension eingefügt habe, weist darauf hin. Hier haben andere Sassis Leidensweg literarisiert (die französische Ausgabe erschien unter dem Titel "Prisonnier 325, Camp Delta. De Vénissieux à Guantanamo", Éditions Denoël), und die Authentizität ist sehr vermittelt. Ein im heutigen Medienalltag üblicher Vorgang. Ist Sassi da ein Vorwurf zu machen? Ihm ist zu wünschen, dass er seine Traumen überwindet, dass sich sein Wunsch nach einem normalen Leben erfüllt - und dass er mit seiner Klage gegen die USA Erfolg haben wird.


Titelbild

Nizar Sassi: Ich war gefangen in Guantanamo. Ein Ex-Häftling erzählt.
Übersetzt aus dem Französischen von Maja Ueberle-Pfaff.
Heyne Verlag, München 2006.
190 Seiten, 14,95 EUR.
ISBN-10: 3453120957

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