Ein "Mittler" zwischen den Kulturen

Stefan Zweigs "Leben und Werk im Bild", herausgegeben von Donald Prater und Volker Michels

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Er ist noch heute einer der meistgelesenen deutschsprachigen Schriftsteller und gehört noch immer auf allen Kontinenten zu den populärsten Dichtern. Neben Kafka, so heißt es, sei er überhaupt der meistübersetzte deutschsprachige Autor des 20. Jahrhunderts. Aber mehr als die Hälfte der Literatur über Stefan Zweig ist nicht in deutscher Sprache verfasst, das meiste ist über ihn in Amerika geschrieben worden. Warum nur hat die deutsche Literaturwissenschaft Zweig und seine Wirkung bisher so vehement ignoriert - trotz der Neuauflagen seiner Werke auf dem deutschen Buchmarkt und trotz der enormen internationalen Leser- und Wissenschafts-Resonanz?

Als Barrieren bei der Anerkennung Zweigs in der deutschen Literaturwissenschaft gelten vorschnelle Urteile über Zweigs politische Haltung im "Dritten Reich" sowie Zweigs künstlerische Leistung selbst. Zu seinen Lebzeiten sahen nicht wenige Emigranten in Zweig "einen heuchlerischen Kollaborateur der Nazis". Die Haltung des distanzierten Beobachtens, wie sie Zweig 1935 in seiner literarischen "Erasmus"-Biografie entwickelt und gerechtfertigt hat, ist ihm zur Last gelegt worden, obwohl diese distanzierte Haltung konkrete Aktivitäten ja nicht ausschloss. Zweig bastelte also an einer Analogie zu seiner Situation, in der es zwei feindliche Parteien gab: Das NS-Regime mit seinem Staatsterror und das Exil mit seinem Widerstand. Die Gründe für seinen Selbstmord 1942 sind auch in dieser immer unüberbrückbarer werdenden Kluft zwischen den eigenen Positionen und Ambitionen und der Möglichkeit ihrer Realisierung gesucht worden. Der Erfolgsschriftsteller, der einst als Repräsentant der Kulturnation Österreich galt, sah sich immer häufiger mit gescheiterten Projekten konfrontiert. Als er den Fall von Singapur und den Vorstoß der deutschen Truppen durch Libyen in Richtung auf den Suezkanal vernahm, schien ihm das die einzige Konsequenz seiner düsteren Hoffnungslosigkeit und Untergangsstimmung zu sein. Postum wurde der von den Nationalsozialisten verfolgte und verfemte jüdische Dichter sogar noch in den 1970er Jahren durch den Vorwurf einer "Anbiederung an den Faschismus" gebrandmarkt. Zweigs Korrespondenz kann ein solches Fehlurteil widerlegen. Aber erst 1988 erschien der Briefwechsel mit Romain Rolland - dieses Quellenwerk kann als eines der wichtigsten Dokumente zur Interpretation der politischen Haltung Zweigs gelten. Denn Rolland wurde von Zweig als engster Gesinnungsgenosse und geistiges Vorbild betrachtet und spielte in gewissem Maße die Rolle eines "Beichtvaters", dem Zweig sich öffnete.

Das andere Hauptargument gegen Zweig ist immer sein Erfolg gewesen, die gemutmaßte Unvereinbarkeit von Popularität und Qualität, von Auflagenstärke und ästhetischem Gehalt. Dieses oberflächliche Bild sieht in der psychoanalytischen Darstellungsweise und in dem Unterhaltungseffekt den Erfolg Zweigs begründet.

Der jetzt von den intimen Stefan-Zweig-Kennern Donald Prater und Volker Michels herausgegebene Band "Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild" kann zu einer objektiven, vorurteilsfreien Beurteilung seines Lebens und Schaffens verhelfen. Diejenigen, die Zweigs literarische Texte gelesen haben, werden dankbar zu dieser Bild-Text-Dokumentation greifen. Aber auch für den Zweig-Spezialisten wird dieses Nachschlagewerk von besonderem Nutzen sein. Etwa 350 Abbildungen aus allen Lebens- und Zeitetappen Zweigs (Porträts des Dichters, von Personen, mit denen er zusammengekommen ist, und von bedeutenden Zeitgenossen, Gruppenaufnahmen, Titelblätter und Illustrationen von Werken, handschriftliche Manuskripte, Zeitungsartikel, Kritiken und Dokumente, Zweigs Domizile und Aufenthaltsorte, Vorträge und Lesungen, Kongresse und Tagungen und vieles andere mehr) sind mit Texten des Schriftstellers aus dessen Briefen, Tagebüchern oder Schriften versehen. Kritische Hinweise der Herausgeber zu den Zweig'schen Selbstzeugnissen fehlen allerdings. Wenn angesichts des umstrittenen Buches "Brasilien - Ein Land der Zukunft" Zweig zitiert wird: "Brasilien ist das größte Experiment unserer Zeit...", dann hätte dieser Brasilien-Illusion doch widersprochen werden müssen.

Als eine der bedeutendsten Stimmen der Wiener Kultur von der Jahrhundertwende bis zum Zweiten Weltkrieg ist Zweigs Wort vernommen worden. Nicht nur als Schriftsteller, als Autor von Novellen und Romanen, von Essays und Biografien, sondern auch als ein unermüdlicher "Mittler" - so Donald Prater im Vorwort - besaß der "Europäer" Zweig eine einzigartige Position in der Geistesgeschichte Europas. Er hat ideelle Brücken geschlagen, eine Kultur in die andere übertragen, Verbindungen hergestellt zwischen Mentalitäten, Sprachen und Meinungen. Die Überwindung nationaler Begrenzungen, der "europäische Gedanke" verlieh seinen Arbeiten über das Literarische hinaus noch eine besondere Dimension. Die persönliche Bekanntschaft oder Freundschaft mit führenden Männern aus vielen Sphären machte ihn zum berufenen Interpreten. Er hat über Dichter, bildende Künstler, Musiker, Theaterleute wie Politiker höchst scharfsinnige Beiträge geschrieben.

Doch die größten Erfolge brachten ihm seine Novellen ein. Gleich die erste Novelle "Brennendes Geheimnis" (1911) erwies sich als ein großer Wurf: Trotz des Fehlens realistischer Details werden hier die verworrenen Gefühle und ungestillten Sehnsüchte der Jugend der Jahrhundertwende wunderbar beschrieben. Der eifersüchtige Knabe, Rechtsanwaltssohn, der unter der Liebelei seiner erotischen Mutter leidet und alsbald den verhassten Verführer attackiert, wird für sein Schweigen gegenüber dem Vater mit der ersehnten Mutterliebe belohnt. Eigentlich haben der Knabe und der Verführer der Mutter, der forsche Baron, das gleiche Verlangen: sie begehren die Mutter und Frau - ein Tabubruch, den Zweig auf zwei Figuren verteilt.

Hier zeigt sich schon ein Grundzug Zweig'scher Erzählkunst: Differenzierte Innenansicht seiner Figuren, behutsame Einfühlung in ihre psychologischen Motive. In einer späteren Novelle "Der Amokläufer" (1922) lässt Zweig den Erzähler sagen: "Rätselhafte psychologische Dinge haben über mich eine geradezu beunruhigende Macht, es reizt mich [...] Zusammenhänge aufzuspüren, und sonderbare Menschen können mich durch ihre bloße Gegenwart zu einer Leidenschaft des Erkennenwollens entzünden [...]" In einer merkwürdigen Verbindung von Sympathie und objektiver Distanz versucht Zweig, dem rätselhaften Verhalten seiner Erzählfiguren auf die Spur zu kommen und vorzudringen zu den Wurzeln ihrer Handlungen und ihrer Leiden. Meist sind die Gestalten einer dominierenden Kraft unterworfen. Eine einzige Leidenschaft, die allmählich ihre ganze Existenz bestimmt, setzt sich gegenüber allen anderen Gefühlsregungen, Bestrebungen und Zielen durch. Indem er eine exemplarische Zusammenschau verschiedener Monomanien vorstellt, gibt Zweig einen Überblick über ihre Formen, Erscheinungsweisen und Auswirkungen. Seine fiktive epische Welt sollte als Kosmos menschlicher Möglichkeiten im Sinne von Balzacs "Comédie humaine" verstanden werden.

Im Mittelpunkt der Zweig'schen Novellen steht die "sich ereignete unerhörte Begebenheit" (Goethe), die dem Geschehen eine unvermutete Wendung gibt und die alltäglichen Vorgänge in ein fremdes Licht taucht, in eine neue, aufschlussreiche Perspektive rückt. Die Technik der unvollständigen und daher ergänzungsbedürftigen Information treibt die Handlung voran und schafft jene dramatische Spannung, die der Gattung der Novelle entspricht. Während in den frühen Novellen innerer Monolog und Dialog gegenüber dem reinen Erzählbericht vorherrschen, bevorzugt Zweig bei den späteren die Konfrontation von Rahmen- und Binnenerzählung, ein Verfahren, das zur Objektivierung und Distanzierung der erzählten Ereignisse beiträgt. Jetzt begegnen uns häufig ausführliche Rückblenden in der Form der Beichte. Die meistens einsträngige Handlung ist in das Innere des Protagonisten verlegt und durch subjektive Wiedergabe emotional angereichert und perspektivisch getönt. Das Eingeständnis gegenüber Dritten, das in der Umsetzung vergangener Handlungen ins Wort den Charakter psychoanalytischer Bewusstmachung annimmt, gehört zu den Konstanten in Zweigs späterer Prosa: so im "Brief einer Unbekannten" (1922), wo die anklagenden Töne sich vordrängen, oder in den "24 Stunden aus dem Leben einer Frau" (1925), wo die Befreiungsgeste ganz in die Aussprache vor einem fremden Zuhörer verlegt ist.

In Petrópolis, seinem brasilianischen Exilort, spielte Zweig mit seiner zweiten Frau Lotte Meisterpartien aus einem Schachbuch, das er gekauft hatte, was der Bearbeitung der "Schachnovelle" (1942) diente, die er gerade entwarf. Diese Novelle spielt an Bord eines Passagierdampfers auf der Nord-Süd-Reise in der Neuen Welt, hat aber eine Binnenhandlung im Wiener Hotel Metropole, das die Welt von gestern repräsentiert, doch der Gestapo als Hauptquartier dient. Hier verbüßt jener Dr. B., der aus "einer hochangesehenen altösterreichischen Familie" stammt, seine Isolationshaft, und zwar mit einem heimlich entwendeten Schachbuch, einer "Sammlung von 150 Meisterpartien", die er nun gegen sich oder mit sich selbst austragen muss. Er wird vom Schachdämon befallen, verfällt in Wahnsinn, wird entlassen und kann auf einem Schiff flüchten. An Bord ist auch der Schachweltmeister Mirko Czentovic, jener "unmenschliche Schachautomat" mit den präpotenten Zügen eines Miniatur-Hitlers, der nur mit einem Brett vorm Kopf spielen kann. Zwischen beiden kommt es zum erbitterten Zweikampf, zum Zusammenprall der Gegensätze: zuerst der allen Zuschauern unbegreifliche Sieg des Dr. B. und dann die Revanche bis zum neunzehnten Zug, bei dem die Welt endgültig auseinander bricht: Czentovic hält sich an die sichtbare Konstellation auf dem Brett, Dr. B. spielt jedoch im Kopf eine andere und unsichtbare Partie - Abbruch des Zweikampfes, ein offenes Ende, das niemand anderes als der Autor beschließt. Wie ein kariertes Schachbrett spaltet sich in dieser wunderbaren Novelle das Selbst des Protagonisten "in ein Ich Schwarz und ein Ich Weiß", die gegeneinander spielen bis zur totalen Vernichtung der eigenen Identität.

Zweigs "Meisternovellen" überzeugen in der Beschreibung der unter der Oberfläche des täglichen Lebens verborgenen Leidenschaften. Diese Kraft verdanken sie entweder dem Umstand, dass sie in der Ich-Form geschrieben sind, oder der Tatsache, dass bei der Verwendung der dritten Person als Erzähler scheinbar eine Identifizierung des Autors mit dem Helden besteht. Der Leser kann erkennen, wie wahrheitsgetreu Zweig die Grenzen des Unbewussten zu umreißen verstand, und er glaubt zu meinen, dass der Autor hier persönliche Erfahrungen enthüllt habe, ein Trugschluss, da seine Novellen so gut wie überhaupt kein autobiografisches Material enthalten. Aber gerade die persönliche Nähe schafft eine Aura der Intimität.

Zweig hat bis zu seinem freiwilligen Abschied von der Welt nie aufgehört, die Ideale von Frieden und Brüderlichkeit zu fördern, auch - wie sein Erasmus - in anderen Menschen die Hoffnung auf einen "Triumph der klaren und gerechten Vernunft über die eigensüchtigen und vergänglichen Leidenschaften" zu stiften. Diese eindrucksvolle Bildbiografie, die ein ebenso plastisches wie kontroverses Bild des Dichters gibt, ja darüber hinaus ein ganzes Panorama europäischer Kultur entwirft, hebt es uns visuell ins Bewusstsein.


Titelbild

Donald Prater / Volker Michels (Hg.): Stefan Zweig. Leben und Werk im Bild.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
362 Seiten, 13,00 EUR.
ISBN-10: 3458349138

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