Gestaltung statt Projektion

Ein kundig aufbereiteter Band berichtet über die eigentümlichen Ausprägungen des tschechischen Kubismus

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Prager Literaturwissenschaftler Jirí Holý bezeichnete die Zeitspanne zwischen 1918 und 1938 als "die glücklichen Jahrzehnte der tschechischen Literatur". In gewisser Weise trifft diese Einschätzung auch auf den Bereich der Bildenden Künste zu. Die 1918 gegründete tschechoslowakische Republik hatte nicht nur das nationale Selbstbewusstsein gestärkt, sondern auch, betrachtet man allein die farbige Triangel der neuen Landesflagge, die Entfaltung der Künste beflügelt. Freilich gab es nationaltschechisch ausgerichtete Kreise, die dieser Entwicklung skeptisch gegenüberstanden. Doch vieles war ungewöhnlich in diesem neuen Staat und auch dessen Präsident Masaryk war kein konventioneller Politiker, sondern ein Professor und Philosoph.

Die Herausgeber Heinke Fabricius und Ludger Hagedorn belegen in ihrer hervorragenden Einleitung im Fall der kubistischen Kunstrichtung die organische Verbundenheit zwischen der tschechischen Vorkriegsavantgarde mit den Strömungen der 1920er Jahre. Legendär waren die Aufsehen erregenden Ausstellungen der Künstlergruppen "Osma" (Die Acht) und "Skupina výtvarných umelcu" (Gruppe bildender Künstler), die zwischen 1907 und 1914 in Prag stattfanden. Zwölf Essays von Malern, bildenden Künstlern und Schriftstellern porträtieren die originäre Eigenständigkeit eines tschechischen Kubismus im Herzen Europas sowie dessen aufmerksame wie selbstbewusste Verbundenheit mit anderen europäischen Ausprägungen.

Der Sammler, Mäzen und Kunsttheoretiker Vincenc Kramár hatte seit 1910 wiederholt Reisen nach Paris unternommen und Bilder von Pablo Picasso und Georges Braque kennengelernt. Vehement setzte sich Vincenc Kramár nach der Staatsgründung im Jahr 1918 nicht nur in seiner Eigenschaft als Direktor der späteren Nationalgalerie unermüdlich für eine europäische Ausrichtung ein. Kramár wehrte sich hellsichtig gegen einen platten Dualismus, der in den ersten Jahren der jungen Tschechoslowakei die vaterländische Ausrichtung einem vaterlandslosen Internationalismus gegenüberstellte.

Sein Beitrag "Der Kubismus" erscheint im vorgelegten Band erstmals in deutscher Übersetzung - nach mehr als achtzig Jahren seiner Publikation in Brünn. Wie nur wenige seiner Zeitgenossen hatte Vincenc Kramár verstanden, dass die ständige Rezeption des internationalen künstlerischen Geschehens keine Verhinderung, sondern eine unumgängliche Bedingung für die Entfaltung eigenständiger Entwicklungen bietet. Gegen die Eiferer, die eine national-patriotisch ausgerichtete Kunst einforderten, setzte Kramár den Blick über den Tellerrand: "Und überhaupt, wir sollten nicht so sehr eine tschechische als vor allem eine gute, ehrliche Kunst fordern, sollten an die Stelle der endlosen Spekulationen über das Wesen des Tschechentums eine unermüdliche Arbeit im Dienst am Menschen und damit auch an unseren Ideen setzen. Nur so kann auch bei uns eine vitale Kunst entstehen, von internationalem Niveau und doch tschechisch, denn sie wird von intelligenten tschechischen Künstlern geschaffen sein, die in unserem Leben und unserer Tradition fest verankert sind".

Die Besinnung auf die eigene Verwurzelung im Zusammenspiel mit der Wahrnehmung moderner Strömungen garantierte die eigentümliche Spannung in den Künsten der tschechischen Avantgarde. Neben einem fantasiereichen Sinn für Formexperimente war der Rückbezug auf den sinnlich konkreten Menschen ausdrücklich nicht ausgeblendet. In der vorliegenden Sammlung kommen beide Pole dieser dialektischen Beziehung zu Wort. In den Beiträgen des Malers Bohumil Kubištas wird das "Geistige" in der Kunst abgehandelt. Hier sah Kubišta, der im Kubismus ein "Durchdringen" der Dinge schätzte, den entscheidenden Kontrapunkt zu einem matten Impressionismus.

Emil Filla, der in seiner Malerei einer kubistischen Ausrichtung am konsequentesten treu geblieben ist, hatte bereits 1911 im seinerzeit populären Werk von El Greco eine kubistisch anmutende Mehransichtigkeit in den geteilten Formen ausgemacht. Die bewusste Reflexion über die reinen Formen bestimmt auch seinen Aufsatz "Von der Tugend des Neoprimitivismus". Andere Künstler, wie der Maler Vincenc Beneš oder der Bildhauer Otto Gutfreund wandten sich nach dem Ersten Weltkrieg wieder vom Kubismus ab. Bis heute lassen sich jedoch kubistische Elemente in der Prager Architektur finden. Am bekanntesten ist das "Haus zur schwarzen Gottesmutter" in der Prager Altstadt.

Josef Capek, der Bruder des berühmten Schriftstellers Karel Capek, wird als führende Figur der zweiten Phase des Kubismus nach dem Ersten Weltkrieg angesehen. Er bündelte die kunsttheoretischen Erfahrungen, aber auch die Ausbildung an den Akademien auf seine Weise, indem er darauf hinwies, "daß all diese Kunstfertigkeit nicht zur Erschaffung eines Bildes taugt. Es ist nur Projektion, wo man doch gestalten sollte".


Titelbild

Heinke Fabricius / Ludger Hagedorn (Hg.): Frühling in Prag oder Wege des Kubismus.
Deutsche Verlags-Anstalt, München 2006.
383 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3421052611

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