Prophetin im Auftrag Gottes

Isabelle Noths Studie über die pietistische "Inspirierte" Ursula Meyer

Von Ruth AlbrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ruth Albrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die pietistischen Gruppierungen der "Inspirierten" zählen zu den religiösen Bewegungen der Frühen Neuzeit, denen in letzter Zeit von kultur- und religionsgeschichtlicher Seite vermehrt Aufmerksamkeit zuteil geworden ist. Hierbei handelt es sich um Zusammenschlüsse, die sich in Deutschland und in der Schweiz seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert unter dem Einfluss der von 1685 an aus Frankreich vertriebenen Hugenotten, insbesondere ihrer prophetisch-ekstatischen Strömungen, bildeten. Die als "Cevennen-Propheten" oder "Inspirés" bezeichneten Flüchtlinge zogen in kleinen Gruppen durch Europa und verbreiteten dabei unter anderem ihre Form der visionären Prophetenrede. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts konstituierten sich in Deutschland und der Schweiz kleine Gemeinden von "Inspirierten", deren Mitglieder aus den reformierten und lutherischen Kirchen dieser beiden Länder stammten und die trotz heftiger Kontroversen insgesamt eng mit dem Pietismus verbunden blieben.

Die in den letzten Jahren veröffentlichten Forschungsarbeiten zum Thema konzentrierten sich bislang auf die männlichen Protagonisten, namentlich auf Eberhard Ludwig Gruber (1665-1728) und Johann Friedrich Rock (1678-1749). Das Buch der Kirchengeschichtlerin Isabelle Noth, das auf einer an der Universität Berlin angenommenen Dissertation beruht, rückt nun mit der 1682 im schweizerischen Thun geborenen und 1743 in Frankfurt am Main gestorbenen Ursula Meyer zum ersten Mal eine weibliche Führungsgestalt dieser Inspirationsgemeinden in den Vordergrund. Ursula Meyer war nicht die einzige Frau, die im Rahmen der Inspirierten als von Gott beauftragte Prophetin dessen Botschaften verkündete. Ihr mehrjähriges ekstatisches Reden und ihre führende Rolle bei Gemeindeaktivitäten weisen jedoch sehr deutlich auf ihre herausgehobene Position hin.

In der hessischen Wetterau, insbesondere in Ortschaften der Grafschaft Ysenburg-Büdingen, die sich wegen der hier geltenden weitgehenden religiösen Toleranz zu einem Sammelbecken radikaler und separatistischer Pietisten unterschiedlichster Couleur entwickelt hatte, entstanden 1714 die ersten Gemeinden der Inspirierten. Die ekstatisch-prophetischen Reden, die so genannten Aussprachen, wurden seit 1715 aufgezeichnet und teilweise umgehend gedruckt. "Den Aussprachen kamen als vom 'Geist' inspirierte Reden und direkte Offenbarungen Gottes eine dem biblischen Wort annähernd gleichrangige Stellung in den Inspirationsgemeinden zu."

Die prophetischen Führungsgestalten, Männer wie Frauen, galten als Werkzeuge Gottes; insofern wurden die von ihnen in Ekstase verkündeten Botschaften nicht als deren persönliche Auffassungen betrachtet, sondern als Aussagen von höchster autoritativer Dignität. Um diese Reden möglichst wortgetreu zu erhalten, begleiteten Schreiber die als Propheten geltenden Männer und Frauen. Die Veröffentlichung dieser Reden diente sowohl der Kommunikation der Gemeinden untereinander als auch der Werbung neuer Mitglieder. Während die Reden der männlichen Protagonisten von 1716 an in unterschiedlichen Textsammlungen in Druck erschienen, erfolgte eine Drucklegung von 156 Ansprachen Ursula Meyers erst mit einer Verzögerung von mehreren Jahrzehnten, nämlich im Jahr 1781. Noth sieht die "Ursache dafür [...] in der geschlechtlichen Statusdifferenz". Diese hier kurz angerissenen historischen und theologischen Zusammenhänge müssen in Betracht gezogen werden, um die Bedeutung von Noths Studie zu würdigen.

Nur einige Phasen des Lebens Ursula Meyers sind quellenmäßig gut belegbar. Von 1682 bis etwa 1711/12 war sie mit ihrer Familie, Eltern und Geschwistern, in der Schweiz ansässig, in Thun und Bern. Ihr Vater war unter anderem Mitglied des Stadtrats in Thun, Postverwalter und Bern und erwarb schließlich Strumpfwebstühle. Mit Hilfe dieser protoindustriellen Fertigung verdienten auch Meyer und ihre Schwester als junge Erwachsene ihren Lebensunterhalt. Einblicke in den Bildungsweg Ursula Meyers geben die bisher bekannten Quellen nicht her. Die ersten 30 Lebensjahre Meyers fallen in eine Phase der wirtschaftlichen, politischen und kirchlichen Umbrüche in der Schweiz. Noth geht davon aus, dass Ursula Meyer in ihrer Heimat diese Ausprägungen des Pietismus kennen lernte. 1699 wurden nach einem Prozess mehrere der führenden Pietisten aus Bern ausgewiesen, einige von ihnen wandten sich ins hessische Büdingen. Von 1715 bis 1719 nahm Meyer eine aktive und prominente Rolle unter den Inspirierten der Grafschaft Ysenburg ein, sie verkündete regelmäßig prophetische Botschaften und unternahm im Auftrag dieser Gemeinden mehrere Reisen, auch in die Schweiz.

Bei besonderen Gottesdiensten gehörte sie zu denjenigen, die für die liturgischen Handlungen wie das Fußwaschen ausgewählt wurden. Meyers prophetisches Wirken blieb in diesen Jahren nicht unangefochten; während eines mehrmonatigen Konfliktes vor allem mit Gruber, der eine die Kompetenzen der anderen Propheten übersteigende Autorität für sich beanspruchte, zog sie sich zurück, nahm dann jedoch ihre Tätigkeiten wieder auf. Von 1720 an waren die Inspirierten auf unterschiedlichen Ebenen in virulente Konflikte verwickelt; diese Krisen entstanden sowohl durch innergemeindliche Auseinandersetzungen als auch durch Abgrenzungen gegen ähnlich ausgerichtete pietistische Gruppierungen.

Ursula Meyer scheint sich einer innergemeindlichen Opposition angeschlossen zu haben, die sich von aktiven Gemeindeleben abwandte, jedoch keinen offenen Bruch vollzog. Aus dem Jahr 1738 ist ein Brief Meyers erhalten, der diese distanzierte Haltung dokumentiert. Sie beschreibt hierin ihre Zweifel, ob das, was sie und andere für göttliche Inspirationen gehalten hatten, wirklich "eine wahre prophetische krafft gewesen" sei; eine endgültige Antwort gibt sie dazu nicht. Von welchem Zeitpunkt an Meyer in Frankfurt lebte, lässt sich nicht erhellen. Die Tatsache, dass ihre Reden posthum im Auftrag der noch weiter bestehenden Gemeinden der Inspirierten gedruckt wurden, spricht dafür, dass sie nicht als Apostatin galt.

Noths Recherchen ergeben, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts aus einem umfangreichen Bestand von Texten Meyers einige für die Drucklegung ausgewählt wurden. Vergleiche mit handschriftlichem Material lassen auf eine relativ hohe Authentizität schließen. Die Auswertung des "Himmlischen Abendscheins", die Noth unter vier thematischen Schwerpunkten vornimmt, ergibt, dass Ursula Meyer sich eines bereits vorhandenen Fundus radikal-pietistischer und spiritualistisch-mystischer Ideen bediente; sie entwickelte keine eigenen theologischen Lehrmeinungen, sondern ihre Offenbarungen spiegeln das wider, was die Inspirierten als gemeinsame Glaubensbasis verband. "Ursula Meyers Gedankenwelt und Anschauungen förderten theologisch keine neuen Lehren zutage. Sowohl ihre chiliastisch ausgeprägte Eschatologie, die Lehre von der Wiederbringung aller, die Christus- und Brautmystik als auch die Lehre vom inwendigen Wort gehörten zum Allgemeingut des mystischen Spiritualismus. Eine große Anzahl sprachlicher und inhaltlicher Gemeinsamkeiten teilte die radikale Pietistin Ursula Meyer unter anderem mit Jakob Böhme, aber auch mit Johann Arndt, auf den sich die Inspirationsgemeinden ausdrücklich beriefen. Der einzige - geschlechtsspezifisch bedingte - Unterschied zu den männlichen 'Werkzeugen' bestand in der auffallend geringen Anzahl ekklesiologischer Äußerungen Ursula Meyers."

Das Buch von Isabelle Noth konfrontiert heutige Leserinnen und Leser mit religionsgeschichtlichen Phänomenen, die nicht auf Anhieb verständlich sind. Die reflektierte Arbeitsweise der Autorin, die das Thema aus historischen, theologischen und religionspsychologischen Perspektiven erschließt, ergibt einen mikrohistorisch ausgeleuchteten Einblick in gesamteuropäische Umbrüche der Frühen Neuzeit. Die Inspirierten und mit ihnen Ursula Meyer galten lange als Randphänomene der Kirchengeschichte und auch als solche des Pietismus. Noth weist darauf hin, dass diese Bewegung, sowohl zur Zeit ihrer Entstehung als auch heute, auf ein Desiderat aufmerksam macht. "Die Inspirierten erinnern mit ihren ekstatischen Phänomenen zutiefst und geradezu provokativ an die sinnliche Komponente gelebter Religiosität, die auch den menschlichen Körper mit einbezieht und ihn zum Werkzeug von Gotteserfahrung werden lässt."


Titelbild

Isebelle Noth: Ekstatischer Pietismus. Die Inspirationsgemeinden und ihre Prophetin Ursula Meyer (1682-1743).
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2005.
382 Seiten, 56,90 EUR.
ISBN-10: 3525558317

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