Eine Ontologie in Zeichnungen

Jean-Jacques Sempés Buch "Für Bücherfreunde"

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was für ein Geplapper. Ganz normal? Doch nicht ganz: Zwei Männer stehen am Meer, auf einer Terrasse. Ferienlaune, die Frauen reden miteinander, die Kinder stehen abwartend daneben, Tabletts mit Gläsern werden geschleppt, am Strand tummeln sich die letzten Gäste mit Hund vor dem etwas windigen Himmel. Die Männer schütteln sich die Hand, zum Abschied: "Hab gestern Ihre Gedichte gelesen. Es gäbe eine Menge dazu zu sagen, aber wir reisen morgen in aller Früh ab. Reden wir nächstes Jahr darüber, ja?"

Das kann nur ein böser Mensch geschrieben haben. Das kann nur ein sanfter Mensch so gezeichnet haben, mit all diesen liebevollen Details. Oder diese Szene: Zwei Männer gehen an einer Buchhandlung vorbei, es ist Herbst, die Blätter sind gefallen. Der eine fragt den anderen: "Und was machen Sie mit Ihren abgedroschenen Wörtern?" Da haben wir die ganze Mauthner'sche Sprachkritik, die Hofmannsthal'sche Sprachskepsis in einem Satz. Oder diese: Ein Mann, in einem Sessel vor dem Computer, die Wände voller Bücher, klagt einem anderen sein Leid: "Wovon erzähle ich in meinem Büchern? Von meinem Durchschnittsleben. Was ist los in meinem Durchschnittsleben? Meine paar Liebschaften: Durchschnitt. Meine Sehnsüchte? Durchschnitt. Es gibt sehr viele Durchschnittsmenschen, das weiß ich ganz sicher. Darum verstehe ich nicht, wieso meine Bücher eine so niedrige Auflage haben."

Ein böser Mensch, ein sanfter Mensch. Ein Karikaturist, der, seltsamerweise, gleichzeitig liebevoll und sarkastisch ist, der die Schwächen seiner Mitmenschen erbarmungslos aufspießt und sie dem Gespött preisgibt, der aber seine Mitmenschen gleichzeitig zu beschützen und behüten scheint, sie nicht vernichten will, sondern sanft, mit einem Lachen, erziehen, wie Diderot. Der mit leichtem Strich alles nur andeutet, und doch wird alles ganz klar und präzise, detailliert und ausführlich. Es gibt wohl nur diesen einen französischen Zeichner, der das kann: Sempé.

Seit vielen Jahren ist er im Zürcher Diogenes Verlag beheimatet, der nicht nur seine neuen Bände herausgibt, sondern auch immer mal wieder seine alten als Steinbruch benutzt und nach Themen zusammenstellt. "Für Bücherfreunde" ist das Thema der neuesten Kompilation, und es geht um Autoren, Verleger, Buchhändler und immer wieder Leser. Denn auch die sind eitel. Wie die Frau, die bei der Signierstunde dem Autor sagt: "Ich finde mich dermaßen, aber wirklich dermaßen in jedem Ihrer Werke wieder! Das bin dermaßen ich selbst! Können Sie mir bitte folgende Widmung reinschreiben: ,Für Marie-Lucia, ohne die dieses Buch nicht existieren würde.'"

Das ist alles sehr charmant, geistreich (das Wort "esprit" drängt sich nachgerade auf), es ist witzig, ironisch, liebenswürdig, scharf und manchmal sogar kulturkritisch. Es ist sogar philosophisch, auf eine feine Art, denn es reflektiert die Beziehungen zwischen den Menschen, die Beziehungen zwischen den Gegenständen (den Büchern) und ihren Besitzern, es reflektiert auch die Sehnsüchte und Begierden, die Fehlschläge und Niederlagen. Kurz: Es ist eine ganze Ontologie.


Titelbild

Jean-Jacques Sempé: Für Bücherfreunde.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
102 Seiten, 9,90 EUR.
ISBN-10: 3257021062

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch