Literarische Delikatessen
Warum Jostein Gaarders Bücher "Schachmatt" und "Das Schloss der Frösche" Leckerbissen sind
Von Alexandra Polunin
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBei einem Lesebuch ist es doch wie bei einem teuren Fünf-Sterne-Menü: Die Auswahl muss stimmen. Zu kleine Portionen machen nicht satt, zu große liegen jedoch schwer im Magen. Als Einstieg empfiehlt sich daher ein leichter Aperitif - ein Appetitanreger, der auf der Zunge kribbelt und Lust auf mehr macht. Folgen sollte ein rundes, in sich stimmiges Menü, das in einem ebenso köstlichen wie leichten Dessert seine Vollendung findet. Um ein solch perfektes Dinner zu zaubern, braucht man zweierlei: einen Meisterkoch und ein raffiniertes Rezept.
Dass Jostein Gaarder ein Meister seines Fachs ist, steht außer Frage. Zahlreiche Auszeichnungen schmücken schließlich bereits seinen Kaminsims. Und mit seinen phantasievollen und philosophisch angehauchten Kinder- und Jugendbüchern begeistert der Norweger nicht nur Jung, sondern auch Alt. Fragt sich nun, ob auch das Rezept stimmt. Denn mit Lesebüchern ist das ja so eine Sache: Warum sollte jemand, der bereits alle Romane und Erzählungen eines Schriftstellers kennt, ein Lesebuch kaufen, das ohnehin nur einen Aufguss alter Texte bietet? Diese Frage scheint sich auch Gaarder gestellt zu haben. "Schachmatt" besticht gerade dadurch, dass es für alle etwas bietet: für Fans und für die, die es noch werden wollen.
Ein Querschnitt durch Gaarders gesamtes Werk soll das Lesebuch sein - von allem gibt es etwas: ein bisschen aus "Sofies Welt", einen Happen von "Der seltene Vogel", hier etwas aus "Das Kartengeheimnis", dort ein Auszug aus "Das Orangenmädchen".
Ein Gaumenschmaus ist da zum Beispiel die Geschichte von der Purpurlimonade. Zusammen mit seinem Vater macht sich Hans-Thomas auf die Suche nach seiner Mutter, die vor vielen Jahren nach Athen gegangen ist, um als Model Karriere zu machen. Auf ihrer Reise halten sie in einem seltsamen Ort namens "Dorf". "Ich freute mich auf Vaters Gesicht, wenn er Dorf am helllichten Tag sah. Er würde ausrasten. Dorf war nämlich ein Puppendorf wie aus dem Bilderbuch. Zwischen hohen, schneebedeckten Bergen lagen an zwei, drei Gassen einige wenige Läden. Wenn ich ganz hoch schaukelte, hatte ich das Gefühl, auf eines der Dörfer von Legoland zu schauen." Als Hans-Thomas bei einem Spaziergang eine kleine Bäckerei entdeckt, kommt das Abenteuer in Gang: Seltsamerweise wird der Junge vom Bäcker bereits erwartet, um einen Schatz entgegenzunehmen, der sich als eine Papiertüte mit vier Rosinenbrötchen entpuppt. In dem größten Brötchen findet Hans-Thomas ein winziges Büchlein: "Die Purpurlimonade und die magische Insel".
Was es mit der Purpurlimonade und den winzigen Dorfbewohnern auf sich hat, wird so bald nicht verraten, das erfährt man erst nach und nach, Schluck für Schluck. Gaarder gönnt sich den Spaß und bricht Geschichten an der spannendsten Stelle ab, spannt den Leser so auf die Folter. Fast widerwillig liest man dann den nächsten Text und ist doch sofort wieder in einer neuen Welt gefangen.
Die Welt von Sofie ist dabei besonders geheimnisvoll. Schließlich bekommt ein junges Mädchen nicht alle Tage einen Brief, in dem ihr ein wildfremder Mann von Zauberern und Kaninchen erzählt: "Ein weißes Kaninchen wird aus einem leeren Zylinder gezogen. Weil es ein sehr großes Kaninchen ist, nimmt dieser Trick viele Milliarden von Jahren in Anspruch. An der Spitze der dünnen Haare werden alle Menschenkinder geboren. Deshalb können sie über die unmögliche Zauberkunst staunen. Aber wenn sie älter werden, kriechen sie immer tiefer in den Kaninchenpelz. Und da bleiben sie. Da unten ist es so gemütlich, dass sie es nie mehr wagen, an den dünnen Haaren im Fell wieder nach oben zu klettern. Nur die Philosophen wagen sich auf die gefährliche Reise zu den äußersten Grenzen von Sprache und Dasein. Einige von ihnen gehen uns unterwegs verloren, aber andere klammern sich an den Kaninchenhaaren fest und rufen den Menschen zu, die tief unten im weichen Fell sitzen und sich mit Speis und Trank den Bauch voll schlagen. ,Meine Damen und Herren', rufen sie, ,wir schweben im leeren Raum!' Aber keiner der Menschen unten im Fell interessiert sich für das Geschrei der Philosophen. ,Himmel, was für Krachschläger', sagen sie. Und dann reden sie weiter wie bisher: ,Kannst du mir mal die Butter geben? Wie hoch stehen heute die Aktien? Was kosten die Tomaten? Hast du gehört, dass Lady Di wieder schwanger sein soll?'"
Schnell wird klar, dass Sofie an einem Kurs über die Geschichte der Philosophie teilnehmen soll. Was sich nach trockenem Unterricht anhört, entpuppt sich jedoch als aufregendes Abenteuer. Denn schon bald hat der Major seine Hände im Spiel...
Wegen dieser kurzweiligen, gleichzeitig aber äußert tiefgehenden Geschichten lohnt sich die Lektüre von "Schachmatt". Gaarder gelingt es, philosophische Fragen mit Spannung und Witz zu kombinieren. Ihm geht es weniger darum, lehrmeisterhaft komplexe Theorien darzulegen, sondern vielmehr darum, zu zeigen, wie man philosophisch lebt: Aufmerksam sollen wir durch die Welt gehen, es uns nicht tief unten im Kaninchenfell gemütlich machen, sondern aufs Kaninchenfell klettern und über das Leben staunen, es als großes Rätsel betrachten. Denn: "Die Fähigkeit, uns zu wundern, ist das einzige, was wir brauchen, um gute Philosophen zu werden."
Leser, die Gaarder noch nicht kennen, werden sich deshalb an diesen tiefsinnigen Texten erfreuen, werden bei "Papa fliegt!" lachen und bei "Eine Zauberwelt" weinen, bei "Lord Hamilton" mitzittern und bei "Der Zeitscanner" staunen. Sie werden begeistert sein von der Vielfalt dieses Lesebuchs und Lust auf mehr bekommen.
Doch dank eines raffinierten Rezepts kommen auch treue Fans des Norwegers auf ihre Kosten: Eine gut durchdachte Anordnung der insgesamt 64 Texte ermöglicht es, alte, wohlbekannte Geschichten neu für sich zu entdecken. Denn die Auszüge aus Gaarders gesamtem Werk werden nicht einfach nur bloß aneinander gereiht, sie werden geschickt miteinander verwoben, kunstvoll ineinander geflochten. Wo ein Auszug aus "Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort" endet, setzt ein Kapitel aus "Das Orangenmädchen" ein, wo "Das Orangenmädchen" aufhört, beginnt "Der Geschichtenverkäufer".
Diese Übergänge funktionieren, weil kleine Geschichtchen von oft auch nur fünf oder sechs Zeilen die längeren Texte zusammenhalten und miteinander verbinden. Mal greifen sie ein Thema, mal auch nur ein Wort des vergangenen Textes auf, spielen mit ihm, stellen neue Fragen und leiten dann zum nächsten Text über. Oft werden damit Bezüge zwischen den einzelnen Kapiteln hergestellt, die erstaunlicher und überraschender nicht hätten sein können.
Doch nicht nur "Schachmatt" überzeugt, auch für das Kinderbuch "Das Schloss der Frösche" kennt Gaarder die richtigen Zutaten: Märchen, Freud und eine Prise Skurrilität vermischt er so zu einem modernen "Alice im Wunderland" auf Skandinavisch.
Nicht einem gestressten Kaninchen, sondern einem Wichtel namens Umpin begegnet Kristoffer, als er sich eines Nachts barfuß und nur mit seinem Motorrad-Schlafanzug bekleidet im verschneiten, dunklen Wald wiederfindet. Umpin sieht zwar alles andere als vertrauenswürdig aus, da er aber Pfannkuchen mit Erdbeermarmelade verspricht, folgt ihm Kristoffer in eine eigenartige, herrlich schräge Welt auf der anderen Seite des Salamanderteichs. Nicht nur, dass in dieser Welt gerade Sommer ist, darüber hinaus trägt Kristoffer plötzlich Prinzenkleidung und macht Bekanntschaft mit einem König, dessen Herz gestohlen wurde, einer "miesen und fiesen" Königin, die gerne mal oben ohne rumläuft, und Angsthasen, die allen auch mächtig viel Angst einjagen.
Doch nur auf den ersten Blick - und mit Kinderaugen - erlebt Kristoffer spannende Abenteuer, rettet die Prinzessin, findet das gestohlene Herz des Königs und löst die Verschwörung im Schloss. Ein erwachsener Leser entdeckt schnell - und ein junger Leser wohl erst nach und nach - eine zweite Ebene: Tatsächlich sind Kristoffers Abenteuer in dieser skurril-märchenhaften Welt ein Traum - ein Traum, in dem der Junge vor allem den Tod seines über alles geliebten Großvaters verarbeitet. "Ich hatte meinen Opa sehr liebt gehabt, weil er mich immer hochhob und seinen kleinen Prinzen nannte. Und jetzt befand er sich östlich der Sonne und westlich des Mondes. Bei mir war er jedenfalls nicht mehr und das fand ich traurig, ich vermisste ihn nämlich ganz schrecklich. Ich fand es ungerecht, dass ein so lieber Mann kein Grillmeister mehr sein konnte, weil sein Herz nicht mehr schlagen wollte."
Es sind schon ernste, teils traurige Themen, die Gaarder in "Das Schloss der Frösche" seinen Lesern von Zeit zu Zeit auftischt - ist das Buch doch bereits für Kinder ab acht Jahren gedacht. So werden nicht nur Tod und Verlust thematisiert, sondern auch kindgerechte philosophische Exkurse gewagt. "'Das ist die Schlossuhr', erklärte der König feierlich. 'Sie teilt uns jede Stunde mit, dass die Zeit dahineilt.' Er legte mir die Hand auf den Kopf und sagte: 'Aber eigentlich ist es nicht die Zeit, die dahineilt, mein Junge.' 'Nicht?' 'Wir eilen. Ohne uns Menschen hätte die Zeit überhaupt keine Zeiger.' 'Und was macht die Zeit dann, wenn sie nicht eilt?' 'Die Zeit heilt alle Wunden. Und die Zeit schlägt neue.' 'Dann ist ja die Zeit gut und böse zugleich', sagte ich."
Doch dank Gaarders sensiblem Umgang mit dem für Kinder schwierigen Thema Tod und der ganz und gar unkomplizierten Herangehensweise an philosophische Fragen bleibt "Das Schloss der Frösche" eine unterhaltende - teils komische, teils traurige - Lektüre, die auch jungen Lesern gut bekommt und nicht schwer im Magen liegt.
So hat Kristoffer am Ende des Buches den Tod seines Großvaters überwunden. Er erkennt, dass, auch wenn sein Großvater niemals wieder in ihr Haus mit der Terrasse und den Liegestühlen zurückkehren wird, er doch für immer in seiner Erinnerung weiterlebt. "Die Nacht war zu Ende und die Sonne färbte die weißen Schlosstürme gelb. Um mich herum lag der große, tiefe Wald und die Sonne stieg immer weiter den Himmel hinauf."
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