Der doppelte Banker

Rolf Dobelli beschreibt in seinem dritten Roman "Himmelreich" einen in jeder Hinsicht gespaltenen Karrieremenschen

Von Felix KötherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Felix Köther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Insbesondere eine Tatsache fällt bei der Lektüre von Rolf Dobellis dritten Roman schnell auf: Promovierte Betriebswirtschaftler, die über Jahre als Chief Executive Officer (CEO) und Finanzchef gearbeitet haben, können durchaus literarischen Ansprüchen genügende Romane schreiben - und reflektieren dabei noch über das ehemalige Arbeitsumfeld oder äußern deutliche Zweifel an Lebensentwürfen, die dem beruflichen Erfolg und der Karriere unterworfen werden. "Himmelreich" ist ein Roman, der die Spaltung der Hauptfigur in zwei gegensätzliche Personen beschreibt und auch die Wahl zwischen Karriere und Familie thematisiert - und das so, dass man es über weite Strecken nicht einmal bemerkt.

Philipp Himmelreich ist erfolgreicher Private Banker in Zürich, verheiratet mit der Anwältin Anna und von sich selbst überzeugt - "mit einem Wort, ein interessanter Mann. [...] Ich bin intelligent, arriviert, ein Mann von Welt, mit einem schelmischen Hang zur Verspieltheit". Und eben dieser Banker fängt eine Affäre mit der deutlich jüngeren Buchhändlerin Josephine an. Doch so schnell er ihr verfällt, so schnell scheint der Seitensprung auch schon seinen Reiz verloren zu haben. Im Rahmen seiner Versetzung nach New York beendet Himmelreich die Beziehung und beim vorletzten gemeinsamen Treffen ersinnt die Verstoßene einen romantischen Plan: "Weißt du, was? Dann muss ich dich eben entführen. [...] Entführen, noch bevor du fliegst. Im letzten Moment steigst du einfach nicht ein." Soweit die Vorgeschichte.

Bereits ab den ersten Seiten wird - episodisch von der Beschreibung der Affäre unterbrochen - erzählt, wie Himmelreich im Flugzeug sitzt und die Affäre mit Josephine Revue passieren lässt. "Time to Destination: 7 Hours 14 Minutes." Und ohne dass der Leser geschweige denn die Hauptfigur es ahnt, hinterlässt in der Verspätung des Fluges ein zweiter Philipp Himmelreich, eine Art abgespaltenes Alter Ego, bereits die ersten Spuren, obwohl der Himmelreich im Flieger dessen Wege erst im Flugzeug vorgeben wird: Auf dem Flug nach New York erträumt sich Himmelreich, was passiert wäre, wenn er sich geweigert hätte, mitzufliegen. In und mit seinem Tagtraum haucht er dabei gleichzeitig einem Zwilling Leben ein und zeichnet dessen Handlungen vor. Die Person Himmelreich fällt dabei bereits in dem Moment auseinander, in dem die Entscheidung für einen Lebensentwurf ein zweites Mal fällt - jetzt mit seiner Geliebten Josephine. Ein Himmelreich sitzt im Flieger zur Führungsposition in New York und motzt - ahnungslos - über die Verzögerung, die er selbst in Form einer zweiten Ausgabe seiner Person am Terminal verursacht: "Es gehört zum Leben, dass man weiß, was man will."

Der Leser - geschweige denn der Protagonist selbst - wissen davon noch nichts. Und so stellt Himmelreich sich vor, wie er sich weigert, den Flieger zu besteigen, wie Josephine ihn tatsächlich über die französische Grenze und durch halb Europa entführt und träumt so, unterbrochen von inneren Monologen, fragmentarischen Dialogen mit seinem Sitznachbarn und der Routine eines Interkontinentalfluges, wie die Entführung durch Frankreich, Spanien bis nach Portugal führt und der Philipp Himmelreich in seinem Traum bald ein ganz anderer wird. Denn der findet bald Gefallen an dem romantischen Spiel. In einer Kirche in Andorra wird Tango unter Engeln mit Flügeln voller Augen getanzt, eine im Übermut per Video eingeforderte Million Euro wird kurzerhand von einem Kirchturm in Porto in den Wind geworfen, und überhaupt erscheint das zuvor zwanzig Jahre währende Bankerleben wie ein "spektakulärer Irrtum: Verschwendung von Lebenszeit."

Schließlich erträumt der im Flieger sitzende Himmelreich, wie das Paar dazu gezwungen wird, sich in einer Jacht vor dem Sicherheitsdienstchef Renfer und der Polizei zu verstecken und die Flucht nach vorne anzutreten, auf einer riskanten Segeltour über den Atlantik, die Landung auf den Bahamas inklusive.

In New York angekommen, findet der Tagtraum sein Ende und Himmelreich stürzt sich - beruflich natürlich enorm erfolgreich - in seine neue Arbeit, die Integration und Leitung einer Bank. Einige Monate später zieht seine Frau hinterher, mit dem dringenden Wunsch nach einem Kind und bemüht, ein neues Leben anzufangen, nachdem sie von der Affäre erfahren und eigentlich die Scheidung gefordert hatte. Der Versuch endet tragisch im Suizid Annas.

Nur kurz zuvor wird Himmelreich vom FBI vorgeladen. Der seit seiner Ankunft wie besessen arbeitende CEO einer Bank wird verdächtigt, an der Entführung Josephines mitsamt Lösegelderpressung quer durch Westeuropa bis nach Spanien beteiligt zu sein, und kurz darauf erreicht ihn der Anruf, dass Josephine auf den Bahamas vermisst sei - wo er selbst angeblich mit ihr und seiner Tochter lebe und eine Bäckerei für Segler und Touristen betreibe. Verwirrt fliegt Himmelreich in die Karibik, um Josephine zu finden, nicht ohne vorher sein Befremden über die Idee vom Leben und der Bäckerei auf einer Insel zu äußern, die einem rationalen und analytischen Banker wohl reichlich naiv vorkommen muss - "was für ein unmöglicher Einfall".

Der zuerst entführte und schließlich real gewordene Traum-Himmelreich steht dem in Manhattan arbeitenden Karrieristen dabei fast gegenüber wie das Gute dem Bösen. Der Autor hat in beiden abgespaltenen Figuren - wobei die eine paradoxerweise Fantasieprodukt der anderen ist - zwei Antipoden, Gegenentwürfe in Fragen der Lebensgestaltung gezeichnet. Der zynisch-kühle Karrierist betrügt seine Frau, um sie später - wenn auch nur durch seine Passivität - mit in den Suizid zu treiben. Der romantische Aussteiger zeugt neues Leben und bäckt in jeder Hinsicht kleine Brötchen.

An der Hauptfigur lassen sich so auch kritische Töne über den Manager an sich ausmachen. Der von sich selbst überzeugte Himmelreich, der seinen Beruf gerne verteidigt - "Ich bin stolz Manager zu sein. Ohne uns gäbe es keine Flüge nach New York. Es gäbe nicht einmal New York." - äußert in bester Doppelmoral sein Unverständnis über Männer, die gegenüber attraktiven Frauen nicht standhaft bleiben können, er spottet über den Kinderwunsch als schwächliche Unterwerfung des Menschen gegenüber seinen Genen, bewegt seine Frau zur Abtreibung, als es mit ihrer Karriere aufwärts geht - und Mitarbeiter seiner Bank, die am Arbeitsplatz eine Liebesbeziehung jedweder Art eingehen, werden gefeuert. Die Version des Philipp Himmelreich dagegen, die sich am Abflugterminal des Züricher Flughafens entführen lässt, lernt dazu, verzichtet auf die Karriere und entscheidet sich für die Frau, für Idealismus, für die Bäckerei auf den Bahamas - und schließlich für das Kind.

Auch die Zeichnung der weiblichen Protagonistinnen fällt auf. Himmelreich erscheint neben der Geliebten - sei es in der Affäre oder auch während der Entführung - oft regelrecht unselbstständig und zögerlich. Die betrogene Ehefrau ist beruflich nicht nur ebenbürtig, sondern auch handwerklich praktischer veranlagt, "in vielen Dingen" mit "mehr Sachverstand" ausgestattet und moralisch standhafter als der Ehemann. Das Scheitern ihres Lebens im Suizid ist letztlich das private Scheitern der Figur des Philipp Himmelreich, der seine Karriere dem erfüllten Familienleben vorgezogen hat. Seine Schwäche und Unfähigkeit im emotionalen Bereich - bei allem beruflichen Erfolg - ist unübersehbar.

"Himmelreich" ist ein insgesamt gelungener Roman, eigentlich ein Liebesroman, in der zweiten Hälfte spannend, in jedem Fall gut lesbar, in jedem Fall äußerst dicht - da kann man auch der Dame auf dem Buchrücken - "dichter kann ein Text kaum sein" - durchaus Recht geben. Dabei ist Dobelli immer wieder und in dosierten Maßen aphoristisch bis poetisch, ohne jedoch im Pathos abzurutschen. Auch gegen Ende, auch als der Karrierist Himmelreich schließlich die Existenz eines Zweiten, eines Aussteigers und einer parallelen Existenz seiner selbst akzeptiert, folgt keine Reue, keine umfassende Reflexion und Aufarbeitung. Der Aktivität, die die real gewordene Traumversion entwickelt, steht die private Passivität des Karrieristen Himmelreich gegenüber.

Eine Randerscheinung im Roman ist die Literatur. Die Buchhändlerin Josephine überzeugt den abgeklärten Banker Himmelreich letztendlich erfolgreich von der Welt der Literatur, was man als Leser durchaus als Anspielung auf Dobelli selbst verstehen kann, der nach seiner Arbeit in Führungspositionen in verschiedenen Tochterfirmen des Swissair-Konzerns mit Freunden die Firma "getAbstract", einen Anbieter von Buchzusammenfassungen, gründet. Auch sein Vorbild Max Frisch und Parallen zu dessen Roman "Mein Name sei Gantenbein", der in Dobellis Roman erwähnt wird und wohl eine Inspiration gewesen sein könnte, werden deutlich. Beide Figuren, Himmelreich, wie auch der Protagonist von Frischs Roman, gehen in ihrer Fantasie die Möglichkeit durch, wie eine tatsächlich gescheiterte Beziehung fortgeführt hätte werden können. Ein weiteres Buch, das Himmelreichs und Josephines Entführung und Leben auf den Bahamas begleitet und in verschiedenen Etappen auftaucht, ist "Ulysses" von James Joyce. Am Rande begleitet so die Geschichte der Odyssee des Joyce'schen Leopold Bloom die der beiden Schweizer über die halbe Erdkugel.

Dobellis "Himmelreich" ist ein Buch über einen in jeder Hinsicht gespaltenen Geschäftsmann. Auch von einem Geschäftsmann, jedoch für alle anderen.


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Rolf Dobelli: Himmelreich. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2006.
384 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3257861400

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