Tübinger Methode

Kevin Vennemann gibt sich in seinem zweiten Roman "Mara Kogoj" als gelehriger Schüler Thomas Bernhards zu erkennen

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Buch "gut lesbar" zu nennen, zeugt von Dummheit. Zumindest, wenn die Wertung in dem Sinn lobend gemeint sein soll, als sei dagegen die gesamte Moderne ein einziger entnervender Irrtum gewesen. Trotzdem brechen selbst professionelle Leser neuerdings gerne in Begeisterung aus, wenn irgendwo "endlich einmal wieder eine Geschichte erzählt" wird.

Kevin Vennemanns zweiter Roman "Mara Kogoj" nimmt allein schon aufgrund seines Themas - der Darstellung und Kritik rechtsextremer Kärntner Vaterlandstreue - von süffiger literarischer Eingängigkeit Abstand. Der Autor macht konsequent da weiter, wo er mit seinem Debüt "Nahe Jedenew" (2005) aufgehört hatte: dem für einen jungen deutschen Autor waghalsigen Versuch, die Perspektive der Opfer des Nationalsozialismus in eine literarische Form zu bringen.

Sind es in Vennemanns Erstling jüdische Kinder in Litauen, die die Ermordung ihrer eigenen Familie mitansehen und sich vor den mörderischen NS-Kollaborateuren verstecken müssen, denen der Autor einen ganzen Chor beklemmend arrangierter Stimmen leiht - so ist es in "Mara Kogoj" das tiradenhafte Plädoyer der kärntner-slowenischen Protagonistin und ihres Kollegen Tone Lebonja, dass dem unverbesserlichen Geschichtsrevisionisten Ludwig Pflügler ein für allemal einzuhämmern versucht, wer vor 1945 mehr zu leiden hatte und zugleich tapferer war, als sein heimatliebernder Soldatenvater.

Kogoj und Lebonja führen eine Interviewstudie durch, in der sie Nachkommen aus den Reihen ehemaliger Wehrmachts- und SS-Partisanenmörder zum Sprechen zu bringen versuchen, ohne selbst argumentierend oder manipulierend in die ihnen schwer erträglichen Aussagen der Gesprächspartner einzugreifen. Bevor beide diese Spielregeln zu missachten beginnen und Mara Kogoj zu einer geharnischten "Korrektur" der selbstgerechten Revisionismen und Geschichtsmythen Pflüglers ausholt, bestimmt nahezu ausschließlich das Gerede des Rechtsextremen den Roman.

Zentrum der Erörterungen der drei Figuren ist ein NS-Massaker an elf slowenischstämmigen Mitgliedern "der Familien Sadovnik und Kogoj", das am 25. April 1945 vom SS-Polizeiregiment 13 verübt wurde, weil die Ermordeten Partisanen unterstützt haben sollen. Pflügler erinnert sich allerdings anders und tradiert die infame Lüge, die Partisanen selbst hätten die Familie ausgelöscht - während sein Vater mit seinen 'pflichtbewussten' SS-"Kameraden" zu spät gekommen sei, um das grausige Verbrechen zu verhindern.

Wie im Roman erwähnt, findet man den historischen Vorfall ohne großes Suchen im Internet dokumentiert - gibt es den Peršmanhof in Kärnten doch tatsächlich, von dem aus man seit 1941 Partisanen unterstützte, der Schauplatz des besagten Massakers wurde und heute ein Museum beherbergt, wie auch Vennemann bereits auf den ersten Seiten seines Buchs erklärt. Damit deutet sich an, was dem Autor, der Teile des Texts bereits 2006 beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt vorgetragen hatte, aus der Jury kritische Einwürfe des Tübinger Robert-Musil-Kenners Karl Corino einbrachte: Wo beginnen hier die Fakten, wo endet die Fiktion?

Das Buch scheint jedenfalls auf eingehenderen Recherchen zu fußen - 2004 war Vennemann Stipendiat des 8. Klagenfurter Literaturkurses, wobei er sich selbst vor Ort ein Bild gemacht und die Idee für seinen Roman entwickelt haben dürfte. Stellenweise liest sich das Ergebnis allerdings fast schon wie eine Materialsammlung für ein zeitgeschichtliches Dossier. Manche der sachlichen Ausführungen über die Bildung kollektiver Gedächtnisse und ihre typische Immunität gegen Fakten, Wahrheiten und moralische Argumente klingen darüber hinaus geradezu so, als habe Vennemann die kulturwissenschaftlichen und soziologischen Studien Aleida Assmanns und ihres Vorbilds Maurice Halbwachs' gelesen, um deren Erkenntnisse begeistert in seinem Roman anzubringen.

Damit nicht genug: Ein "Komponierhäuschen", das einer der Romanschauplätze ist, erinnert an Gustav Mahler, den Ludwig Pflügler nicht ausstehen kann. Dass der Revisionist dagegen ausschließlich das gute, alte Kärntner Liedgut schätzt, gibt Mara Kogoj eine jener Steilvorlagen, die sie in ihrer Entgegnung am Ende benutzt, um den ideologischen Simpel in Grund und Boden zu argumentieren. Wie selbstverständlich zitiert die Figur hier Theodor W. Adorno, um Pflüglers lebenslänglichen Hass gegen alles Fremde anhand des Musikbeispiels zu analysieren: "Der Grund also der Wut: das unleugbare Wissen um die grundsätzliche Rechtmäßigkeit eines jeden Einspruchs, um die logischen Widersprüche der eigenen Argumentation, und nicht zuletzt darauf antwortet die Wut, heißt es im Mahler-Essay desselben Sozialforschers, ohne den wir hier nicht und auch sonst nirgendwo auskommen."

Hier spricht wohl nicht nur Mara Kogoj, sondern auch Kevin Vennemann. Nichts gegen solche theoretischen Bezugnahmen - aber "Nahe Jedenew" erreichte seine erzählerische Kraft noch ganz ohne derartig explizite Verweise. "Mara Kogoj" ist dagegen, und man mag das werten wie man will, passagenweise so etwas wie ein kritischer Theorieroman über "Konsensgedächtnisse" geworden. Dennoch: Obwohl der Text im Vergleich zu Vennemanns Debüt einen Schritt weiter geht, indem er die Vertreter diskriminierter Minderheiten zu (argumentativen) Angreifern mutieren lässt, wird die Handlung im Großen und Ganzen - falls man von einer solchen überhaupt sprechen kann - nie so deutlich, dass man sie als intendierte Dokumentation historischer Ereignisse missverstehen könnte. Diese irrige "Tübinger Methode" wird von Vennemann nun auch noch einmal ironisiert und - wohl als nachträglich eingefügter Seitenhieb auf Corino - im Text augenzwinkernd zitiert. Letztlich bleibt die Erzählung eben doch sehr vage und konfrontiert den Leser mit poetischer Abstraktion.

Kniffliger ist da schon die Frage, ob Vennemanns stark rhythmisierter und den Regeln der Grammatik mit ästhetischer Konsequenz entrückter Stil nun große Kunst oder doch nur eine der klassischen Moderne entlehnte 'Masche' ist, die sich nach dem Achtungserfolg von "Nahe Jedenew" langsam abzunutzen droht. Soviel ist klar: Spätestens mit "Mara Kogoj" ist der Einfluss Thomas Bernhards auf Vennemanns Schreiben unübersehbar geworden. Die dauernde Gegeneinandersetzung von Stimmen und den ihnen in sprachmusikalischer Komposition zugeordneten, öfter als nötig wiederholten Namen erinnert unter anderem stark an Bernhards "Kalkwerk" (1970) - und das österreichische Provinz-Setting an dessen Debüt "Frost" (1963), aus dem übrigens auch das poetische Motiv erfrorener Rehe entnommen sein dürfte, das Vennemann in seinem Text schaurig ausfantasiert. Nicht zuletzt ruft die oftmals beschworene "Korrektur" Mara Kogojs Bernhards gleichnamigen Roman von 1975 auf.

Vennemann entgeht einem möglichen Vorwurf der Epigonalität jedoch ironischerweise dadurch, dass er mit seiner 'zerstörten Geschichte' - vielleicht mehr als Bernhard es je getan hat - eine klare politische Stoßrichtung verfolgt. "Gut lesbar" dürfte sie - gerade zu Zeiten der auch in der deutschsprachigen Literatur in Mode gekommenen Täter-Opfer-Umkehr - für das große Publikum nicht gerade erscheinen. Aus der Sicht des literarischen "Konsensgedächtnisses" schlägt "Mara Kogoj" also jene "entgegengesetzte Richtung" ein, die Bernhard in seinem autobiografischen Buch "Der Keller. Eine Entziehung" (1979) so insistierend fordert: Ein größeres Lob könnte man einem Roman derzeit wohl kaum erteilen.


Titelbild

Kevin Vennemann: Mara Kogoj. Roman.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2007.
217 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783518418758

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