Pietistische Dogmatik

Johannes Anastasius Freylinghausens "Grundlegung der Theologie" liegt jetzt als Reprint vor

Von Wolfgang BreulRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wolfgang Breul

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Theologiegeschichte hat ihr Urteil gefällt: Verglichen mit der Orthodoxie, der vorangehenden und eine zeitlang noch parallel laufenden kirchengeschichtlichen Epoche, ist der Pietismus "äußerst unproduktiv auf dem Gebiet der Dogmatik" (Jan Rohls). In der Tat beschäftigt die pietistische Theologie derzeit nur wenige ausgewiesene Experten. In den kirchengeschichtlichen Überblicksdarstellungen findet der Pietismus vor allem als Frömmigkeitsbewegung, in seiner Bedeutung für die neuere Bildungs-, Diakonie- und Missionsgeschichte und aufgrund seiner Gemeindebildungen seinen Platz. So sind bislang meist nur die theologischen Entwürfe der Hauptvertreter des Pietismus eingehender untersucht worden; die Theologen der "zweiten Reihe" harren noch einer eingehenderen Analyse.

Es ist unter diesen Umständen eine durchaus mutige verlegerische Entscheidung des Georg Olms-Verlages, einer der wichtigsten Dogmatiken des Pietismus als Reprint herauszubringen: die "Grundlegung der Theologie" des Johannes Anastasius Freylinghausen (1670-1739). Der enge Mitarbeiter August Hermann Franckes ist der musikwissenschaftlichen Forschung als Liederdichter und insbesondere als Herausgeber des nach ihm benannten "Geistreichen Gesangbuchs" (1704, 1714) ein Begriff. Freylinghausen, Sohn eines Gandersheimer Kaufmanns und späteren Bürgermeisters, kam durch Joachim Justus Breithaupt und August Hermann Francke mit der pietistischen Bewegung in Kontakt. Nachdem beide aus Erfurt vertrieben worden waren, folgte er ihnen an die im Aufbau befindliche Universität in Halle. 1695 zog er in Franckes Glauchaer Pfarrhaus vor den Toren Halles und arbeitete zunächst unbezahlt als Adjunkt in dessen Gemeinde, später in den von Francke gegründeten Anstalten (Waisenhaus und Schulen). 1715 heiratete er Franckes Tochter Johanna Sophia Anastasia, nach Franckes Tod 1727 wurde Freylinghausen dessen Nachfolger in seiner Gemeinde und in der Leitung der Glauchaer Anstalten.

Andere Theologen des von Francke geprägten Zweiges des Pietismus wie Joachim Justus Breithaupt (1658-1732) und Joachim Lange (1670-1744) genießen in der Theologiegeschichte größeres Ansehen. Freylinghausen gehörte nicht einmal zu den Professoren der Theologischen Fakultät Halle. Die 1703 erstmals erschiene und vielfach wiederaufgelegte "Grundlegung der Theologie" war entsprechend auch nicht für die akademische Debatte gedacht, sondern für den Unterricht der höheren Klassen des Pädagogium Regium, das von Francke 1695 für Adelszöglinge und gut betuchte Bürgersöhne gegründet worden war. Das dogmatische Kompendium ist aus Freylinghausens Unterricht hervorgegangen und wurde gedruckt, um das zeitraubende Diktieren und Abschreiben zu umgehen. So erklärt es sich auch, dass das Werk nicht zeitüblich im akademischen Latein, sondern in deutscher Sprache erschien; damit folgte es einer Intention August Hermann Franckes.

Die "Grundlegung der Theologie" orientiert sich in ihrem Aufbau an Philipp Jakob Speners "Evangelischer Glaubenslehre" (1688). Freylinghausen verzichtet damit auf die übliche erkenntnistheoretische Einleitung (Prolegomena), in der die zeitgenössische Dogmatik die Erkenntnismöglichkeiten des Glaubens (einschließlich der göttlichen Inspiration der Schrift) reflektierte. Das Kompendium gliedert sich daher schlicht in eine trinitarisch entfaltete Gotteslehre und eine sehr viel umfangreichere theologische Anthropologie. Diese wird dem Spener'schen Vorbild folgend in vier "Ständen" entfaltet (anfängliche Unschuld und Gottesebenbildlichkeit, Sündenfall, Gnade durch und in Christus, künftige Herrlichkeit). Freylinghausens Grundlegung ist geprägt von der Francke'schen Vorstellung des ordo salutis (Heilsordnung): Es gibt eine "göttliche Ordnung [...], in welche der Mensch einzutreten hat, wenn er aus dem Stande der Sünden und des Falls in den Stand der durch Christum wiedergebrachten Gnade übergehen, darinn bewahret, und aus demselben in den Stand der künfftigen Herrlichkeit versetzet werden wil". Dem heilbringenden Glauben müssen demnach Buße und eine explizit erkennbare Bekehrung des Menschen vorausgehen. Der Ort, an dem dies geschieht, ist das menschliche Gemüt, die Seele, in der sich die "göttlichen Wohltaten" vollziehen.

Wiewohl die Grenzen lutherischer Theologie nicht überschritten werden, zeigt das Freylinghausen'sche Kompendium mit seiner Orientierung an der frommen Erfahrung deutlich seine pietistische Prägung. Darin bekunden sich bereits erste Ansätze zur Individualisierung und Privatisierung des Religiösen in der Moderne. Doch war es die Absicht Franckes, Freylinghausens und ihrer Mitstreiter, Frömmigkeit und Glaubenspraxis zu intensivieren und auf diese Weise die gesamte Gesellschaft zu prägen und zu reformieren. Für das Verständnis des theologischen Hintergrunds dieser umfassenden Reformbemühungen des Halle'schen Pietismus bietet Freylinghausens "Grundlegung der Theologie" ein Leitfaden.

Dem Reprint ist eine knappe, aber kenntnisreiche Einleitung von Matthias Paul vorgeschaltet. Auf ein detailliertes Inhaltsverzeichnis, editorische Anmerkungen und Indizes wurde verzichtet. Hier muss der Leser mit den knappen Hilfsmitteln der Originalausgabe auskommen. Angesichts der übersichtlichen Gliederung des Werkes ist dies aber keine wesentliche Einschränkung.


Titelbild

Johann Anastasius Freylinghausen: Grundlegung der Theologie. Halle 1703.
Herausgegeben von Matthias Paul.
Georg Olms Verlag, Hildesheim 2005.
576 Seiten, 98,00 EUR.
ISBN-10: 3487127644

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