Melancholie und Theatromanie in Karl Philipp Moritz' psychologischem Roman "Anton Reiser"

Aus einer Magisterarbeit

Von Thomas MeineckeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Meinecke

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In der Vorrede zum vierten Teil seines psychologischen Romans "Anton Reiser" (1783-1790) kündigt Karl Philipp Moritz eine genaue Untersuchung an, "durch welche Merkzeichen vorzüglich der falsche Kunsttrieb von dem wahren sich unterscheidet." Er führt dazu weiter aus: "Aus den vorigen Theilen dieser Geschichte erhellet deutlich: daß Reisers unwiderstehliche Leidenschaft für das Theater eigentlich ein Resultat seines Lebens und seiner Schicksale war, wodurch er von Kindheit auf, aus der wirklichen Welt verdrängt wurde, und da ihm diese einmal auf das bitterste verleidet war, mehr in Phantasieen, als in der Wirklichkeit lebte - das Theater als die eigentliche Phantasieenwelt sollte ihm also ein Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen seyn. - Hier allein glaubte er freier zu athmen und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden."

Die Entfaltung dieser Symptomatik im Laufe des Romans soll hier anhand der einzelnen Phänomene, welche Anton Reisers Theatromanie in ihren verschiedenen Entwicklungsstadien prägen, dargestellt werden.

1. "Die Sucht zu predigen"

Bereits als Kind zeigt sich Anton Reiser in der Kirche am meisten von den Predigten fasziniert. Dies ist weniger kurios, als es zunächst scheinen mag, denn die damalige Art zu predigen hatte wenig mit der heute üblichen gemein; im 18. Jahrhundert wurde sehr affektiert gepredigt. So finden sich denn im "Anton Reiser" auch zahlreiche Schilderungen wahrhaft "feuriger" Predigten: "Und nun, als er anhub, welche Stimme, welch ein Ausdruck! - Erst langsam und feierlich, und dann immer schneller und fortströmender: so wie er inniger in seine Materie eindrang, so fing das Feuer der Beredtsamkeit in seinen Augen an zu blitzen, aus seiner Brust an zu athmen und bis in seine äußersten Fingerspitzen Funken zu sprühen. Alles war an ihm in Bewegung; sein Ausdruck durch Mienen, Stellung und Gebehrden überschritt alle Regeln der Kunst und war doch natürlich, schön und unwiderstehlich mit sich fortreißend.... Seine Stimme war ein heller Tenor, der bei seiner Höhe eine ungewöhnliche Fülle hatte; es war der Klang eines reinen Metalls, welcher durch alle Nerven vibrirt.... Selbst die zuletzt erfolgende Erschöpfung, die Heiserkeit des Redners (es war, als schrie er zu Gott für die Sünden des Volks) trug zu der allgemeinen um sich greifenden Rührung bei, die diese Predigt verursachte; da war kein Kind, das nicht sympathetisch mitgeseufzt und mitgeweint hätte."

Es ist unschwer zu erkennen, dass es bereits die theatralischen Züge sind, die Anton so sehr an den Predigten faszinieren. Schon bald beginnt er, die Sonntagspredigten zuhause nachzuspielen, wobei er sich zuvor "in recht heftigen Affekt" zu bringen versucht. "Eine solche Erschütterung der Seele durch eine solche Predigt war ihm mehr wert als aller andre Lebensgenuß, er hätte Schlaf und Nahrung darum gegeben." Das Kopieren seiner Prediger-Vorbilder geht schließlich so weit, dass Anton des Predigers "Auf- und Niederbewegen des Kinns zuweilen nachzuahmen suchte."

Anlässlich der ersten Schultheater-Aufführungen wendet sich Anton Reisers theatralisch bestimmtes Interesse an der Kanzel der - adäquateren - Bühne zu: "Nun wurde ihm die Theatergrille so werth, daß die Sucht zu predigen beinahe ganz dadurch aus seiner Seele verdrängt wurde - denn hier fand seine Phantasie einen weit größern Spielraum, weit mehr wirkliches Leben und Interesse als in dem ewigen Monolog des Predigers. - Wenn er die Scenen eines Drama, das er entweder gelesen, oder sich selbst in Gedanken entworfen hatte, durchging, so war er das alles nacheinander wirklich, was er vorstellte, er war bald großmüthig, bald dankbar, bald gekränkt, und duldend, bald heftig und jedem Angriff muthig entgegenkämpfend."

Das Motiv des melancholischen Mangels an "wirklichem Leben" drängt Reiser zum Theater. Im Rollenspielen will er diesen Mangel (Remanenz), wie später noch zu zeigen ist, einholen, als Prediger aber "würde er wahrscheinlich ein großer Heuchler werden - er würde mit der größten Hitze des Affekts und mit aller Stärke der Deklamation doch immer nur eine Rolle spielen." Dennoch überwindet Reiser seine "Sucht zu predigen" nie ganz. Noch in Erfurt nennt er es "eine der reizendsten Aussichten, wenn der Doktor Froriep ihm einmal verstatten würde, hier die Kanzel zu besteigen."

2. "Der außerordentliche Reiz der Deklamationsübungen"

Ein weiteres Symptom in der Entwicklung von Reisers Theatromanie ist sein Hang zum Deklamieren, welcher der Sucht zu predigen verwandt ist. So stellt sich Anton anlässlich der schulischen Deklamationsübungen vor, er stünde auf der Kanzel, was bewirkt, dass seine Deklamation für einen Schuljungen "freilich zu viel Pathos" enthält.

Im Vergleich zu Iffland, mit dem zusammen sich Reiser in der Deklamationsübung am meisten auszeichnet, erscheint Reiser jedoch als der eindeutig weniger schauspielerisch begabte, dem es an Ausdrucksstärke, Schnelligkeit, Witz und Geistesgegenwart mangelt. Dafür übertrifft Reiser Iffland in allen intellektuellen Fähigkeiten bei weitem.

Beim Deklamieren richtet sich Anton Reiser weiterhin nach dem Vorbild der Prediger. Bereits als Kind war er fasziniert von Pastor Paulmanns Predigten "mit ausgestrecktem Arm", und als Reiser später sein Gedicht "Die Melancholie" in der Schule deklamieren darf, baut er diese Geste wirkungsvoll in seinen Vertrag ein: "Die letzte Strophe... deklamierte er mit einem wirklichen Pathos, das er in Stimme und Bewegung äußerte, und blieb, nachdem er schon stillgeschwiegen hatte, noch einen Augenblick mit emporgehobnen Arm stehen, der gleichsam ein Bild seines fortdauernden unaufgelößten schrecklichen Zweifels blieb."

Aber, wie bereits beim Predigen, entsteht aus dem Hang zum Deklamieren letztendlich der Wunsch zu schauspielern: "Ich habe nehmlich schon der Deklamationsübungen erwähnt, welche in Sekunda von dem Konrektor veranstaltet wurden. Dieß hatte für ihn und I... einen so außerordentlichen Reiz, daß alles andre sich dagegen verdunkelte, und Reiser nichts mehr wünschte, als Gelegenheit zu haben, mit mehreren seiner Mitschüler einmal eine Komödie aufzuführen, um sich im Deklamiren hören zu lassen."

Daraufhin plant Reiser sogleich, eine Komödie zu schreiben, in der er "sich in eine Reihe von Empfindungen versetzen könnte, die er so gern hatte und sie doch in seiner wirklichen Welt, wo alles so kahl, so armselig zuging, nicht haben konnte." So ist also auch der Impuls zu dichten bei Anton Reiser eng mit seinem Gefühl eines Mangels, einem Schulden dem Anspruch an das Selbst gegenüber, verbunden.

3. "Die Leiden der Poesie"

Bereits als Schüler "beleidigt" Anton seinen Lehrer, indem er seine Deklamation zu poetisch ausschmückt, und wieder gebraucht Moritz den Begriff "Heuchler", um Reisers Affektation beim Dichten als unechte Gefühle zu dekuvrieren. Da Anton Reiser die "Aufsätze und Gedichte ohne eigentliche Veranlassung" nie recht gelingen wollen, stimuliert er sich durch ein affektiertes Hineinversetzen in die zu behandelnde Materie, wobei es nicht immer einfach erscheint, seine Persönlichkeit mit dem Thema in die nötige Übereinstimmung zu bringen: "Wie er denn einmal den Auftrag erhielt, für jemanden verliebte Klagen zu dichten. - Eine Situation, in welche er sich mit aller Anstrengung nicht versetzen konnte, denn weil er gar nicht glaubte, daß er von einem Frauenzimmer je geliebt werden könnte - indem er sein ganzes Äußre einmal für so wenig empfelend hielt, daß er gänzlich Verzicht darauf gethan hatte, je zu gefallen; so konnte er sich nie in die Lage eines solchen setzen, der darüber klagt, daß er nicht geliebt wird -... Zuletzt aber dachte er sich nun den Liebhaber in einem Zustande, wo er vom Überrest seiner Leiden niedergedrückt der Verzweiflung nahe ist, und ohne nun ferner auf die Ursach der Verzweiflung Rücksicht zu nehmen, dachte er sich nun den Verzweiflungsvollen und konnte sich wieder in seine Stelle versetzen."

Man begegnet hier wieder Reisers Auslieferung seines Selbst an das mitmenschliche Gegenüber: Unfähig in seiner inkludenten Disposition zum wirklichen Dialog, bleibt ihm nur das Aneignen von fremder Ordnung. Hubert Tellenbach weist darauf hin, dass sich die dem Melancholiker eingeborene Ordnung im Sein-für-andere beziehungsweise Leisten-für-andere erfüllt.

Anton Reisers Hang zur Poetisierung alltäglicher Erscheinungen bezeichnet Moritz als dessen "einzige Schadloshaltung für die notwendigen Folgen seiner Torheit..., für die er selbst nicht konnte, weil sie nach natürlichen Gesetzen in sein Schicksal von Kindheit auf sich notwendig einflechten mußte." Die Torheit Reisers stellt Moritz, in prägnanter Übereinstimmung mit Tellenbach, als "notwendige" und "natürliche" Folge der "Verflechtung" von Selbst und Welt dar. Diese Zwangslage, an der keine konkrete Ursache auszumachen ist, aus der also auch keine zielgerichtete Initiative resultieren kann, versucht Anton Reiser nun mittels der Poesie zu übersteigen:

"Die Leiden der Poesie
Können daher wohl in jedem Betracht eine eigene Rubrik in Reisers Leidensgeschichte ausmachen, welche seinen innern und äußern Zustand in allen Verhältnissen darstellen sollen und wodurch dasjenige gewiß werden soll, was bei vielen Menschen ihr ganzes Leben hindurch, ihnen selbst unbewußt, und im Dunkeln verborgen bleibt, weil sie Scheu tragen, bis auf den Grund und die Quelle ihrer unangenehmen Empfindungen zurückzugehen.

Diese geheimen Leiden waren es, womit Reiser beinahe von seiner Kindheit an zu kämpfen hatte.

Wenn ihn der Reiz der Dichtkunst unwillkührlich anwandelte, so entstand zuerst eine wehmütige Empfindung, in seiner Seele, er dachte sich ein Etwas, worin er sich selbst verlohr, wogegen alles, was er je gehört, gelesen oder gedacht hatte, sich verlohr, und dessen Daseyn, wenn es nun würklich von ihm dargestellt wäre, ein bisher noch ungefühltes, unnennbares Vergnügen verursachen würde."

Die "Leiden der Poesie" sind die Leiden des Melancholikers: In "wehmütiger Empfindung" denkt er sich ein imaginäres "Etwas", hinter dem er zwangsläufig zurückbleiben, "sich selbst verlieren" muss; es bleibt schließlich die Verzweiflung über die Unerreichbarkeit des "ungefühlten, unnennbaren" Vergnügens. Das Dasein als Ganzes soll in der Poesie über sich selbst erhoben werden, das Gefühl des Eingeschlossenseins soll durch ein Über-den-eigenen-Schatten-Springen aufgehoben werden: "Es ist wohl ein untrügliches Zeichen, daß einer keinen Beruf zum Dichter habe, den bloß eine Empfindung im allgemeinen zum Dichten veranlaßt, und bei dem nicht schon die bestimmte Scene, die er dichten will, noch eher als diese Empfindung oder wenigstens zugleich mit dieser Empfindung da ist. Kurz, wer nicht während der Empfindung zugleich einen Blick in das ganze Detaille der Scene werfen kann, der hat nur Empfindung, aber kein Dichtungsvermögen.... Dieß war der Fall bei Reisern, der die besten Stunden seines Lebens durch mißlungene Versuche trübete, durch unnützes Streben nach einem täuschenden Blendwerke, das immer vor seiner Seele schwebte und, wenn er es nun zu umfassen glaubte, plötzlich in Rauch und Nebel verschwand."

In diesen "mißlungenen Versuchen" wird Anton Reisers inkludente Situation deutlich: Im Eingeschlossensein kann er die Szene nicht bis ins Detail überblicken, seine Empfindung hat somit keine Anhaltspunkte, es bleibt eine "allgemeine" Empfindung, die nur noch nebulöse Zielsetzungen statuieren kann, "täuschende Blendwerke", welche dem Melancholiker unerreichbar sind und ihm sein Eingeschlossensein um so deutlicher vor Augen führen. Hier tritt also bei Reiser das gleiche Phänomen im kreativen Bereich auf, dem man so oft in seinem mitmenschlichen Beziehungen begegnet: Eingeschlossensein in Selbstwidersprochenheit durch das zwangsläufige Zurückbleiben hinter dem hohen Anspruch an das Selbst. Moritz weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Reiser, um "bis zum Poetischen zu gelangen, immer erst eine Stufe der Menschenbildung überspringen mußte, ohne sich auf der folgenden erhalten zu können." In diesem Überspringen-Wollen von Ordnungen in fremde Ordnungen wird das typische Inkludenzphänomen des Über-etwas-nicht-Hinwegkommens deutlich; die Unfähigkeit des Melancholikers, bestimmte Situationswandlungen zu vollziehen. Indem sich Reiser auf den "Stufen der Menschenbildung" nicht halten kann, wird er immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen.

Anlässlich der "Werther"-Lektüre Reisers formuliert Moritz das folgendermaßen:

"Er fand hier seine Idee vom Nahen und Fernen wieder, die er in seinen Aufsatz über die Liebe zum Romanhaften bringen wollte - seine Betrachtungen über Leben und Daseyn fand er hier fortgesetzt - ,Wer kann sagen, das ist, da alles mit Wetterschnelle vorbeiflieht?' - Das war eben der Gedanke, der ihm schon so lange seine eigene Existenz wie Täuschung, Traum und Blendwerk vorgemahlt hatte."

Die "Liebe zum Romanhaften" schließt Anton Reiser immer wieder in Selbstwidersprochenheit ein, so dass schließlich sein eigenes Dasein nicht mehr spürbar wird: In der endokinetischen Abwandlung in die Melancholie vermag das Selbst nicht mehr mit seinem Thema umzugehen. Das eigene Leben erscheint somit als "Täuschung, Traum und Blendwerk". In einer Abhandlung gegen die "affektierte Empfindsamkeit" will Reiser sich später seiner "Liebe zum Romanhaften" und der damit verbundenen Selbstwidersprochenheit entledigen. Die Empfindsamkeit wird darin einer ansteckenden Seuche gleichgesetzt. In der Freundschaft mit Neries findet Reiser einen eifrigen Mitstreiter gegen "das Lächerliche einer affektierten Empfindsamkeit", Reisers Selbstwidersprochenheit wird dadurch jedoch nicht aufgehoben, sondern, in Hinsicht auf seinen symbiotischen Umweltbezug, eher noch verstärkt: "Dies wurde nun eine Freundschaft gerade von der empfindsamen Art, wogegen Reiser eine Abhandlung zu schreiben im Begriff war."

4. "Der falsche Kunsttrieb"

Seinen Hang zum Theater erlebt Anton Reiser immer wieder in schuldhafter Weise. Erst langsam beginnt sich der Schauspielerstand in der öffentlichen Meinung emporzuarbeiten, aber noch haftet ihm das Flair eines billigen Vergnügens an; Theatergruppen, welche zum Beispiel Lessings Stücke spielten, werden mit "ebenfalls herumziehenden" Schaustellergruppen im selben Atemzug erwähnt: "Nun fügte es sich gerade, daß eine Gesellschaft Luftspringer nach H... kam, und weil ein Platz nur eine Kleinigkeit kostete, so ging er einen einzigen Abend hin, um diese halsbrechenden Künste mit anzusehen - man hatte ihn erblickt - und weil diß nun auch eine Art Komödie war, so hieß es, sein alter Hang sei nun wieder erwacht, und es gehe kein Abend dahin, daß er nicht den Schauplatz bei den Luftspringern besuchte; da trüge er nun wieder sein Geld hin - man sehe hieraus schon, daß doch nun nichts aus ihm werden würde. -

Seine Stimme war viel zu ohnmächtig, um sich gegen die Aussage derer zu erheben, die ihn alle Abend bei den Luftspringern wollten gesehen haben - kurz, der einzige Abend, an welchem er hier her ging, brachte ihn wieder weiter in der Meinung der Menschen zurück, als ihn sein ganzer bisheriger Fleiß und regelmäßiges Betragen darin hatte vorwärtsbringen können."

Ausgerechnet das Theater, mit dessen Hilfe sich Anton Reiser aus seiner Misere erheben will, wirft ihn immer wieder in diese Misere zurück. Die Initialsituation der melancholischen Verzweiflung liegt bereits in Reisers Theaterleidenschaft schlechthin. So gelangt er schließlich zu dem palingenetischen Gedanken, seine Umwelt zu verlassen und sich einer Theatergruppe anzuschließen, "und von da aus wollte er denn, wenn ihm dies gelänge, seine Schulden in Hannover bezahlen und seinen guten Ruf wiederherzustellen suchen, indem er dort gleichsam wieder aufstände, nachdem er hier bürgerlich gestorben wäre." Den Gedanken an ein Verlassen der bürgerlichen Ordnung, mit Moritz' Worten: "bürgerlich zu sterben", erträgt Anton Reiser nur im Zusammenhang mit der Hoffnung auf bürgerliche Palingenesie. Während er sich durch seinen Anschluss an eine Theatergruppe von der bürgerlichen Ordnung, die zu überwinden ihm unmöglich ist, immer weiter entfernt, sucht er doch als Schauspieler gerade bürgerliche Anerkennung. "Dies letzte war ihm insbesondere eine der angenehmsten Vorstellungen, womit er sich trug."

Reisers Schulderleben greift das Thema "Theatromanie", die ihm seine Umwelt zum Vorwurf macht, bereitwillig auf: "Indes sahe er doch so viel ein, daß die Wuth, Romanen und Komödien zu lesen und zu sehen, die nächste Veranlassung seines gegenwärtigen Zustandes war - aber wodurch ihm das Lesen von Romanen und Komödien zu einem so nothwendigen Bedürfniß geworden war - alle die Schmach, und die Verachtung, wodurch er schon von seiner Kindheit aus der wirklichen, in eine idealische Welt verdrängt worden war - darauf zurückzugehen hatte seine Denkkraft damals noch nicht Stärke genug, darum machte er sich nun selbst unbilligere Vorwürfe, als ihm vielleicht irgend ein anderer würde gemacht haben - in manchen Stunden verachtete er sich nicht nur, sondern er haßte und verabscheuete sich."

Es wurde bereits dargelegt, dass Reisers Gefühl, "aus der wirklichen Welt verdrängt zu sein", ein Phänomen seines Eingeschlossenseins bedeutet. Das Theater bietet ihm scheinbar eine Möglichkeit, seine Verzweiflung angesichts der sich immer vergrößernden Remanenz seinen Selbstansprüchen gegenüber zu überwinden.

Im "hypernomischen Rollenverhalten" (Alfred Kraus) des Melancholikers, der distanzlosen Überidentifikation mit einer Rolle, die nicht er selbst geschrieben hat, glaubt Anton Reiser eine Rettung aus seiner Selbstwidersprochenheit zu erkennen: Damit all seine unerfüllten Leidenschaften sich nicht "notwendig gegen ihn selbst kehren und sein eigenes Wesen zerstören müssen", überträgt er diese "auf Personen aus einer erdichteten Welt". Für Anton Reiser bedeutet Schauspielerei das problemlose Hineinschlüpfen in höhere Ordnungen, welche ihm in seinem zu Inkludenz neigenden Dasein unerreichbar sind: "Er wünschte sich denn eine recht affektvolle Rolle, wo er mit dem größten Pathos reden und sich in eine Reihe von Empfindungen versetzen könnte, die er so gern hatte, und sie doch in seiner wirklichen Welt, wo alles so kahl, so armselig zuging, nicht haben konnte. - Dieser Wunsch war bei Reisern sehr natürlich; er hatte Gefühle für Freundschaft, für Dankbarkeit, für Großmuth und edle Entschlossenheit, welche alle ungenutzt in ihm schlummerten; denn durch seine äußere Lage schrumpfte sein Herz zusammen. - Was Wunder, daß es sich in einer idealischen Welt wieder zu erweitern, und seinen natürlichen Empfindungen nachzuhängen suchte!"

Aus diesem kompensatorischen Bestreben Reisers wird auch seine Aversion gegen komische Rollen deutlich. Das hypernomische Rollenverhalten erlaubt es Reiser nur, ideale Rollen zu spielen; komische Rollen würden ihm nur seine (Angst vor der) Lächerlichkeit vor Augen halten. Lächerlichkeit ist für Anton Reiser ein Attribut des Ausgestoßenseins. Ein Erfolg in einer komischem Rolle erscheint ihm als "nicht der rechte Beifall".

Im Beifall des Publikums glaubt Reiser die Anerkennung seiner Person durch die Kreise zu erkennen, für die er gleichsam "bürgerlich gestorben" war. Diese Palingenesie vollzieht sich jedoch, was Reiser nicht bedenkt, auf der Bühne, und mittels einer Rolle. Anton Reiser fühlt sich durch den Beifall des Publikums weniger als Schauspieler, sondern vielmehr in seiner Identifikation mit der - idealen - Rolle bestätigt. Im Beifall ersehnt er sich die Aufhebung seiner Inkludenz. Aus diesem Umstand erklärt sich, dass Anton Reiser vor allem "jener Beifall aus der ersten Hand, den ein Schauspieler einernten kann, so wichtig und so lieb" ist. Am Theater ist "die Sucht nach Beifall gleichsam privilegiert". Die Möglichkeit, sich als Schauspieler "öffentlich zu seinem Vorteil zu zeigen", verspricht den Abbau von Remanenz dem eigenen Anspruch an das Selbst gegenüber, wobei daran zu erinnern ist, dass sich der Selbstanspruch des Melancholikers mit dem Anspruch seiner mitmenschlichen Umwelt an ihn geradezu multipliziert, und ein Zurückbleiben hinter der Vielzahl der kaum einlösbaren Ansprüche somit zwangsläufig wird. Ein Beifall aus "öffentlicher Hand" wird Anton Reiser zum "Sieg" über seine Verstrickung in divergierende Ansprüche an das Dasein, bei dem er sich endlich in die so sehr ersehnte umweltliche Ordnung aufgenommen fühlt: "Reisers Vater äußerte bei dieser Gelegenheit einen sehr wichtigen und wahren Gedanken, daß solche Vorfälle, wo einer sich öffentlich zu seinem Vortheil zu zeigen Gelegenheit hat, wie z. B. bei der Rede an der Königin Geburtstage, gleichsam wie ein Sieg zu betrachten wären, den man verfolgen müsse, weil dergleichen im Leben sich nur selten ereigne."

So ist das Erlebnis von Übereinstimmung, harmonischer Gemeinsamkeit, ein zentrales Motiv der Theatromanie Reisers, welche ihm "nicht sowohl Kunstbedürfnis als Lebensbedürfnis" ist. Der Reiz einer Theatertruppe wird in dem "immer festeren Aneinanderschließen" seiner Mitglieder beschrieben, die sich "Freude und Leid, gutes und schlechtes Wetter usw." miteinander teilen.

Die Legitimierung der melancholischen Seinsidentität durch andere findet bei Anton Reiser sowohl durch das Publikum als auch durch seine Schauspielerkollegen statt. Umso schlimmer ist es für Reiser, wenn er von diesen eine Rolle, die zu spielen er sich leidenschaftlich ersehnt hatte, nicht zugeteilt bekommt: "Reisers Kränkung hierüber war so groß, daß ihn dieser Vorfall in eine Art von wirklicher Melancholie stürzte." Hier wird die Inkludenz so stark, dass sie eine Bewältigung der eingetretenen Situation nicht mehr ermöglicht; Reiser stürzt in "eine Art von wirklicher Melancholie", die prämelancholische Situation wird in der Endokinese zur pathologischen ("wirklichen") Melancholie abgewandelt. In derartiger Verfassung verfolgt Anton Reiser nun, in einer Loge versteckt, das Probengeschehen, wobei er ausgestreckt am Boden liegend gegen sich selber wütet, "und seine Raserei ging so weit, daß er sich das Gesicht mit Glasscherben, die am Boden lagen, zerschnitt". Bei der Premiere kommt Reisers melancholische Depression erneut zum Ausbruch: "Während daß nun der Klavigo aufgeführt wurde, suchte Reiser in der Anziehstube dicht bei dem Theater, so viel wie möglich seine Sinne zu betäuben, und sich die Ohren zu verstopfen - jeder Laut, den er vom Theater hörte, war ihm ein Stich durch die Seele - denn hier war es, wo nun eben das schönste Gebäude seiner Phantasie, woran jahrelang gebaut worden war, wirklich scheiterte, und er mußte es selbst mit ansehen, ohne es im mindesten verhindern zu können - er suchte sich mit den beiden Rollen, die er noch zu spielen hatte, zu trösten, und alle seine Aufmerksamkeit darauf zu heften, aber es war vergeblich - während daß die Rolle des Klavigo nun von einem andern vor einer solchen Menge von Zuschauern wirklich gespielt wurden, war ihm zu Muthe wie einer der alle sein Haab und Gut ohne Rettung in den Flammen aufgehen sieht - noch bis zum letzten Tage hatte er immer gehofft, diese Rolle, es koste auch, was es wolle, zu erhalten - nun aber war alles vorbei."

Das Zurückbleiben hinter dem eigenen Anspruch und die daraus resultierende Selbstwidersprochenheit wird hier so prägnant, dass Reiser seine Ordnungen nicht mehr regelmäßig vollziehen kann, in der Abwandlung in "wirkliche Melancholie" glaubt er, dass nun "alles vorbei" sei; die Lebensbewegung stagniert in Reisers "Versteinerung".

Wenn Moritz darauf hinweist, dass die Theatromanie Anton Reisers "schon der Keim zu allen seinen künftigen Widerwärtigkeiten" ist, wird deutlich, dass die Art seiner Theaterleidenschaft schlechthin eine Tendenz zur Selbstwidersprochenheit, das heißt Inkludenz beziehungsweise Remanenz, bereits in sich birgt. So bildet sich Anton Reiser bereits anlässlich seiner ersten Theaterbesuche ein so hohes Ideal von der Schauspielkunst, so dass dieses "nachher nirgends befriedigt wurde und ihm doch weder Tag noch Nacht Ruhe ließ sondern ihn unaufhörlich um hertrieb und sein Leben unstet und flüchtig machte."

Reisers Vorstellungen von seinem eigenen Schauspielern sind ebenfalls deutlich von Inkludenz-Phänomenen geprägt. So dient ihm das Schauspielern etwa dazu, sich selbst zu vergessen, da er sich in seinem Eingeschlossensein nicht ertragen kann: "Da er nun niemand auf der Welt und auch sich selbst nicht einmal zum Freunde hatte, was konnte wohl anders sein Bestreben seyn, als sich, so viel und so oft wie möglich, selbst zu vergessen."

Das hypernomische Rollenverhalten Reisers im zwischenmenschlichen Bereich findet eine Entsprechung in seinem hypernomischen Rollenspielen im theatralen Bereich. Nicht nur glaubt er sich in der Rolle vergessen zu können; sie ermöglicht ihm vielmehr das scheinbare Verfolgen mitmenschlicher Ordnungen, auf deren Vollzug der Melancholiker so sehr angewiesen ist. Anton Reiser, der sich gern als Rad in einer Maschine begreift, glaubt sein Festgelegtsein auf den Vollzug mitmenschlicher Ordnungen als Rollenträger in einer Inszenierung erfüllt zu haben; in gleich dreifacher Weise scheint die Bedrohung durch Inkludenz auf der Bühne aufgehoben: Die Inszenierung bietet ein überschaubares "Aktionsfeld", auf welchem festgelegte mitmenschliche Bezüge ablaufen beziehungsweise dargestellt werden, wobei die Möglichkeiten unabsehbarer Situationsabwandlungen, welche der melancholische Typus nicht mitvollziehen könnte, durch den immer weitgehend gleichen Ablauf der Vorstellung nahezu ausgeschlossen scheinen. Die Geborgenheit in dieser mitmenschlichen Ordnung einer theatralen Inszenierung wird im symbiotischen Umweltbezug des Melancholikers noch dadurch verstärkt, dass Reiser selbst für die Rolle, die er spielt, nicht verantwortlich zu zeichnen braucht, die Legitimierung der eigenen Seinsidentität auf der Bühne kann der melancholische Reiser hier endlich dem Rollenpartner bezeihungsweise dem Autor der dramatischen Vorlage überlassen. Hier begegnet man der Konstellation, die Alfred Kraus als des Melancholikers "in das Für-andere-Sein entäußertes Für-sich-Sein" bezeichnet.

Drittens glaubt Anton Reiser, in einer Bühnenrolle seine Remanenz bezüglich "großmütiger, wohltätiger, edler, standhafter und über alles Demütigende und Erniedrigende erhabener Empfindungen" aufheben zu können: "wie schmachtete er, diese Empfindungen, die ihm so natürlich zu seyn schienen und die er doch stets entbehren mußte, nun einmal durch ein kurzes, täuschendes Spiel der Phantasie in sich wirklich zu machen. -

Das war es ohngefähr, was ihm die Idee vom Theater schon damals so reizend machte - Er fand sich hier gleichsam mit allen seinen Empfindungen und Gesinnungen wider, welche in die wirkliche Welt nicht paßten - Das Theater deuchte ihm eine natürlichere und angemeßnere Welt, als die wirkliche Welt, die ihn umgab."

Dass es sich dabei nur um ein "kurzes, täuschendes Spiel der Phantasie" handelt, wie Moritz anmerkt, wird Anton Reiser vorerst nicht bewusst: "Er glaubte, es könne ihm nicht fehlschlagen, weil er jede Rolle tief empfand, und sie in seiner eigenen Seele vollkommen darzustellen und auszuführen wußte - er konnte nicht unterscheiden, daß dies alles nur in ihm vorging, und daß es an äußerer Darstellungskraft ihm fehlte. - Ihm däuchte, die Stärke, womit er seine Rolle empfand, müsse alles mit sich fortreißen und ihn seiner selbst vergessen machen."

Der Hang zum Theater, in welchem Anton Reiser seine Inkludenz aufzuheben hofft, weist also seinerseits Phänomene der Inkludenz auf, wenn Moritz betont, dass Anton Reisers Darstellungskraft nur "in ihm" vorgeht und somit nicht nach außen dringen kann.

Auf diese Weise gerät sein Dasein in einen gefährlichen Zirkel, in welchem Reisers Inkludenz durch die Versuche zu ihrer Überwindung, sich auf dem Theater quasi selbst zu vergessen, geradezu noch verstärkt wird. All die genannten Phänomene der melancholischen Inkludenz Anton Reisers finden sich denn in Karl Philipp Moritz' Charakteristik des "falschen Kunsttriebes" wieder: "Weil er von Kindheit auf zu wenig eigene Existenz gehabt hatte, so zog ihn jedes Schicksal, das außer ihm war, desto stärker an; daher schrieb sich ganz natürlich während seiner Schuljahre, die Wuth, Komödien zu lesen und zu sehen."

In der symbiotischen Mitseinsform des Melancholikers Anton Reiser steht bereits dessen erwachendes Kunstinteresse unter dem Vorzeichen der Anziehungskraft jedes Schicksals, "das außer ihm war". In der Teilnahme an fremden Schicksalen, dem Nicht-für-sich-sein-Können des Melancholikers, wird dessen eigenes Schulden gegenüber seiner Existenz deutlich. Da er durch das Schulden immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen wird, erscheint sein Interesse an allem, das außer ihm ist, "ganz natürlich". Moritz fährt fort: "Durch jedes fremde Schicksal fühlte er sich gleichsam sich selbst entrissen, und fand nun in andern erst die Lebensflamme wieder, die in ihm selber durch den Druck von außen beinahe erloschen war."

So wird also nicht nur Reisers rezeptives Kunstverständnis geprägt von seinem Eingeschlossensein in Selbstwidersprochenheit, auch sein aktiver Kunsttrieb als Schauspieler stellt sich als ein Phänomen der Inkludenz heraus: "Es war also kein ächter Beruf, kein reiner Darstellungstrieb, der ihn anzog: Denn ihm lag mehr daran, die Scenen des Lebens in sich, als außer sich darzustellen. Er wollte für sich das alles haben, was die Kunst zum Opfer fordert."

Der gefährliche Zirkel, welcher Reisers Inkludenz noch verstärkt, begründet sich darin, dass Reiser im verzweifelten Versuch, die Grenzen seiner Inkludenz auf den Vollzug mitmenschlicher Ordnungen zu übersteigen, seinen Darstellungstrieb nur "in sich" zur Geltung bringt. Im Versuch, Kunst und Leben "in sich" zur Deckung zu bringen, muss Anton Reiser den Artefakt-Charakter des "reinen Darstellungstriebes" verfehlen und somit als Schauspieler scheitern: "Um seinetwillen wollte er die Lebensscenen spielen - sie zogen ihn nur an, weil er sich selbst darin gefiel, nicht weil an ihrer treuen Darstellung ihm alles lag. - Er täuschte sich selbst, indem er das für ächten Kunsttrieb nahm, was bloß in den zufälligen Umständen seines Lebens gegründet war. - Und diese Täuschung, wie viele Leiden hat sie ihm verursacht, wie viele Freuden ihm geraubt!

Hätte er damals das sichere Kennzeichen schon empfunden und gewußt, daß wer nicht über der Kunst sich selbst vergißt, zum Künstler nicht gebohren sey, wie manche vergebene Anstrengung, wie manchen verlohrnen Kummer hätte ihm dieß erspart!"

Selbstverständlich meint Moritz mit diesem Selbst-Vergessen als Kennzeichen echten Kunsttriebes nicht das melancholische Selbst-vergessen-Wollen Reisers, sondern die für das Kunstschaffen notwendige Trennung zwischen Leben und Kunst. Reiser aber verwechselt die "zufälligen Umstände seines Lebens" mit "echtem Kunsttrieb". Das Schauspielern ist für ihn eher "Lebensbedürfnis" als "Kunstbedürfnis". Moritz deutet hier die Fragwürdigkeit allzu wörtlich genommener "Selbstverwirklichung" auf dem Theater an, indem er Anton Reisers derartige Bestrebungen als "Selbsttäuschungen" zu erkennen gibt, in denen "Selbstverfehlungen" geradezu vorprogrammiert erscheinen: "Allein sein Schicksal war nun einmal von Kindheit an, die Leiden der Einbildungskraft zu dulden, zwischen welcher und seinem würklichen Zustande ein immerwährender Mißlaut herrschte, und die sich für jeden schönen Traum nachher mit bittern Quaalen rächte."

Wenngleich Anton Reiser mit jeder Rolle palingenetische Hoffnungen verknüpft, wird er doch durch sein Scheitern in der Kluft zwischen "Einbildungskraft" und "seinem würklichen Zustande" immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen. Die "Leiden der Einbildungskraft" sind ein Phänomen der Reiser'schen Inkludenz. Den "immerwährenden Mißlaut" zwischen Anspruch und Wirklichkeit kann Reiser auch als Schauspieler nicht aufheben.

Je weiter er hinter seinem pseudokünstlerischen Ideal zurückbleibt, sei es durch eigene mangelnde Qualifikation oder durch äußere Konstellationen, desto größer wird der "immerwährende Mißlaut", das heißt sein Gefühl des remanenten Schuldens, wodurch er wiederum gehindert wird, sein Ideal weiterhin gezielt zu verfolgen; er sieht "sein Hab und Gut in Flammen aufgehen". Aus diesem vitiosen Zirkel entsteht Inkludenz, das Eingeschlossensein in Selbstwiderspruch, welches die melancholische Abwandlung aus sich entlässt. Im zunehmenden "Mißlaut" seiner Inkludenz sinkt Anton Reiser am Ende seiner Selbsttäuschungen immer wieder in tiefe Melancholie zurück.

Melancholie bedeutet also sowohl den Ausgangspunkt als auch das Resultat von Reisers "falschem Kunsttrieb": "Da das Gebäude seiner Phantasie gescheitert war, und er die geräuschvollen Weltscenen weder im wirklichen Leben, noch auf dem Theater hatte durchspielen können, so fiel er nun, wie es gemeiniglich zu geschehen pflegt, mit seiner ganzen Empfindung auf das andere Extrem.

Ganz von der Welt vergessen, von Menschen abgeschieden in der stillen Einsamkeit seine Tage zu verleben, hatte einen unaussprechlichen Reiz für ihn - und diese Abgeschiedenheit erhielt in seinen Gedanken einen desto höhern Werth, je größer das Opfer war, das er brachte. - Denn das, worauf er Verzicht that, waren seine liebsten Wünsche, die in sein Wesen eingewebt schienen. -

Die Lampen und Kulissen, das glänzende Amphitheater war verschwunden, die einsame Zelle nahm ihn auf."

Das Scheitern auf dem Theater bedeutet für Anton Reiser den endgültigen Verzicht auf die Teilnahme an den "geräuschvollen Weltscenen". Er versucht nunmehr, sein Eingeschlossensein ("die einsame Zelle") zu akzeptieren und den ernüchternden Situationswandel mit seinem ganzen Dasein zu vollziehen, indem er das melancholische Gestimmtsein des Schuldens positiv umwertet: Im freiwilligen Verzicht auf eine Zukunft am Theater, in dem "großen Opfer", das Reiser gegen die "in sein Wesen eingewebten" Vorstellungen vom Schauspielertum aufbringt, scheint noch einmal die Ordnung der mitmenschlichen Bezüge gerettet. Die scheinbare Freiwilligkeit seines Entschlusses bewahrt Anton Reiser vor der Verzweiflung über das tatsächliche Ausmaß seines Scheiterns. Im freiwilligen Verzicht ist er der Ordnung des Theaterlebens noch entfernt verbunden, gleichzeitig kann er sich der eingebildeten Ordnung eines idealisierten Klosterlebens zuwenden. Die Gemeinschaft der "geräuschvollen Weltszenen" soll gegen die Gemeinschaft der "einsamen Zellen" vertauscht werden. Im Klosterleben glaubt Reiser, seine Inkludenz bewältigen zu können, da Inkludenz in der "einsamen Zelle" geradezu institutionalisiert scheint.

Da er diesen Gedanken an einen Verzicht auf das Theater jedoch nur im Zusammenhang mit der wehmütigen Empfindung an das "große Opfer", das dieser Verzicht bedeuten würde, erträgt, entpuppen sich Reisers Kloster-Fantasien als Spielart eben der Theatromanie, gegen die sie sich zu richten glaubten. Die Selbstwidersprochenheit des melancholischen Theatromanen erscheint somit um ein weiteres gesteigert, er wird zwangsläufig "rückfällig". Immer wieder reist (sic!) Anton Reiser in der vergeblichen Hoffnung auf ordentliche Aufnahme verschiedenen Theatertruppen hinterher, welche vor ihm geradezu zu fliehen scheinen.

In dem verzweifelten Hinterher-Reisen entsteht das Bild von Anton Reisers sprichwörtlichem Zurückbleiben, sowohl - innerlich - hinter seinen Selbstansprüchen, als - äußerlich - hinter dem Zug der Schauspieltruppen. Der Roman endet damit, dass er in Leipzig tatsächlich auf eine Gruppe Schauspieler trifft, "die er als seine zukünftigen Kollegen begrüßen wollte", es stellt sich jedoch heraus, dass sich die Truppe jüngst aufgelöst hat: "Die Sp... sche Truppe war also nun eine zerstreuete Herde."

In diesem letzten Satz des psychologischen Romans "Anton Reiser", der die "innere Geschichte" seines Helden zum Thema hat, verdeutlicht Karl Philipp Moritz symbolhaft noch einmal die verzweifelte Remanenz des melancholischen Anton Reiser.

Hinweise zur Aufhebung solchen Eingeschlossenseins in Selbstwidersprochenheit durch säkularisiert-mystische Entselbstung wird Moritz in seinem - gleichzeitig erscheinenden - Roman "Andreas Hartknopf" vorlegen. Das Thema Theatromanie hat er jedoch im "Anton Reiser" abgeschlossen; das Ende des Romans ist nur scheinbar "offen": Theatromanie endet unweigerlich in innerlicher wie äußerlicher "Zerstreuung".

Anmerkung der Redaktion: Der vorliegende Text ist ein Auszug aus der Magisterarbeit von Thomas Meinecke. Wir danken dem Autor herzlich für die Publikationsgenehmigung.


Titelbild

Karl Philipp Moritz: Sämtliche Werke. Kritische und kommentierte Ausgabe. Bd. 1: Anton Reiser. 2 Bände, Text und Kommentar.
Herausgegeben von Christoph Wingertszahn.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2006.
1300 Seiten, 234,00 EUR.
ISBN-10: 3484157011
ISBN-13: 9783484157019

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