Der Romancier am Puls der Zeit

Zwei umfangreiche Monografien zum Werk des Avantgardisten Heinrich Mann

Von Jochen StrobelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jochen Strobel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Platzierte man Heinrich Mann trotz und wegen des gegenwärtigen Booms der anscheinend berühmtesten deutschen Familie nicht immer so penetrant im langen Schatten des kleinen Bruders - dann müsste man nicht jede Gelegenheit nutzen, auf das lesenswerte Werk dieses wahrhaft modernen deutschsprachigen Schriftstellers hinzuweisen. Als dandyhafter Fin de siècle-Autor, als Anreger des Expressionismus oder als aristokratischer Demokrat war er zwar kaum je mehrheitsfähig, aber immer innovativ. Zwei umfangreiche Monografien aus der Schule Helmut Scheuers machen nachhaltig vor allem auf den jungen Heinrich Mann aufmerksam.

Dass der, abgesehen von seinem jugendlichen Ausrutscher als Redakteur einer rechten Zeitschrift, nicht gerade ein strammer deutscher Nationalist war, ist bekannt. Seine vor allem in den zwei Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg gepflegte Suche nach einer anderen, besseren Heimat in Italien zeichnet Chiara Cerri in ihrem informativen Buch nach. 21 Jahre verbrachte Mann weitgehend in Italien, die Handlungen vierer seiner Romane sind dort angesiedelt. Wenn sich die Literatur der Moderne gegen die gealterte deutsche Bildungstradition und gegen ein politisch und in seinem Kunstgeschmack erstarrtes Bürgertum wandte, dann ist Heinrich Mann in der Generation nach Nietzsche mit seiner engen Beziehung zu Italien ein Kronzeuge hierfür. Indessen kommt Manns Italienbild nicht ohne Stereotype aus, waren für ihn die Italiener doch nicht nur vorbildlich in ihrer demokratischen Gesinnung; sie galten ihm auch als sinnlich, aber geistlos. Cerri trägt die italienischen Intertexte Heinrich Manns zusammen und rekonstruiert die Italienbilder seiner Erzähltexte von der Landschaftsbeschreibung bis zur Schilderung der Städte, die, so Cerri, sich von denen anderer deutscher Italienreisender nicht nennenswert unterschieden. Heinrich Manns Leidenschaft für die Opern Puccinis und die Rezeption des Mythos vom Risorgimento gehören hierher. Cerris Thesen sichern sich meist bei vorausgegangenen Kennern Manns ab, oft sind sie spekulativ; als Nachschlagewerk ist das Buch aber zu empfehlen.

Kaja Papke unterzieht zwei bislang weniger beachtete, nicht leicht zu lesende (und oft wenig geschätzte) der frühen Romane Heinrich Manns einer minuziös sezierenden Lektüre: "Die Jagd nach Liebe" und "Zwischen den Rassen". In beiden Büchern erkennt sie "soziologische Romane". Das heißt nicht einfach, dass vorgeführt wird, wie sich gesellschaftliche Umstände auf Figuren auswirken, sondern dass diese Figuren eben ein Mentalitätenspektrum entwickeln, das die zeitgenössische soziale Wirklichkeit widerspiegelt, und in letzter Konsequenz: dass der Roman ein Instrumentarium vorwegnimmt, wie es der Soziologie erst seit Pierre Bourdieu zur Verfügung steht. Damit aber zeigten sich in Manns Romanen Beobachtungen des Autors an seinen Zeitgenossen, die erst späteren soziologischen Untersuchungsergebnissen entsprächen. "Die Jagd nach Liebe" ist ein Roman um die junge Schauspielerin Ute Ende, die die Machtstrukturen im Kunstbetrieb im wilhelminischen Deutschland lange Zeit unterschätzt. "Zwischen den Rassen" verfolgt den Weg der jungen deutsch-brasilianischen Protagonistin vom Ästhetizismus zum sozialen Engagement; er handelt teils in Deutschland, teils im gelobten Land des deutschen Künstlers, in Italien.

Da die Rezeption Heinrich Manns nicht zuletzt durch die immer wieder gern zitierten Vorwürfe des Bruders Thomas nun seit einem Jahrhundert behindert (oder nur verzögert?) wurde, ist die vermutlich detailfreudigste Lektüre, die diese beiden Romane wohl je erlebten, unbedingt anzuerkennen. Nicht überraschend ist, dass Papke die Konzentration der Romane auf den modernen Künstler hervorhebt, wie ihn auch Bourdieu beschreibt: Die Felder der kulturellen Produktion zählen zu den 'beherrschten' innerhalb des Feldes der Macht. Anders: der moderne Künstler ist zwar 'frei' in der Gestaltung seiner Kunstwerke, aber Macht hat er keine. Papke orientiert sich an Bourdieus These, gegen Ende des 19. Jahrhunderts sei das literarische Feld (in Frankreich) vollständig entwickelt, damit auch der Dualismus zwischen autonomer und kommerzieller Kunst sowie der Machtkampf zwischen den Künstlern beider Gruppen: an der "Mentalität" des angepassten Künstlers übten nun Heinrich Manns Romane Kritik.

Der Romancier Heinrich Mann ist demnach nicht nur so etwas wie Chronist seiner Zeit, sondern zählt auch zur erzähltechnischen Avantgarde: Überzeugend sind Papkes textnahe Analysen, die sich auf Genettes Erzähltheorie berufen und bis ins einzelne Mentalstile der Figuren zu rekonstruieren versuchen, dabei auch die Modernität von Manns Erzählpraxis offenlegen: die Leserlenkungsstrategien des Erzählers sind teils ununterscheidbar in die Figurenrede integriert, die eben von der des Erzählers nicht immer klar zu trennen ist. Die virtuose Verwendung erzählerischer Mittel wird dem genauen Leser ersichtlich als polyperspektivische Anlage von Mentalitäten: Die Erzählerstimme als Korrektiv der Figurenperspektive legt die Profitgier und das Machtstreben der Figuren bloß. Interessant und absolut begrüßenswert ist Papkes Versuch, Bourdieus feldanalytisches Instrumentarium mit einer narratologisch inspirierten Textanalyse und einer Analyse theatraler Verfahren der Figuren - ihrem Rollenverhalten als Streben nach Distinktionsgewinn - in Verbindung zu bringen.

Nachzudenken wäre nun darüber, ob der Mentalitätsbegriff, der ja eher Strukturen einer longue durée favorisiert, mit Bourdieus Habitusbegriff kompatibel sei, der wiederum auf die Dialektik von Disposition und je situativer Positionierung abhebt, dem also eine nicht zu vernachlässigende Komponente des Individuellen und der Veränderung innewohnt. Zu überlegen wäre, inwiefern Fiktion und Wissenschaft ('Soziologie') wenn nicht inkompatible, so doch differente epistemische Ordnungen repräsentieren, bei Heinrich Mann wie anderswo. Was genau an der Literatur soziologisch antizipativ sei, wird bei Papke nicht recht klar. Der aus dem 18. und 19. Jahrhundert überkommene 'Gesellschaftsroman' wird bei Heinrich Mann nicht wirklich zum 'Roman' der gleichzeitig entstehenden Soziologie. (Und: wären seine Romane nicht noch mehr auf die zeitgenössische Soziologie zu beziehen?)

Überhaupt die Gleichzeitigkeiten: Allzu wenig erfährt man vom 'wirklichen' Kaiserreich, von den faktischen 'Mentalitäten' - immer wieder geht es textnah um die in Heinrich Manns zurecht als nicht-realistisch verstandenen Romanen um überzeichnete Typen, geradezu Karikaturen. Den Roman als soziologische Mikroanalyse zu lesen, impliziert wiederum eine soziologische Widerspiegelungsthese, ohne dass genau dargelegt wird, wie die reflektierte Wirklichkeit denn ,tatsächlich' ausgesehen habe. Es fehlt zudem die Auseinandersetzung mit der Bourdieu-nahen Forschung der jüngeren Vergangenheit, vor allem mit Christine Magerskis kontrovers bewerteter Monografie zur Konstitution des literarischen Feldes in Deutschland nach 1871.

Beiden Büchern merkt man allzusehr die Dissertation an, sie wollen nichts auslassen - und warten mit einem Umfang auf, der dem wohlwollenden, aber manchmal auch ungeduldigen Rezensenten bald schon die Frage abringt, ob er's denn gar so genau wissen müsse. Aber um Heinrich Manns willen nimmt er alles in Kauf - und freut sich auf die in Vorbereitung befindliche Gesamtausgabe der Essays dieses vernachlässigten Autors.


Titelbild

Chiara Cerri: Heinrich Mann und Italien.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2006.
464 Seiten, 49,90 EUR.
ISBN-10: 3899755812
ISBN-13: 9783899755817

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Titelbild

Kaja Papke: Heinrich Manns Romane Die Jagd nach Liebe und Zwischen den Rassen. Mentalitäten, Habitusformen und ihre narrative Gestaltung.
Martin Meidenbauer Verlagsbuchhandlung, München 2007.
674 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783899750881

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