Ameisen und Regenwürmer mit der Lupe verbrannt
Reinhard Kaiser ist ein "Kindskopf"
Von Georg Patzer
Ja, er ist ein Kindskopf. Aber das ist ein Lob, kein Vorwurf. Ein Gewinn, kein Schaden. Nicht heute, nicht gestern, und auch nicht in den 1950er-Jahren, als der Erzähler aufwächst. Neugierig und etwas naiv erforscht er die Nachkriegszeit, den Garten seiner Eltern, das Atelier seines Vaters, das voller abstrakter Bilder hängt, den Foto- und Radioladen der Mutter und seines Onkels. Dabei erkennt er anderes als er es mit einem Erwachsenenblick könnte. Voller Naivität bringt er sich selbst mit einem Bilder-Brockhaus das Klavierspielen bei und findet beim Graben im Garten eine Bombe neben dem Apfelbaum: "Unter dem Humus lag der Krieg - Trümmer, Schutt und Scherben."
Noch vieles ist zu entdecken über die 1950er-Jahre, die ganze Idylle und den ganzen Dreck, den es damals gab. Vieles ist inzwischen wieder vergessen, vieles muss wohl immer wieder neu beschworen werden: Die harmonischen Seiten, als man noch draußen in aller Ruhe spielen konnte, und die harten, als es noch die Prügelstrafe gab, die Kommunisten verboten wurden. Damals, als die Vergangenheit, in der es nicht so sauber zuging, wie man es dann haben wollte, mit Macht verleugnet wurde.
Reinhard Kaiser, ein hochgelobter Übersetzer, der 1950 in Viersen am Niederrhein geboren wurde, erzählt von seiner eigenen Kindheit und stützt sich, wie schon in einigen anderen seiner Romane, auf dokumentarische Aufzeichnungen. Hier geht er von der peniblen Buchführung der Eltern aus, die über Wachstum und Fortschritte ihres Sohnes ganz genau Buch führten und wirklich jede Lebensäußerung des Kindes aufzeichneten.
Das ist natürlich eine wundervolle historische Quelle, wenn auch mit Vorsicht zu genießen. Kaiser, der auch seine Kindersünden beichtet, die Verbrennungen von Ameisen und Regenwürmern mit der Lupe, die religiösen Aufwallungen, die Faszination durch das Bilderbuch "Mit Hitler im Westen", das seltsamerweise den Krieg überlebt hat, die Misserfolge in der Schule. Er macht daraus einen Bericht, der sich aus vielen kleinen Einzelepisoden zusammensetzt. Er besticht vor allem durch das Bekenntnishafte, Dokumentarische und durch den leichten Ton, den Kaiser beherrscht, und die vielen witzigen und erhellenden Episoden wie der über die Verbindung zwischen der Zeitung und dem Klavierspielen: Denn schließlich spielt man doch vom Blatt, oder? Und so probiert Kaiser von a bis h die Zeitung zu vertonen - aber was macht man mit dem i oder dem k?
Die vielen Anekdoten setzen sich zu einem kleinen, auch etwas kleinbürgerlichen Bild zusammen, zu einem Entwicklungsroman, der recht anrührend ist. Ein großer Wurf ist das Buch nicht, aber amüsant.