Die List des limbischen Systems

Neurobiologen und Philosophen diskutieren über das Hirn als Subjekt

Von Yvonne WübbenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Yvonne Wübben

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor mehreren Jahren attackierten Neurobiologen einen philosophischen Subjektbegriff, der die Urheberschaft von Handlungen betraf. Der Hirnforscher Gerhard Roth warf in seinem Buch "Fühlen, Denken, Handeln" (2003) die philosophische Frage auf, ob der Mensch überhaupt frei sei oder nicht vielmehr in seinen Entscheidungen und Handlungen durch Gehirnprozesse determiniert. Er berief sich unter anderem auf die so genannten Libet-Experimente, die zeigten, dass der bewussten Handlungsentscheidung eine unbewusste Hirnaktivität vorangehe. Mit der Frage "Hirn als Subjekt?" eröffnete die "Zeitschrift für Philosophie" Anfang 2004 eine Diskussionsrunde, die auf diese Herausforderung reagierte und deren Ergebnisse nun als Sammelband vorliegen. Philosophen antworten darin auf Hirnforscher und befassen sich mit der vermeintlichen Renaturalisierung des Geistes, mit der Substitution von Geist durch das Gehirn.

In der Alltagssprache wurde diese Substitution allerdings längst vollzogen. Das Gehirn wird zum Akteur beziehungsweise zum grammatischen Subjekt auch solcher Sätze erhoben, die sich nicht primär auf chemische oder physikalische Eigenschaften des Gehirns beziehen. So sagen wir etwa, dass unsere Neurone nicht gut feuern, wenn wir meinen, dass wir müde sind. Oder wir reden von der List des limbischen Systems und suggerieren damit, einzelne Teile des Gehirns seien Träger vernünftiger Eigenschaften. Letztlich haben diese Redewendungen unser Selbstverständnis als handelnde Subjekte bislang kaum merklich beeinflusst. Begriffe der Hirnforschung gehen zwar rasch - wie schon Wilfrid Sellars 1963 feststellte - in die Alltagssprache über. Sie hinterlassen jedoch wenig nachweisliche Veränderungen im personalen Selbstverständnis.

In der wissenschaftlichen Diskussion geht es nun vor allem darum, wem die Deutungshoheit über subjektrelevante Redeweisen zukommt: Individuen oder Wissenschaftlern - und wenn letzteren, dann eher Neurobiologen, Philosophen, Soziologen oder Juristen? Der vorliegende Band inszeniert diesen Streit als inter- und innerdisziplinären, indem er unterschiedliche Fachvertreter zu Wort kommen lässt und ihnen die Möglichkeit gibt, Positionen differenzierter vorzutragen beziehungsweise plakative Redewendungen wie "Die Willensfreiheit ist eine Illusion" zu korrigieren. Ziel des Bandes ist somit nicht, Harmonie zu stiften, sondern Konsens über Dissens zu markieren und künftige Forschungsperspektiven abzustecken.

Gänzlich neu ist die Diskussion über die Willensfreiheit freilich nicht. Beiträger wie Jürgen Habermas fühlen sich daher zu Recht ins 19. Jahrhundert zurückversetzt. Der Herausgeber des Bandes Hans-Peter Krüger spricht sogar vom "Kulturkampf", wenn er der Hirnforschung eine christliche Hermeneutik attestiert, die eine privilegierte Innerlichkeit auf das Gehirn übertrage. Allerdings geht es ihm nicht um kulturelle Semantiken, die in aktuellen Beschreibungen des Gehirns greifbar wären (oder um deren historische Wurzeln beziehungsweise Transformationen), sondern um eine systematische Bilanzierung philosophischer Standpunkte angesichts der aktuellen Hirnforschung.

Der Blick in dieses Buch lohnt schon deshalb, weil es Arbeit an Begriffen leistet. Sie bleiben auf Ergebnisse der Hirnforschung bezogen und werden in Auseinandersetzung mit folgenden Fragen entwickelt: "Wie steht der Geist zur neurobiologischen Realität? Was sollen wir unter dem Ich oder der Person verstehen? Wie steht es um unsere Freiheit?". Ebenso breit wie dieser Fragenkatalog fallen freilich die Antworten aus, die hier kaum mehr als schematisch skizziert werden können.

Konsens herrscht offenbar in Bezug auf zwei Positionen. Erstens darüber, einen ontologischen Dualismus aufzugeben, das heißt von der Vorstellung abzulassen, der Geist könne ohne Gehirn existieren. Aufgegeben wurde ferner eine radikal-reduktionistische Position, die unter der Identitätsannahme jede Subjektstelle (auch in Sätzen wie "Ich habe Schmerzen") durch Beschreibungen neuronaler Hirnzustände ersetzen will. Selbst Hirnforscher wie Gerhard Roth lehnen diese Substitution ab und erkennen die Eigendimension der ersten Person Singular an. Denn sie beschreibe im Gegensatz zur Neurowissenschaft, wie sich "innere Zustände anfühlen".

Dennoch wird Roths Annahme von Jürgen Habermas als reduktionistisch kritisiert. Gegen die These von der Verursachung mentaler Zustände durch Hirnaktivität setzt er einen so genannten perspektivischen oder auch epistemischen Dualismus. Er hält die Differenz von Gründen und Ursachen, von erster und dritter Person für sprachlich unhintergehbar und warnt vor einer Übertragung der Libet-Experimente, die lediglich die Handlungsfreiheit untersuchten, auf die Wahlfreiheit. Aus evolutionstheoretischer Sicht zahle Roths Reduktionismus einen hohen Preis. Warum leiste sich die Natur den "Luxus der Gründe", die ja nicht "wie Fettaugen auf der Suppe des bewussten Lebens" schwämmen. Obschon Habermas die Entstehung des Geistes aus der Natur nicht bestreitet und damit einem ontologischen Determinismus nahe steht, betont er immer wieder die lebensweltliche Wechselwirkung zwischen Natur und Kultur und die "Programmierung des Gehirns durch kulturelle Praktiken".

Diese Auffassung blende allerdings, so Roth, entscheidende Fragen aus, nämlich die nach dem Zusammenhang von Geist und Gehirn. Wie mentale Zustände und Gehirnzustände "miteinander verbunden" sind, kann aber auch Roth nicht zeigen. Deshalb sind Nachfragen durchaus gerechtfertigt. Was misst das Bereitschaftspotential, das dem bewussten Handlungsvollzug vorausgehen soll, überhaupt? Und ist die Annahme, das neuronale Korrelat sei den Handlungen vorrangig, möglicherweise der Effekt einer weltanschaulichen Vorentscheidung? Die Verallgemeinerbarkeit einer empirisch nur an ausgewählten Individuen nachgewiesenen Determiniertheit bestreitet Arno Ros, der die Experimente für nur bedingt aussagekräftig hält. Gravierend fällt zudem eine methodische Kritik ins Gewicht. Uwe Kasper und Reinhard Olivier übertragen Heisenbergs Unschärferelation auf die Neurowissenschaften. Sie gehen von der Interferenz des Beobachtens aus, das heißt von der Unmöglichkeit, mentale oder physiologische Zustände objektiv zu erfassen. Daraus folge, dass psychologische und physiologische Zustände nicht gleichzeitig definierbar seien. Zur ihrer vollständigen Erfassung müssten schließlich alle Neurone abgeleitet beziehungsweise alle Komponenten eines mentalen Zustandes analysiert werden. Um Dynamik und Struktureigenschaften des Gehirns zu untersuchen, würden jedoch komplexe mathematische Modelle benötigt, die wiederum die Generierung sinnvoller Fragen erst ermöglichten.

In eine andere Richtung zielt die Forderung, das Verstehen als Forschungspraktik der Neurowissenschaften zu begreifen und die daraus ableitbaren Konsequenzen für die Experimentalwissenschaften zu untersuchen. Neurowissenschaftler wenden nämlich, so Gesa Lindemann, im Umgang mit ihren Versuchstieren, die sie durchaus wie freie Subjekte behandeln, hermeneutische Verfahren an und begäben sich damit in einen performativen Selbstwiderspruch. Die Diskrepanz zwischen Praxis und theoretischer Position zeige, dass das Verstehen im Forschungsalltag relevant sei und erste und dritte Personenperspektive, das Verstehen und Beobachten, vermittelt werden müssten. Lindemann fordert daher, Geist nicht mit individuellem Bewusstsein oder Subjekt gleichzusetzen, sondern in der Tradition der Geistphilosophie als intersubjektive Größe zu begreifen und mit den Methoden der Hirnforschung zu untersuchen. Sie plädiert für einen methodologischen Monismus im Sinne Helmuth Plessners. Durch diese Anregung weitet sich die Diskussion im vorliegenden Band schließlich zu einer Debatte über nomologisch verfahrende Naturwissenschaften und verstehende Geisteswissenschaften aus, wobei der Bezug zur Hirnforschung manchmal verloren geht.

Insgesamt lassen sich jedoch folgende Schlüsse ziehen: Den begrifflichen und hermeneutischen Herausforderungen, die die Hirnforscher Singer und Roth mit der Interpretation ihrer Ergebnisse aufgeworfen haben, sind sie oft selbst nicht gewachsen. Ihre terminologischen Verknappungen unterbieten zuweilen nicht nur philosophische Argumentationsstandards; sie führen ferner zu Beschränkungen in der eigenen Forschung. Das betrifft die so genannte zweite Ebene, also die Bedeutung und Funktion von Hirnprozessen, aber auch die Beschreibung elektrophysiologischer Prozesse. Philosophische Beiträger können die Implikationen neurowissenschaftlicher Begrifflichkeiten meist präziser erfassen. Sie führen zudem eine Methodenkritik vor, die die Selbstlimitierungen des zum Beispiel durch Roth vertretenen Ansatzes deutlich werden lässt.

Etwas kommt in dem Band allerdings zu kurz. "Wenn", schreibt Jürgen Habermas, "gesetzesartige Generalisierungen, die sich auf irreale Konditionalsätze stützen, konzeptuell auf die Vorstellung von instrumentellen Handlungen (im Sinn der intentionalen Erzeugung von Effekten in der Welt) angewiesen sind, umfasst die 'Natur' der Naturwissenschaften alles, aber auch nur das, was sich von der Wirklichkeit unter dem Aspekt der technischen Verfügbarmachung objektivieren lässt."

Für viele Philosophen mag in diesem Satz eine Kritik am vermeintlich reduktionistischen Wirklichkeitsverständnis der technisierten Naturwissenschaft anklingen. Er könnte jedoch Aufhänger sein, um die neurophysiologische Forschungspraxis nochmals näher zu beleuchten. Elektrophysiologische und andere chemische Eigenschaften des Gehirns werden in Experimentalsystemen erzeugt, die, wie Gesa Lindemann gezeigt hat, ihre eigene Logik entwickeln und von kulturellen Praktiken abhängen. An diesen scheint die aktuelle Subjektphilosophie allerdings weniger interessiert zu sein.


Titelbild

Hans Peter Krüger (Hg.): Hirn als Subjekt? Philosophische Grenzfragen der Neurobiologie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie / Sonderband 15.
Akademie Verlag, Berlin 2007.
444 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783050042107

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