Der deutsche Dickens

Jeffrey L. Sammons untersucht das Werk des fast vergessenen Friedrich Spielhagen

Von Stephan LandshuterRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Landshuter

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

In den Grüften deutscher Literaturgeschichtsschreibung ruhen einige Schriftsteller, die dieses Schicksal nicht verdient haben. Karl Gutzkow wäre ein Beispiel dafür, dass es gelingen kann, einen Autor - zumindest in einem kundigen Kreis - wieder dem Leben zuzuführen. Gutzkows Zeitgenosse Friedrich Spielhagen wäre ein Autor, für den eine solche verdiente Wiederbelebung noch aussteht. Im "Brockhaus" von 1868 wird Spielhagen als "deutscher Dickens" gelobt, und in England und Russland galt er um 1880 als einer der bedeutendsten deutschen lebenden Schriftsteller, woran sich ablesen lässt, wie erfolgreich dessen Karriere als Romancier mit den Romanen "Problematische Naturen" (1861/62), "Die von Hohenstein" (1864) und "In Reih und Glied" (1866) begonnen hatte. Auch danach gelangen Spielhagen noch viele Bestseller, der bekannteste darunter gewiss der ausladende Gegenwartsroman "Sturmflut" (1877), der vor einigen Jahren in einem Rostocker Verlag halbherzig und unbrauchbar, weil um über die Hälfte gekürzt, neu aufgelegt wurde. Unter den wenigen Neuausgaben ragt diejenige des spannenden Romans "Platt Land" (1879, neu 1996 bei Manuscriptum) heraus. Aber auch im Spätwerk der Neunziger Jahre verstecken sich einige Perlen wie der Roman "Faustulus" (1898) oder der in nihilistischem Furor endende Roman "Frei geboren" (1900), der Spielhagens letztes Werk sein sollte.

Der bekannte Realismusforscher Jeffrey L. Sammons legte nun - in englischer Sprache, so seien nicht-anglophile Germanisten gewarnt - eine große Monografie über diesen Autor vor, womit Sammons seine verdienstvolle Tetralogie über den deutschen Roman des 19. Jahrhunderts beendete, die unter anderem Untersuchungen über Wilhelm Raabe, Charles Sealsfield, Friedrich Gerstäcker und die "jungdeutsche" Phase beinhaltete.

Zunächst sei eine unübersehbare Qualität dieses Buches benannt: Sammons vermag es, Interesse für Spielhagens Werk zu wecken, indem er viele der Romane und ihre Hauptfiguren sehr lebendig beschreibt. Es schiene naheliegend, die Passagen, in denen die "Plots" der Romane nachgezeichnet werden, als überflüssig abzutun; man bedenke dabei aber, dass Sammons über Werke spricht, bei denen er nicht davon ausgehen kann, dass sein Leser diese auch nur vom Hörensagen kennt. Diese Art der ersten Bekanntmachung mit unbekannten Werken ist also überaus sinnvoll.

Leider gibt es aber auch Defizite vielfältiger Natur zu monieren, durch die das Projekt ein wenig getrübt wird - zumindest dann, wenn man Sammons' Buch nicht nur als launigen Essay, sondern als literaturwissenschaftliche Untersuchung auffassen möchte: Ein Grundproblem von Sammons' Untersuchung ist schon in seiner nicht eben stimmigen Gliederung zu finden. Dass Sammons das Spielhagen'sche Werk dabei in zwei Blöcke teilt - vor 1871 und danach - ist dabei noch legitim, aber auch nicht unproblematisch, eben weil eine enge Verknüpfung von literarischer und politischer Historie selbst bei einem vergleichsweise stark politisierten Werk wie diesem nie so recht funktionieren will beziehungsweise den Fokus der Betrachtung auf den politisch-historischen Diskurs verengt. Das weitaus größere Problem ist, dass Sammons zwischen diese beiden Großkapitel einen weiteren knapp 100-seitigen Block einfügt, in dem er die "Themes" von Spielhagens Werk beschreibt. Dies hat zur Folge, dass Sammons in der Mitte seines Buches permanent auf Romane nach 1871 verweisen muss, die er erst viele Seiten später eingehend vorstellen wird. Man bedenke hierbei das Faktum, dass vor 1871 nur vier Romane, nach 1871 aber noch über zwanzig weitere erschienen, das heißt der Leser, der noch unvertraut ist mit den Spielhagen'schen Romanen nach 1871, wird in diesen Kapiteln völlig unnötig verwirrt und allein gelassen. Es ist somit ein Rätsel, weshalb die Teile II und III nicht getauscht wurden, um dieses doch offensichtliche Problem zu umgehen.

Ebenso unverständlich ist, was die Unterpunkte "The Decline Of Reputation" und "The Demon Of Theory" im ersten Teil zu suchen haben, denn sowohl der allmähliche Niedergang der Popularität Spielhagens, der mit dem Traktat der Gebrüder Hart 1884 eingeläutet wurde, als auch Spielhagens bedeutendste Versuche als Erzähltheoretiker fallen ja eher nicht in die frühen Jahre vor 1871. Eine Arbeit, die in ihrer Grundstruktur derart unbegründbare Haken schlägt, macht es dem Leser wie dem Kritiker nicht leicht.

Um den Punkt der unseligen Gliederung abzuschließen, sei auch noch das an den Hauptteil etwas angeklebt wirkende Kapitel über Raabe und Spielhagen erwähnt. So manche angebliche Parallelen zwischen Raabes und Spielhagens Romanen in diesem Essay, der hier zweitverwertet wird, erscheinen doch ein wenig arg an den Haaren herbeigezogen. Immerhin bemerkt Sammons selbst, dass einiges von dem, was er sagt, "not wissenschaftlich" sei, und er stellt denn doch fest: "Textual parallels are notoriously easy to find in large corpuses of writing, especially when they belong to the same age and cultural environment." Es ist schon kurios zu beobachten, wie ein Forscher die Relevanz seiner eigenen, eben erst aufgestellten Hypothesen selbst gleich wieder in Frage stellt. Sammons erwies seinem Projekt wohl keinen großen Gefallen, es mit einem derart spekulativen "Epilogue" abzuschließen.

Ein weiterer Kritikpunkt ist in Sammons' altgermanistischer Manie zu sehen, Rückschlüsse aus dem Werk auf die Autorpsyche zu ziehen. Man dachte eigentlich, derart simple Kurzschlüsse gehörten der Vergangenheit an, in diesem Buch aber feiern sie fröhliche Urständ. Anstatt nur über semantische Inhalte der Werke zu reden, spricht Sammons in wahrhaft penetranter Permanenz immer auch über die Person Spielhagen, und zwar so, wie er sie sich aus Textpassagen zusammenreimt. Sammons untersucht also zum einen durchaus die Texte, gleichzeitig aber liegt Spielhagen bei ihm auf der Psychocouch und muss sich erklären lassen, wie seine Psyche angeblich funktioniert hat. Ebenso nervtötend ist der dabei bisweilen etwas onkelhafte Ton: "Spielhagen was not a stupid man." Schön zu hören.

So sehr es einen angesichts der Vielbelesenheit und Leidenschaftlichkeit eines Germanisten wie Sammons schmerzt, die natürlich Respekt gebieten: Man hätte sich als Monografie über einen so bedeutenden Autor wie Spielhagen eine Darstellung gewünscht, die gliederungstechnisch ein wenig durchdachter und inhaltlich wie analytisch ein wenig mehr auf der Höhe der Zeit gewesen wäre. Das Spielhagen'sche Werk wird hier nur in ersten Ansätzen interpretiert, zuviele Passagen in Sammons' Buch bleiben letztlich an der Oberfläche der Texte haften, nur punktuell gelingen Sammons wirklich originelle Beobachtungen, die ihn zu tiefer gehenden Hypothesen gelangen lassen. Trotz dieser bedauerlichen Defizite hat dieses Buch, wie schon beschrieben, seinen Wert, der vor allem in den leidenschaftlichen Nacherzählungen vieler Romane liegt. Und auch so manches Einzelkapitel aus dem zweiten Teil "Themes" enthält gute Gedanken, an denen andere Forscher anknüpfen können.

Abschließend sei noch eine kühne Hoffnung ausgesprochen: Vielleicht wagt ein Verlag ja doch einmal eine - ungekürzte! - Neuauflage der "Sturmflut", der "Problematischen Naturen" oder von "Hammer und Amboss". Diese Romane hätten es verdient, zugänglich zu sein.


Titelbild

Jeffrey L. Sammons: Friedrich Spielhagen. Novelist of Germany's False Dawn.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2004.
340 Seiten, 66,00 EUR.
ISBN-10: 3484321172

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