Immer gut schlafen

Der Romancier Martin Gülich erprobt in "Später Schnee" sein Talent

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Martin Gülich beginnt mit einem famosen Satz: "Das Jahr hatte sich auf die Seite gelegt." Eben das kann man auch vom Leben des namenlos bleibenden Ich-Erzählers sagen. Der 52-jährige Kauz und Neurotiker hat sich längst in seiner ausgeklügelt ereignislosen Restexistenz eingerichtet. Sein Lieblingsgericht sind Dampfnudeln, die einzige Abwechslung die Kegelabende im Sportlerheim, das einzige Glück die Besuche im Nilpferdhaus. Seine bescheidene Unabhängigkeit verdankt der ehemalige Angestellte einem Erbe. Unnötig zu sagen, dass der Erzähler längst das Vorhaben aufgegeben hat, seiner "Frauenlosigkeit" ein Ende zu setzen.

Er begnügt sich mit den Händen von Frau Fu, der schwergewichtigen Masseurin, die ihn nach dem Thermalbad mit chinesischen Weisheiten beglückt wie "Immer gut schlafen". Dass sein Leben zum Jahreswechsel dann doch aus den Fugen gerät, hat mehrere Gründe. Da ist zum einen der Kegelbruder Hartmann, der sich unter einem durchsichtigen Vorwand in der Wohnung des Erzählers einnistet. Natürlich fehlt diesem das Rückgrat, dem ungebetenen Mitbewohner die Tür zu weisen. "Ich hatte mich an Hartmann gewöhnt, so wie man sich an einen Goldhamster oder einen Wellensittich gewöhnt", sinniert er. "Sie machen Dreck, aber wenn sie weg sind, ist man schon ein bisschen traurig."

Und da ist Seiffert, noch ein Kegelbruder. Seiffert ist überraschend an Leberkrebs gestorben. Dafür erhält er posthum so viel Aufmerksamkeit, dass Gülichs Protagonist nicht widerstehen kann, für sich ebenfalls Leberkrebs zu reklamieren. Freilich verselbstständigt sich das Schauermärchen rasch, bis man ihm zu Ehren sogar ein Abschiedskegeln veranstaltet. "Eine Enttarnung meiner Sterbensgeschichte wurde immer mehr zur Unmöglichkeit. Ja, vielleicht musste ich tatsächlich sterben, um einigermaßen wieder aus dieser Sache herauszukommen."

Vor allem aber ist da Annegret. Genauer gesagt, Annegret I und II. Annegret I ruft eines Tages an, weil sie den Erzähler zunächst mit einem alten Freund aus Boston verwechselt, das Treffen wird zum erwarteten Reinfall. Annegret II aber, die er kurz darauf beim Weihnachtsessen bei einem Bekannten trifft und in der Annahme, es handele sich erneut um Annegret I, zur Wiedergutmachung mit einem Bildband über Boston beglückt, setzt dann das große Fantasiekarussell in Betrieb.

Schon beim Gedanken an ein Wiedersehen fängt der Erzähler zu halluzinieren an: "Die ganze Stadt ist voller Annegret-Imitationen." Einmal taucht die Angebetete sogar wie aus dem Nichts im Nilpferdhaus auf und flüstert: "Würden Sie mit mir schlafen?" Amüsanterweise fragt sie das wirklich und nicht nur eingebildet. Glücksillusion und Unglücksrealität sind in Gülichs Roman nicht immer leicht zu unterscheiden. Mit "Später Schnee" hat der Freiburger Autor, der zuletzt 2005 mit "Die Umarmung" reüssierte, eine weitere beachtliche Probe seines Talents vorgelegt - voll mit tragikomischen Szenen und skurrilen Figuren, ebenso lakonisch wie vergnüglich und wunderbar leicht zu lesen.


Titelbild

Martin Gülich: Später Schnee. Roman.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2006.
158 Seiten, 17,90 EUR.
ISBN-10: 3895613045

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