Der Sommer des Kometen

Ein Roman wie die Zeitung von gestern: Douglas Couplands "Eleanor Rigby"

Von Stefan MeschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Mesch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"All the lonely people / where do they all come from?"

"Ich komme mir vor wie dieser eine Scrabblestein ohne Buchstaben", erzählt die Erzählerin in Douglas Couplands aktuellem Roman "Eleanor Rigby": "Ich bin ein Styroporflöckchen aus einer Verpackung. Ich bin eine Serviette bei McDonalds. Ich bin ein Stück Klarsicht-Klebeband." Ihr Name ist Liz Dunn. Ihr E-Mail-Alias ist "Eleanor Rigby". Wie die welke, traurige Jungfer aus dem Beatles-Song.

Die Romane des 1961 geborenen Kanadiers Douglas Coupland stecken voller Musik-Zitate und TV-Referenzen: Archivliteratur eben, Medienliteratur. Literatur, die von Pop erzählt und davon, wie Pop Lieder sammelt und Lügen, Helden und Märchen, und wie er sich vollsaugt mit den Ikonografien aus Werbung und Politik. Pop, der abbildet und kopiert, auseinanderreißt und aufreiht, verdaut und gebiert. Pop, der Alltag frisst, Hochkultur und Warenwelt, und am allerliebsten frisst dieser Pop: Pop.

Rolf Dieter Brinkmann brachte solche literarischen Sammel- und Montageverfahren aus den USA nach Deutschland, forcierte sie in Texten und Bildcollagen. In seinem Debüt "Keiner weiß mehr" (1968) ließ er den Erzähler beim Gang durch die anonymen Kaufhallen in der Fußgängerzone aufzählen ("Deutschland, verrecke!"), was heute, also jetzt, also 1968, wie Metastasen in den Alltag drang, ihn angriff und verdarb: Roy Black, Udo Jürgens, Thomas Fritsch und Thomas Liessem, das Fanta-Mädchen, das Helanca-Mädchen, Hildegard Knef, Erzbischof Kardinal Frings, der NDR, der WDR, der Südwestfunk, Hans-Jürgen Bäumler, Marika Kilius, Pepsi-Mädchen Gitte und Luxor-Schönheit Nadja Tiller.

Luxor-Schönheit wer? Ohne solche polternden, kulturkritischen Trash-Chronisten wie Brinkmann wären diese populärkulturellen Obskuritäten längst vergessen. Und noch heute wird diese Sorte Jetztzeit-Archivierung in Deutschland unter dem Namen "Pop" subsummiert. Ganz egal, wie ausgefuchst und komplex ihre Schreibweisen auch geworden sind: Medien-Autoren wie Dietmar Dath, Rainald Goetz, Andreas Neumeister oder Jörg Albrecht kombinieren das Platte und Laute, das unverblümt Kommerzielle, mit den sperrigen poetologischen Verfahren der Avantgarde-Literatur. Ihr Themen sind alltäglich. Ihre Sprache ist es nicht.

In der US-Literatur ist das alles komplizierter. Dort fehlen solche komplexen Avantgarde-Schreibweisen. Und dort fehlt das Label "Pop": Alltag archivieren, die Warenwelt abbilden, Filme und Popsongs zitieren, das gehört - von John Updike und Stephen King bis zu Stewart O'Nan oder Jonathan Franzen - zum guten Ton jedes erwachsenen Gegenwartsromans. Wenn ein solcher mediensatter Erzählton mal in Deutschland angeschlagen wird - Thomas von Steinaeckers großartiger, aber erzählerisch recht braver Familienroman "Wallner beginnt zu fliegen" ein aktuelles Beispiel - geifern gleich wieder alle: "Leben mit Pop" [der Tagesspiegel], "Ein Popstar der Zukunft" [Deutschlandradio], oder, in der defensiven Diktion eines Amazon-Kunden: "Anspruch meets Pop".

"Pop" heißt in diesem Zusammenhang: "Da ist Alltag drin!" - und mehr nicht. Und entsprechend groß sind die Enttäuschungen, wenn einer der Altvorderen (aus dem englischen Raum) mal wieder ein Buch herausbringt. Denn sprachlich-stilistisch tut sich dort nichts! Die Pop-Pioniere, die vor zehn, vor zwanzig Jahren einmal ein Buch der Stunde geschrieben haben, ein kontroverses Themenfeld absteckten, auf dem man sich bis heute tummelt - erzählerisch blieben sie konventionell: die brutalen Neurosen von Bret Easton Ellis, der skurrilen männlichen Subkulturen von Nick Hornby, die Trips Irvine Welshs, die urbanen Horrorszenarios Chuck Palahniuks. Und eben: Douglas "Generation X" Coupland. Sein 2004er-Roman "Eleanor Rigby" handelt von Einsamkeit und sozialer Isolation, ein kuschliger, kreuzbrav erzählter Problemroman, voller Zeitgeistbezüge der Jahre 1997 (Hale-Bopp!) bis 2004 (Anti-Terror-Wahn!). Fragt sich nur, ob das noch dazu gehört? Passt das, ist das noch Pop? So richtig? Oder ist Pop-Pionier Coupland schon vom Mainstream überholt worden?

"All the lonely people / where do they all belong?"

"Ich bin eine graue Maus", erzählt Erzählerin Liz Dunn weiter: "Als ich geboren wurde, warf der Arzt einen Blick auf das blutverschmierte, schreiende Etwas in seinem Arm und fragte die Schwester, ob es am Abend irgendwas Gutes im Fernsehen gebe. Meine Eltern schauten mich an, sagten 'Soso' und besprachen dann, in welcher Farbe sie das Wohnzimmersofa beziehen lassen sollten. Und das ist nicht witzig gemeint. Die Menschen schauen mich an und vergessen, dass ich da bin."

Und Liz hat Recht: Das ist wirklich nicht witzig gemeint. Sie ist 36, hat einen öden Bürojob, wohnt seit Jahren allein. Ihre Wochenenden verbringt sie mit Videos und Junkfood auf der Couch. Sie hat keinen Sex, keine Freunde. Kein Leben. Wo der Schuh drückt, das erklärt sie den Lesern so eifrig, bis es auch der Dümmste versteht: "Ich bin fett. Dass ich ein dickes Kind war, habe ich schon erwähnt, aber auch als Frau bin ich noch fett. So. Vielleicht wollt ihr am liebsten gar nicht mehr über mich wissen. Wer interessiert sich schon für das Leben einer Dicken oder dafür, was in ihrem Kopf vorgeht? Sicher quillt das Fett, ohne dass ich es merke, aus jedem Wort, das ich sage. Selbst SCHMALZ wenn KOHLENHYDRATE ich KALORIEN mich ZUCKER zu beherrschen SCHWEIN versuche FLEISCH, rede CHOLESTERIN ich SELLERIE wie HÜTTENKÄSE ein THUNFISCH Fettwanst."

Doch dann passiert etwas Verrücktes: Liz trifft Jeremy, den Jungen, den sie vor 20 Jahren zur Adoption freigegeben hat. Jeremy ist ein verdrogter Matratzenverkäufer, hat seltsam prophetische Träume vom Ende der Welt, kann Lieder problemlos rückwärts singen ("Melodioanagrammatizismus", doziert er), und leidet an einer besonders aggressiven Variante von Multipler Sklerose. Liz ist durcheinander, Liz ist verwirrt. Liz erklärt uns: "Im Grunde hatte sich, bevor Jeremy auftauchte, alles nur darum gedreht: mein Leben so zu arrangieren, dass ich es vergessen konnte, während es stattfand." Vier Seiten später erklärt sie uns: "Jeremy war wie ein frischer Anstrich, der mich für die Welt sichtbar gemacht hatte." Und weitere vier Seiten später erklärt sie dann: "Bevor Jeremy in mein Leben getreten ist, habe ich nicht besonders viel über jedwede Art von Glauben nachgedacht. Mit seinen Visionen tauchten die ersten Anzeichen eines Erwachens in mir auf."

Ohgottogott, Coupland tut es schon wieder! Statt psychologisch halbwegs überzeugende Figuren miteinander agieren zu lassen, fällt der Rest des Romans den drei allerschlimmsten Coupland-Marotten zum Opfer. Marotte Nummer 1: die neurotische Sinnsuche sämtlicher Figuren ("Jeremys Aufgabe war es, den Menschen Dinge zu verkünden, und nun hatte er beschlossen, diese Aufgabe an mich weiterzugeben."). Marotte Nummer 2: das unmotiviert ins Geschehen einbrechende Übernatürliche ("Und dann schwebte ich über den Farmern - ich schwebte über der Prärie, und ich schaute auf sie und ihre Frauen und Kinder herab."). Und, Marotte Nummer 3: haarsträubende Zufälle ("Ich steckte den Meteoriten in meine Manteltasche...", "Ich schreibe diese Zeilen aus einer deutschen Gefängniszelle, in Mörfelden...", "Eine Verzierung am Griff des Sarges hatte seine Lunge durchbohrt...").

"Mein ganzes Single-Leben lang habe ich nicht ein einziges Mal mit dem Gedanken gespielt, das Alleinsein als Segen zu empfinden", beschwert sich Liz Dunn. "Ich habe alle Bücher zu dem Thema gelesen [...]. Die Verfasser warten ausnahmslos mit lauter verstaubten Autoren vergangener Epochen auf, die es gewagt haben, die Einsamkeit zu thematisieren, ohne sie jedoch beim Namen zu nennen. Immer ist nur von einem Baum, einem Schmetterling oder einem Teich die Rede - tote Schwule des neunzehnten Jahrhunderts, die über Bäume und Seen schrieben [...]. Heutzutage würden die alle in Lederbars rumhängen."

"No one comes near / nobody came / no one was saved"

Anscheinend war das Douglas Couplands großes Ziel, eine mutige, umfassende literarische Bearbeitung des Themas "Einsamkeit". Nix war's! Er liefert ähnlich banal-unmotivierten Rotz ab wie in seinem Ende-der-Welt-Roman "Girlfriend in a Coma" (1998). Alles wirkt irgendwie parabelhaft und überzeichnet, schreit nach tieferer Bedeutung, erschließt sich aber kein Stück. Nichts als (sehr brave) Alltags-, Pop- und Konsummomente, Passagen also über Coffeeshops und Binge Eating, Eurotrash und Casual Fridays. Douglas Coupland ist insofern "aktuell", als er gern mal sein ganzes Figurenensemble Jobs als Produktionsassistenten bei "Akte X" ergreifen lässt. Aber ohne dass dahinter irgend eine schlüssige Motivik greifbar würde.

"Spielen Sie manchmal Lotto?" - "Nein." - "Warum nicht?" - "Das hat mich zwar noch nie jemand gefragt, aber ich habe eine klare Meinung zu diesem Thema", antwortet Liz Dunn wie aus der Pistole geschossen. Und so laufen die meisten Dialoge in "Eleanor Rigby", die Figuren scheinen zu sagen: "Es gibt keinen Grund, darüber zu sprechen. Es passt nicht in den Spannungsbogen. Aber ich werde gerne ausführlich meine persönliche Haltung zu dieser und jener Banalität aus dem Alltag dozieren."

Ist das Pop? Formal sicher nicht, nein. Und motivisch? Fühlt man sich an "Seinfeld" erinnert, die bewusst pointenlose US-Sitcom aus den Neunzigern, in der nie etwas von Belang geschah, und die deshalb kokettierte, eine "Show about nothing" zu sein. Coupland, ein bescheidener schwuler Kanadier mit Weißbrotgesicht und Allerweltsfrisur, schlenzt sich halt so durch, durch die Reizthemen der Gegenwart. Er erzählt bittersüße Geschichten ohne Spannungsbogen, im Mittelpunkt unauffällige Menschen, die sonst eher am Rand stehen. Zwischendurch-Romane für regnerische Sonntage, Romane, die man nur leiden können wird, wenn man die Pop- und Avantgarderegister mal beiseite schiebt. Und, am wichtigsten: Coupland eben nicht als großen Archivisten liest, als (so Hoffmann und Campe) "literarischer Chronist der postindustriellen Gesellschaft".

"Achtungachtung!", schreit einem jeder neue Houellebecq-Roman entgegen, "Klone sind das Thema der Stunde, und Thai-Sex!". Nick Hornby veröffentlicht ständig irgendwelche Pamphlete über seine allerwichtigsten Songs und seine allerprägendsten Romane. Und auch Coupland scheint einer zu sein, der vor jeder Publikation (zum Beispiel dem Microsoft-Roman "Mikrosklaven" von 1995, der Bubble-Economy-Novelle "God hates Japan" von 2001, dem Web-2.0-Roman "JPod" von 2006) beflissen mit dem Textmarker durch Newsweek und Wired pirscht, auf der Jagd nach Zeitgeistthemen, die er unterrühren kann. Aber deshalb jeden Coupland-Roman als riesigen Zeigefinger lesen müssen, der bohrt, wie tief die westliche Welt schon in der Scheiße steckt? Nein, keine Lust!

Als Archiv ist Literatur schon längst wieder abgelöst worden: vom Internet und diversen Fan-Kulturen, von Ranking-Shows im Fernsehen und den beflissenen Cultural Studies. Gegenwart festhalten, dazu braucht man keine Jetztjetztjetzt-Romane. Jedenfalls nicht, wenn sie so konventionell erzählt sind wie die Arbeiten Douglas Couplands. Stilistisch-formale Pop-Avantgarde, die sprießt in Deutschland, nicht in Kanada. Und vielleicht wäre es schöner, wenn Coupland - statt die Einsamkeit einfach nur überdeutlich beim Namen zu nennen - lieber ordentlich von ihr erzählt hätte, statt immer nur von Subway und Capt'n Crunch und 7/11. Wie wär's mal mit einem einfachen Baum, einem Schmetterling? Oder einem Teich?

Titelbild

Douglas Coupland: Eleanor Rigby. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Tina Hohl.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2006.
271 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-10: 3455400078

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