Wahrlich: Ein Zankapfel!

Bernulf Kanitscheiders "naturalistische Wissenschaftsphilosophie"

Von Josef BordatRSS-Newsfeed neuer Artikel von Josef Bordat

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine philosophische Auseinandersetzung mit Wissen und Wissenschaft verweist entweder auf eine metaphysische, übernatürliche Ursache beziehungsweise Grundlage dessen, was wir Welt und Wirklichkeit nennen, oder aber sie verwirft diese Vorstellung einer Übernatur zugunsten einer naturalistischen Grundlegung des physikalischen Welt-Systems, bleibt also innerhalb dieses Systems und argumentiert mit dessen Mitteln. Bernulf Kanitscheider, zuletzt Professor für "Philosophie der Naturwissenschaft" in Gießen, wählt in der vorgelegten wissenschaftstheoretischen Abhandlung "Die Materie und ihre Schatten" letzteren Zugang, den er selbst für den rationalen, klaren, und daher ausschließlich gültigen hält.

Wie es zu dieser Erkenntnis kam, erklärt er in einer ausführlichen biografischen Einleitung, in der von einigen intellektuellen "Erweckungserlebnissen" die Rede ist: Carnap trieb ihm an Heidegger die Metaphysik aus; die Bekanntschaft mit Stegmüllers Werken prägte ihn ebenso wie die Alpbacher Hochschulwochen, jenen "positivistischen Flugplatz" im katholischen Nachkriegs-Österreich, auf dem die Protagonisten des Wiener Kreises (Carnap, Popper, Albert) regelmäßig landeten. Kanitscheiders Verhältnis zum kantischen Idealismus wird, ob dessen "verhängnisvollem, obskuren (spekulativen) romantischen" Duktus zunehmend kritisch, was ihn jedoch nicht davon abhielt, auch jetzt noch sein Buch in der typischen, auf Kant basierenden Struktur zu komponieren: erst wird in sechs Kapiteln die Theoretische Philosophie, dann in zwei Kapiteln die Praktische Philosophie abgehandelt, stets unter der Prämisse des Materialismus respektive Naturalismus. Man kann die 25 Seiten lange Schilderung des Werdegangs (Hobbys: "Alpinismus" und "Musik") narzisstisch nennen, man muss aber gleichwohl eingestehen, dass es gerade im Sinne des behandelten Gegenstandes (also Wissens- und Wissenschaftstheorie) aufschlussreich ist, wie und wodurch im Laufe einer Philosophenkarriere Denksysteme gestürzt und neu konstruiert werden, ganz abgesehen davon, dass hier deutlich wird, welche praktischen Themen der 1960er- und 1970er-Jahre beim Verfasser prägend im Hintergrund stehen: der Katholizismus Franco-Spaniens mit seinem Glauben an einen "dios creador" und die neue Freiheitsbewegung der "68er" und der "Hippies" mit ihrem - und in der Ethik auch Kanitscheiders - Lieblingsthema "Sex and Drugs".

Doch zuerst geht es in der Abteilung Theoretische Philosophie um die Klärung der Grundlagen, also der Begriffe. Dabei wird der Naturalismus als "Zankapfel" eingeführt, der von der Metaphysik lange bekämpft wurde, diese aber schließlich überwunden habe, weil er ihr in zwei entscheidenden Punkten voraus sei: inhaltlich durch seine einheitliche materielle Ontologie, die ein für alle Mal die "Hilflosigkeit angesichts des epistemischen Aufweisens ontologisch autonomer spiritueller Entitäten" beseitigt (freilich um den Preis der Aufgabe dieser Entitäten, also "Seele", "Gott" etc.) und methodologisch durch seine Diskursivität, also durch den Umstand, dass er sich selbst zum Gegenstand kritischer Analysen macht (was aber auch auf die Metaphysik zutrifft, soweit man sie nicht auf Dogmen reduziert).

Bei all dem scheint Kanitscheider jedoch nicht zu sehen, dass es für die meisten Menschen bei der Auseinandersetzung zwischen Naturalisten und Metaphysikern gar nicht (mehr) um konkurrierende Programme einer Welterklärung geht, die jeweils den Anspruch auf ein Deutungsmonopol erheben, sondern um miteinander durchaus vereinbare Ansätze mit jedoch unterschiedlicher Reichweite der Betrachtung und des Erkennens, besser: Erkennen-Wollens. Während der Naturalist qua Definition seiner Weltanschauung die Forschungsaktivität an der Grenze der materiellen Welt und ihrer immanenten Kausalitäten einstellt (darüber hinaus gibt es ja für ihn nichts), überschreitet der Metaphysiker diese Grenze und fragt spekulativ nach der Finalität irdischer Gegebenheit, die er als Erfahrungstatsachen ebenso anerkennt wie ihre naturwissenschaftliche Beschreibung. Die Unterscheidung von Verstand und Vernunft (etwa bei Cusanus), von Kausalität und Finalität (etwa bei Leibniz) scheint der Verfasser jedenfalls - so er sie kennt und erwogen hat - für historisch zu halten.

Doch man kann an physikalische Gesetze glauben und an einen Gott, der diese geschaffen hat. Man kann an unberechenbare "Gespenster, Engel und Dämonen" glauben, und dennoch an die deterministischen Regeln der Physik, gerade weil Gespenster, Engel und Dämonen "ohne regelhafte Beziehung zur wahrnehmbaren Welt" existieren - so man denn an ihre Existenz glaubt. Noch einmal: Kanitscheider baut mit der Favorisierung des starken Naturalismus, der jede Transzendenz ausschließt, eben weil sie keine Immanenz der Welt ist, und zudem jedes Konzept, das nicht widerspruchsfrei in unsere Logik passt (wie wir vom Theodizee-Problem wissen, zählt auch der christliche Gott dazu), die Front eines unversöhnlichen Entweder-Oder auf, die für die meisten Menschen so gar nicht existiert, da sie wohl dem schwachen Naturalismus anhängen, der Spielraum lässt für ein "darüber" und ein "jenseits von". Immerhin glauben dem Religionssoziologen Zulehner zufolge im aufgeklärten Europa immer noch drei von vier Menschen an Gott, ohne dass sie die Geltung physikalischer Gesetzmäßigkeiten in Abrede stellen.

Wirklich problematisch wird es nur dann, wenn mit den Mitteln der einen die Fragen der anderen Sphäre beantwortet werden sollen beziehungsweise wenn man sich als Naturalist für kompetent erklärt, alle Fragen der Welt aus dieser heraus zu beantworten und mit dem Verweis auf wissenschaftstheoretische Ungereimtheiten beim "Gegner" dessen Position zu diskreditieren. Beim Verfasser geschieht dies zum Teil ohne Gespür für die fehlende Relevanz des richtig identifizierten methodologischen Unterschieds, das heißt für die gravierende Differenz im Erkenntnisinteresse. Denn es ist ja so: Während ein Naturalist kritisiert, dass der Metaphysiker einer Illusion anhängt, weil er seine Haltung nicht wissenschaftlich beweisen kann, kann dieser gelassen bleiben, weil es ja gerade ein wesentliches Charakteristikum seiner Weltsicht ist, auf für uns Menschen nicht beweisbare Phänomene zurückzugreifen. Die Umkehrung der Beweislast für metaphysische Entitäten geht am Wesen der Metaphysik vorbei, da der Glaube nichts beweisen kann und auch nichts beweisen muss. Andererseits gilt selbstverständlich, dass metaphysische Glaubenssysteme damit nicht zur Welterklärung taugen, soweit die Natur als solche gemeint ist. Ein gutes Beispiel ist dafür der aktuell virulente Diskurs um Evolution und Schöpfung, wo zwischen Evolutionisten und Kreationisten genügend Raum bleibt für die Vorstellung inspirierter Entwicklung, als eine Position zwischen 6-Tage-Schöpfung und zufälliger Selbstorganisation der Materie.

Freilich muss für das Aufzeigen von Denkmöglichkeiten jenseits der Materie das entsprechende Interesse vorhanden sein; der Autor hat aber offenbar andere Absichten. Es müsste zudem innerhalb der metaphysischen Vorstellungen viel genauer differenziert werden als der Autor dies im Rahmen seines Buches kann und will. Alles in einen Topf zu werfen - den Glauben an Gott und den an "grüne Männchen auf Neutronensternen" - ist alles andere als der Versuch, dem "Gegner" gerecht zu werden. Das ist das Hauptproblem im Gespräch zwischen Naturalisten und Metaphysikern: Da jene alles, was diese vorbringen, für un- bzw. pseudo- oder parawissenschaftlich halten, setzen jene, als Wissenschaftler, sich nicht ernsthaft mit diesen auseinander, zumindest nicht derart, dass jene die Methoden dieser anwenden, sondern ihre eigenen. So kommen jene freilich stets zu dem gewünschten Ergebnis: Das, was diese tun, ist tatsächlich un- beziehungsweise pseudo- und parawissenschaftlich. Dem ist nur dann zu folgen, wenn man den Naturalismus mit einem Methodenmonopol ausstattet. Warum man dies tun sollte, erschließt sich wiederum nur unter der Voraussetzung, dass man ihm allein die Kompetenz zur Weltdeutung zuschreibt. Hier ergibt sich unverkennbar ein Zirkel.

Was auf der theoretischen Ebene der Weltdeutung ein Gelehrtenstreit ist, erhält beim Übergang auf die Praktische Philosophie allgemeine Relevanz. Das sowohl im Rahmen der Naturwissenschaften und ihrer Rolle bei der Erforschung des Menschen beziehungsweise seines Gehirns, als auch im Rahmen der Ethik.

Der Autor sieht den ersten Punkt sehr entspannt und erklärt die Furcht vor einer Naturalisierung des Menschenbildes mit "der Abneigung gegen die begriffliche Transformation, die mit dem naturwissenschaftlichen Denkstil verbunden ist" und mit dem Generalurteil über die Naturalismus-Skepsis: das Verzweifeln an der "eschatologischen Kränkung", die das naturwissenschaftlich gewonnene Wissen um das "bloß-in-der-Welt-sein" dem Menschen zugefügt habe und immer noch zufüge. Wenn das mal alles wäre! Der naturwissenschaftliche Reduktionismus wird an dieser Stelle verharmlost.

Ebenso wenig überzeugt der Naturalismus im Hinblick auf die Ethik. So weist Kanitscheider zwar völlig zu Recht auf die Grenzen reiner Logik-Ableitungen in der Ethik (etwa in der Deontologie Immanuel Kants) hin, um dann aber nicht etwa die Vorstellung einer Genese moralischen Verhaltens aus (religiösen) Emotionen zu reaktivieren (etwa Mitleid, Nächstenliebe, Solidarität), sondern mit der "evolutiven Ethik" ein Konzept ins Gespräch bringt, das Glück und gelungenes Leben (seit Aristoteles Ziel der Strebensethik) an der je eigenen subjektiven Einschätzung misst. Dass auch dieser Ansatz schnell an Grenzen stößt, wird deutlich, wenn man sich das in der Selbsteinschätzung "gelungene Leben" eines Drogenhändlers oder eines Waffenschmugglers vorstellt. Es ist klar, dass es ohne Bezug auf Regeln, die alle Menschen gleichermaßen binden, nicht geht und dass der naturalistische Fehlschluss vom Sein auf das Sollen zu kontraintuitiven Ergebnissen führt. Auch Kanitscheiders liberalistisch-autonomistische Lösung, bei der Selbstschädigung erlaubt, Schädigung Dritter aber verboten ist, bleibt im Hinblick auf praktische Fälle schwammig, weil sie unterspült wird von einem Meer an Abgrenzungsproblemen. Gut ist jedoch die Erinnerung an die Bedeutung von Individualität und Selbstsorge, die in der (christlichen) Ethik häufig als Un-Werte behandelt werden. Völlig zu Unrecht, wie der Autor richtig anmerkt, denn "Selbstsorge ist nicht Selbstsucht". Weniger gut wiederum ist, dass der Autor nur Drogenkonsum und Sexualität als Anwendungsfälle moraltheoretischer Erwägungen im Kopf zu haben scheint, als ginge es auch in Zeiten von Biotechnik, Genomforschung, Klimawandel, Terrorismus und globalisierter Wirtschaft für die Ethik nur darum, den Einzelnen mit klugen Gedanken aus den Fesseln der lustfeindlichen Kirche zu befreien. Differenzierung ist sicher auch hier geboten.

Kurz: Kanitscheider bezieht klar Position. Für begriffliche Klarheit, gegen Verworrenheit. Für interessierte Offenheit, gegen blinde Autoritätsgläubigkeit. Für die Möglichkeit künstlicher Intelligenz, gegen die Möglichkeit der Existenz von Entitäten, deren Existenz nicht verstandesmäßig nachvollziehbar (also "bewiesen") ist. Und - wir kommen zum praktischen Teil - für ungehemmten Sex und freien Drogengebrauch, gegen dogmatische Gängelungen aller Art, weil diese "mit einem naturalistischen Liberalismus nicht kompatibel sind". Klarheit, das ist in jedem Fall gut. Fraglich ist die Position an sich, der Naturalismus ist und bleibt ein Zankapfel. Aber mit seinen klaren Aussagen, die neben dem erwähnten "naturalistischen Liberalismus" reichlich - teilweise polemische - Religionskritik offenbaren, gibt der Autor jeder und jedem die Möglichkeit zu prüfen, was sie oder er davon halten soll. Zumindest in diesem Punkt zeugt das Buch von wissenschaftlicher Lauterkeit.


Titelbild

Bernulf Kanitscheider: Die Materie und ihre Schatten. Naturalistische Wissenschaftsphilosophie.
Alibri Verlag, Aschaffenburg 2007.
298 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-10: 3865690157

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