Kunsthistorische Methoden und Modelle im Nachkriegsdeutschland

Ein von Nikola Doll, Ruth Heftrik, Olaf Peters und Ulrich Rehm herausgegebener Sammelband dokumentiert die Geschichte einer Wissenschaft nach 1945

Von Klaus HammerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Hammer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Oktober 2004 fand am Kunsthistorischen Institut der Universität Bonn eine Tagung zum Thema "Kontinuität und Neubeginn. Kunstgeschichte im westlichen Nachkriegsdeutschland" statt, deren 16 Beiträge - sie sind um einige zusätzlich erweitert worden - jetzt in einem Sammelband vorliegen. Forschungsprojekte und Tagungen hatten sich vorher mit der Kunstgeschichte im Nationalsozialismus, mit der Geschichte der kunsthistorischen Institutionen, den Biografien einzelner Fachvertreter sowie den ideologischen Voraussetzungen und Implikationen von Forschung und Lehre in der Bundesrepublik beschäftigt, aber die fachspezifischen weltanschaulichen und methodischen Grundlagen der westdeutschen Kunstgeschichte nach 1945 wurden hier zum ersten mal komplex erörtert. Doch der Titel ist etwas irritierend und löst ganz andere Erwartungen aus. Er hätte wohl besser "Geschichte der Kunstgeschichte nach 1945" lauten müssen.

Vor allem das erste Nachkriegsjahrzehnt musste man bisher zur unbewältigten,weil noch nicht aufgearbeiteten Vergangenheit zählen, und so versuchte die Bonner Tagung einen Beitrag zu der Frage zu leisten, wie es in den Köpfen der Überlebenden aussah, was sie bewegte - und was ausgeklammert blieb. Auf viele Fragen haben die Beiträge keine Antwort - und schon gar keine erschöpfende - zu bieten, eher stellen sie neue Fragen. Sie wollen auf Verdrängtes, auf Vergessenes, auf übersehene Zusammenhänge hinweisen. Nicht die gesamte Kultur der Jahre 1945 bis 1955 konnte gezeigt werden, die Beiträge mussten sich auf einige - nicht immer zentrale - Aspekte beschränken. Aber es war doch notwendig, Antworten auf die Frage zu erhalten, mit welchen Vorstellungen und Zielen, aus welcher Haltung heraus damals die Weichen für Entwicklungen gestellt wurden, mit deren Ergebnissen wir heute konfrontiert sind. Die (Fehl-)Entwicklungen auf dem Gebiet von Architektur und Städtebau sind das beste Beispiel für die Notwendigkeit, einige der brennenden Probleme der Gegenwart auf ihren Ausgangspunkt in der Nachkriegszeit zurückzuverfolgen. Hier wird auch die strikte und schematische Gegenüberstellung von avantgardistischen Positionen auf der einen und traditionellen und konservativen auf der anderen Seite am ehesten fraglich.

Veronica Davies beschreibt die kulturpolitischen Aktivitäten in der britischen Besatzungszone zwischen 1945 und 1951. Reeducation und Kooperation mit den deutschen Kulturexperten seien die Grundprinzipien der britischen Besatzungspolitik gewesen. Trotz klarer Grundsätze habe man sich aus pragmatischen Gründen auch zu einer Zusammenarbeit mit ehemaligen Nationalsozialisten entschlossen. Dagegen stellt Christian Fuhrmeister das Konzept der "Stunde Null", das einen Neubeginn proklamieren sollte, für die Kunstgeschichte nach 1945 grundsätzlich in Frage. Er belegt das an den gegensätzlichen Biografie-Entwicklungen von zwei Münchener Kunsthistorikern: Ernst Strauss, der nach langjähriger Emigration 1949 nach München zurückkehrte, wurde systematisch an der Fortsetzung seiner Lehr- und Forschungstätigkeit gehindert, während dagegen der ehemalige Nationalsozialist Hugo Kehrer nach 1945 ungehindert seine Karriere fortsetzen konnte. Zu klären bleibe, so resümiert Fuhrmeister, ob die von ihm geschilderte Münchener Konstellation "singulären oder paradigmatischen Charakter für die Kunstgeschichte im Nachkriegsdeutschland besitzt".

Karin Hellwig gibt eine teilweise Antwort auf diese Frage und konstatiert eine ungebrochene Kontinuität der Künstlerbiografie von den 1920er-Jahren über den Nationalsozialismus bis in die 1960er-Jahre hinein. Das betrifft nicht nur die Wahl der für biografiewürdig angesehenen Künstler, sondern auch die methodische und ideologische Ausrichtung der Kunstwissenschaft, denn viele in der Zeit des Nationalsozialismus verfasste Biografien sind in der Nachkriegszeit neu aufgelegt und zum Teil sogar wie Neuerscheinungen besprochen worden. Erst seit den 1970er-Jahren wurden der Biographie die Strukturgeschichte und der Individualisierung eine Kunstgeschichte entgegengesetzt, die von objektiven Faktoren in der Kunstentwicklung ausging.

Kann die wissenschaftliche Leistung eines angesehenen Kunsthistorikers noch Geltung haben, wenn sie auf falschen Prämissen beruht? Sabine Fastert demonstriert, wie das aus den 1920er-Jahren stammende Generationenmodell des in den Nationalsozialismus verstrickten Wilhelm Pinder, das die stilistische Heterogenität ein und desselben historischen Zeitraums erklären sollte, auch in die Nachkriegsdiskussion über moderne und zeitgenössische Kunst einbezogen wurde, obwohl dieses Modell auf die Situation nach 1945 nicht mehr anwendbar war. Den Grund sieht die Verfasserin in der Verteidigung der Moderne gegenüber dem vermeintlich linearen Verfallsmodell Hans Sedlmayrs ("Verlust der Mitte", 1948), dem mit Pinders Generationenmodell, seines Zeichens Apologet "deutscher Sonderleistungen", eine Gegenposition gegenübergesetzt werden sollte.

Eine "Fallstudie zur ikonologischen Praxis der Nachkriegszeit" liefert Ulrich Rehm und stellt dabei einen Wechsel der methodischen Perspektiven der Ikonologie seit der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre fest: Die Leitmetapher des Sehens, die unter anderem von Hans Jantzen geprägt war, wurde abgelöst von der des Lesens, die mit dem Anspruch eines methodischen Neuaufbruchs auftrat. Die kaum reflektierte methodische Basis sei anfänglich eine verallgemeinernde Auffassung vom "disguised symbolism" (Erwin Panofsky) gewesen. Indem auf dieser Basis neuzeitliche oder moderne Darstellungen auf mittelalterliche Traditionen zurückgeführt werden konnten, habe sich zugleich das "Bedürfnis nach Selbstvergewisserung in der Rückorientierung auf die vermeintliche ,Wiege' eines geeinten Europas im christlichen Mittelalter" geäußert.

Warum ist es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem bemerkenswerten Aufschwung des Themas Zisterzienserarchitektur gekommen, fragt Carsten Fleischhauer - es erwies sich als ideales gemeinsames Forschungsthema für die westdeutsche und die französische Kunstwissenschaft - und sieht die Gründe in einer wesentlichen politischen Wunschvorstellung der Nachkriegszeit: Die vermeintlich alle Grenzen übergreifende Klosterkultur des Mittelalters konnte als Präfiguration der europäischen Einigungsidee erscheinen.

Auf eine heute nahezu vergessene kunsthistorische Einzelleistung - Günther Fienschs "Form und Gegenstand. Studien zur niederländischen Malerei des 15. Jahrhunderts" (1961) - verweist Claus Volkenandt. Es sei der Versuch, in Opposition zum ikonografisch-ikonologischen Ansatz für die anschauliche Selbstbegründung des Bildes zu plädieren - maßgeblich unter Rückgriff auf Vorkriegspositionen. Die bildliche Sinnbegründung ist für Fiensch in der Ordnungsleistung der Bildfläche gegeben, durch die die motivische Kontingenz in eine bildliche Kohärenz überführt werde. Damit habe Fiensch der Kunstgeschichte als einer akademischen Disziplin den Weg zur Moderne gewiesen, den dann Max Imdahl in der Perspektive einer Bildarbeit im Horizont einer ästhetischen Erfahrung beschritten und der auch später in der Diskussion der Kunstgeschichte als einer Bildwissenschaft erneute Resonanz gefunden hat.

Welche Konzepte gab es in der Nachkriegszeit, um die im alliierten Bombenkrieg zerstörten deutschen Städte wiederaufzubauen? Sandra Wagner-Conzelmann weist in ihrem Beitrag auf die Widersprüche hin, die sich zwischen den in der Charta von Athen festgeschriebenen Planungsmaximen, die Trennung der Funktionen einer Stadt, den aufgelockerten und durchgrünten Städtebau betreffend, und den Gegenströmungen ergaben, die für konzentrierte Stadtkerne bei gleichzeitiger Aufgliederung der Stadt in Siedlungseinheiten plädierten. Was dann mit dem Schlagwort "Urbanität durch Dichte" bezeichnet wurde, jene Großsiedlungen an der Peripherie der Städte, war weit entfernt von dem geforderten städtischen Umfeld, in dem sich wacher Bürgersinn und kommunikatives Leben herausbilden konnte.

Karl Scheffler, ein kunstkritischer "Großschriftsteller" der ersten drei Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts, erlebte nach 1945 eine kurze Renaissance. Wie hat er das "Phantom Großstadt" - so der Titel eines seiner Essays - beurteilt? Andreas Zeising erläutert, wie Scheffler kulturpessimistische, wesentlich von Oswald Spengler geprägte Denkmuster im Rückgriff auf die eigene Vorkriegsposition zu reaktivieren vermochte. Parallel dazu untersucht Olaf Peters einen kunsthistorischen Essay aus dem Jahre 1949 von Rudolf Schlichter, einem der wichtigen Vertreter des Dadaismus und der Neuen Sachlichkeit in der Weimarer Republik. Künstlerische Moderne, politische Emanzipation und Aufklärung hätten, so Schlichter, in letzter Konsequenz zu einer umfassenden Orientierungslosigkeit des Menschen geführt. Damit wirkte er gleichermaßen auf ehemalige linke Künstlerfreunde, etwa George Grosz, wie auf konservative Revolutionäre, vom Schlage eines Ernst Jünger.

"Das Kunstwerk. Eine Monatsschrift über alle Gebiete der bildenden Kunst" war eine der wichtigsten deutschen Kunstzeitschriften der Nachkriegszeit. Dorothee Wimmer beschäftigt sich in einer Fallstudie mit den Zielen und dem Programm dieser Zeitschrift, die im Unterschied zur Zeitschrift "bildende kunst" im Osten des Landes, der es um die soziale Funktion von Kunst und Künstler ging, die Kunst aus dem historischen Kontext gelöst und zur zeitlosen, eigengesetzlichen Bastion der Humanität stilisiert hatte. Die abstrakte Kunst wurde weitgehend mit der modernen Kunst gleichgesetzt, Paris zum Zentrum der Moderne erhoben und die Auseinandersetzung mit der auf den sozialistischen Realismus vereidigten Kunst der DDR, die bedeutend vielfältiger war und der mit diesem Schlagwort allein nicht beizukommen ist, geführt.

Susanne Leeb untersucht Willi Baumeisters Kunsttheorie "Das Unbekannte in der Kunst" und die Rolle der urzeitlichen Kunst im Begrünungszusammenhang der Abstraktion als einer universalen Kunstsprache. Spätestens in der "inneren Emigration" war Baumeisters Kunsttheorie mit ihrer Betonung der "urzeitlichen" Kräfte und Fähigkeiten mit Elementen durchsetzt, derer sich auch der Nationalsozialismus bediente. Was aber hat den Urzeittopos gerade für die Nachkriegszeit so attraktiv gemacht, fragt Leeb und sieht die Antwort darin, dass mit der Kopplung von Urgeschichte und Moderne eine Überzeitlichkeit suggeriert wurde, die Kunst aus jeder Zeitgeschichte herauslöst und zugleich als das "immer schon Vorhandene" deklariert.

Gregor Wedekind zeigt in seiner Analyse der Entstehungsgeschichte der ersten "documenta" (1955), dass dieser Begriff nicht als ideologisches Instrumentarium, sondern als Versuch der Integration der deutschen Kunstproduktion in einen europäischen Gesamtzusammenhang diente, mit der die Katastrophenerfahrung von Nationalsozialismus und Weltkrieg überwunden werden sollte. "Die Kunst ist hier Vehikel".

Während das Darmstädter Gespräch von 1950 zum Schauplatz heftiger Auseinandersetzungen wurde, hat das heute aus dem Bewusstsein geschwundene Leverkusener Gespräch von 1956, in dem es um gegenständliche und ungegenständliche Kunst ging, zu weit weniger Kontroversen geführt. Christoph Zuschlag erbringt den Nachweis, wie es vor gut fünfzig Jahren darum ging, die Gäste aus dem westeuropäischen Ausland davon zu überzeugen, dass die westdeutsche Kunst sich aus ihrer Isolierung befreit und wieder Anschluss an die internationale Avantgarde gefunden habe - und das sollte durch die "Sicht von außen" bestätigt werden. Eine andere Form des Kulturaustauschs stellt die Einladung der seit 1946 wieder erscheinenden französischen Kunstzeitschrift "Cahiers d'Art" an deutsche Kritiker dar, eine Artikelserie über aktuelle deutsche Malerei zu schreiben. Martin Schieder zeigt, wie Kontinuität und Neubeginn hier in eine merkwürdige Schieflage gerieten, weil die neuen deutsch-französischen Dialoge auf alte kulturmorphologische Muster zurückgriffen und in nationale Abgrenzungs- beziehungsweise. Vereinnahmungsdiskurse eingebettet waren.

Mit der Rekonstruktion der ersten Allgemeinen Deutschen Kunstausstellung 1947 in Dresden umreißt Kathleen Schröter die relativ große Freiheit, die den ausstellenden Künstlern zugestanden wurde. Das ist für sie einerseits der Beweis dafür, dass mit der nationalsozialistischen Kunstideologie gebrochen und eine neue künstlerische Freiheit ausgerufen worden sei. Andererseits sieht sie aber in der damals geäußerten Kritik an der Ausstellung schon die Argumente für eine doktrinäre, modernefeindliche Kunstpolitik, die sich dann in den folgenden Jahren in Ostdeutschland durchsetzen sollte. Dieser Beitrag ist der einzige im Band, der sich mit der ostdeutschen Kunstgeschichte nach 1945 beschäftigt.

Der Blick zurück, der einzelne Phänomene jener Jahre recht isoliert betrachtet, sozusagen zu einem Mosaik von auswechselbaren Versatzstücken werden lässt, wird in seiner Gesamtheit doch zu einem höchst informativen Auskunftsmittel jener Zeit. Eingängige Erklärungsmuster werden gemieden, stattdessen wird ein historischer Zeitabschnitt kritisch beleuchtet und neue Fragen aufgeworfen. Was an Begriffen und Kategorien für Politik und Sozialgeschichte dieser Jahre als Interpretationsansatz dienen konnte, erwies sich als unzureichend für die Annäherung an die kulturelle Entwicklung insgesamt, die sich nicht in ein einfaches Schema pressen ließ. Gar so einfach machte es die Zeit den Verfassern nicht, insbesondere da, wo sie Erklärungen heranzogen, die allenfalls für die Weimarer Republik gelten mochten. Als durchgängiges Problem erwies sich das Verhältnis von Bruch und Kontinuität, Neubeginn und Fortschreibung von Tradition. Gerade hier hatten bisher pauschale Urteile und unzulässige Verallgemeinerungen den Blick versperrt.

Die Debatte darüber, wie die Proportionen verteilt waren, hat mit diesem Sammelband gerade erst - aber doch recht nachdrücklich - begonnen.


Titelbild

Nikola Doll / Ruth Heftrig / Olaf Peters / Ulrich Rehm: Kunstgeschichte nach 1945. Kontinuität und Neubeginn in Deutschland.
Böhlau Verlag, Köln 2006.
245 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-10: 3412004065

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch