Zwischen Bahnhof und Müllhalde
Gerhard Roths autobiografisches Epos "Das Alphabet der Zeit"
Von Peter Mohr
Besprochene Bücher / Literaturhinweise"Vier Jahrzehnte hatte ich meine Kindheit vergessen. Ich war schon über fünfzig Jahre alt, als die Erinnerung zurückkehrte, fast unwirklich und stückweise, als eine Ansammlung von Partikeln, Fragmenten, Kopffotografien und automatenhaften Kurzfilmen, als Stimmen und Déjá-vus", schreibt der Österreicher Gerhard Roth, der seit seinem Romanzyklus "Die Archive des Schweigens" (1980-1991) zu den wichtigsten literarischen Stimmen des Nachbarlandes gehört, in seiner opulenten Autobiografie "Das Alphabet der Zeit", die von 1945 bis 1963 reicht.
Die ersten Erinnerungen Roths, der im Juni seinen 65. Geburtstag feierte, reichen ins Jahr 1945 zurück. Er befand sich mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern auf einer Zugfahrt von Graz nach Würzburg, wo der Vater als Lazarettarzt stationiert war. Der Zug wurde von Kampfbombern der Alliierten angegriffen. "Es ist der erste Tote, den ich zu Gesicht bekomme, ohne zu wissen, dass es ein Toter ist und was der Tod bedeutet."
Erinnerungen, Reflexionen und dichterische Imagination gehen in diesem Buch fließend ineinander über. Gerhard Roth, der in seinem zumeist assoziativen Erzählfluss zwischen "Ich" und "Er" changiert, scheint vor allem mit den familiären Geistern der Vergangenheit einen schreibenden Kampf auszutragen.
In seinem Roman "Der Berg" (2000) legte er seinem Protagonisten Viktor Garner den bedeutungsvollen Satz "Seit seiner Kindheit war ihm klar, dass ihn ein Universum der Gleichgültigkeit umgab" in den Mund. Gegen jene politische Gleichgültigkeit und das fortwährende Schweigen in seiner Familie hat Roth nun die Feder gewetzt. Er ist mit dem Makel aufgewachsen, dass Vater und Mutter der NSDAP angehörten und dies anscheinend als völlig normal, als Lauf der Zeit ansahen.
Nicht die Aufarbeitung der Vergangenheit, sondern die rasche, untertänige Anpassung an die veränderten Verhältnisse im Nachkriegs-Österreich dominierten später das Verhalten der Eltern. Der Vater zieht aus der Heimatstadt Graz - halb illegal - über das Land, behandelt die Bauern und lässt sich sein Honorar in Naturalien auszahlen. Der Sohn begleitet ihn, begegnet überall auf den Höfen Tod und Verfall. Gerhard Roths Kindheit im Grazer Stadtteil Gösting, wo er zwischen Müllhalde und Güterbahnhof aufwächst, ist überdies von Entbehrungen und unnachsichtiger väterlicher Strenge gekennzeichnet.
Daraus entwickelt sich ein abgrundtiefer Hass auf den Vater, der sich im Text aus der Perspektive des heute 65-jährigen mosaikförmig entwickelt. Als der Autor mit 17 Jahren ein Kind zeugt, kümmert sich Roth senior lediglich um die Alimente, nicht aber um das Gefühlsleben des Sohnes. Danach drängt er ihn in ein Medizinstudium. Er schreibt sich (um zunächst den familiären Frieden zu wahren) zwar zum Studium ein, gesteht aber später: "Ich bin in der Universitätsbibliothek gesessen und hab geschrieben, während mein Vater gedacht hat, ich studiere..." Da hatte Gerhard Roth bereits Lesungen von Heimito von Doderer, H.C.Artmann und Gerhard Rühm besucht und innerlich schon den Entschluss gefasst, Schriftsteller zu werden. Immer wieder gerät der junge Roth in tiefe Zwiespälte, und er bleibt uns nach der Lektüre als ein zutiefst verunsicherter, nach Orientierung suchender Twen im Gedächtnis. Die geschilderte innere Disharmonie hebt Roths Erinnerungsbuch auch wohltuend von der großen Masse der selbstbeweihräuchernden, lobhudelnden Autobiografien ab.
"Die Erinnerung ist eine Fata Morgana in der Wüste des Vergessens" lautet das sinnträchtige Motto dieses Buches. Gerhard Roth hat mit diesem opulenten Epos versucht, schreibend Ordnung in sein eigenes Leben zu bringen und das Chaos zu beseitigen, das sein übermächtiger Vater in seinem Kopf hinterlassen hat. Trotz unübersehbarer erzählerischer Längen hat die nachgezeichnete, von vielen Brechungen gekennzeichnete Ich-Werdung des Schriftstellers Gerhard Roth durchaus exemplarischen Charakter für viele seiner Altersgenossen.
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