Die falsche Kugel

Andrea Camilleri hat einen Roman über einen faschistischen Märtyrer geschrieben

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich begann alles ganz harmlos: in der milden Nacht des 24. April 1921, in der die Männer in den Tavernen sitzen, trinken und reden, verabreden sich die drei Mussolini-treuen Studenten Lillino, Nino und Tazio und warten auf Michele Lopardo, einen Sozialisten, den sie einmal ordentlich verprügeln wollen. Es läuft schön nach Plan: Sie machen die Lampen in der Gasse aus, damit sie nicht erkannt werden, warten ein Weilchen, und als er kommt, stürzen sie sich auf ihn. Aber dann löst sich plötzlich ein Schuss. Und dann ist Lillino tot, durch den Kopf geschossen.

Eigentlich ist der Fall klar: Lopardo hatte nämlich eine Pistole bei sich und gab sogar zu, geschossen zu haben. Ein Unfall, Notwehr. Aber dann wird der Polizei die Beweiskugel gestohlen und mit einem Gutachten zurückgeschickt, dass die Kugel nicht aus Lopardos Pistole stammt. Und dann sollte die Untersuchung erst richtig losgehen. Wenn da nicht Mussolini wäre und vor allem die Antibolschewistische Liga, aus der etwas später die Faschistische Partei entstand. Denn die die hat es viel lieber, wenn Lillino ein Märtyrer wird, einer, der von den Kommunisten gemeuchelt wurde.

Von Andrea Camilleri kann man immer solide Qualität erwarten: Krimis zum Entspannen, mit seinem Commissario Montalbano, der vor allem gutes, üppiges, sizilianisches Essen liebt, der aber auch zum Berserker werden kann, wenn er auf unmoralische Menschen trifft. Einer, der seine Ruhe haben will, ein Genießer, der aber seine Arbeit nicht vernachlässigt, selbst wenn er gerade einmal nicht mag. Aber Camilleri hat auch noch ganz andere Bücher geschrieben, in denen es um die Geschichte seines Landes geht. Ein Kapitel davon ist der aufkommende Faschismus. Und so geht es auch in "Der Märtyrer im schwarzen Hemd" (dem Hemd der Faschisten) um Sizilien, um seine Geschichte und um einen authentischen Fall, den Camilleri im Nachwort erwähnt. Mit anderen Namen erzählt er diese alte, seltsame und doch wieder vertraute Geschichte neu.

Vertraut und doch seltsam ist auch der Aufbau. Eingerahmt wird der Roman von zwei Kapiteln, in denen ein kleiner Junge aus der Untersekunda von einem Vorfall erzählt, vom April 1941. Da erlebt er mit, wie er mit vielen anderen Jungfaschisten auf einer öffentlichen Veranstaltung in Caltanissetta, in der Nähe von Agrigent, war, den Reden lauschte, dann seine Notdurft verrichten musste und plötzlich, bei den Ansprachen über den Märtyrer, einen Mann sah, der bitterlich weinte. "Das ist der Mörder", sagte der Vater und zerrte ihn weg.

Der eigentliche Roman erzählt von diesem Märtyrer und seinem Mörder. In kleinen Kapiteln, immer wieder aus anderer Perspektive, berichtet er chronologisch von den Geschehnissen im April 1921. Er beginnt mit "Assunta Bartolomeo, verwitweter Callarè", geht weiter mit "Antonio (Nino) Impallomèni", dann folgen "Tito Tazio (Titazio) Sandri" und "Calogero (Lillino) Grattuso" und "Michele Lopardo" (so heißen auch die Kapitel), in denen die wichtigsten Personen kurz vorgestellt werden, was sie machen, kurz bevor das ganze Durcheinander anfängt: Die erblindete Witwe geht, wie jeden Abend, auf den Balkon, Nino besucht die vierzigjährige Signora Adelina ("dieses 'Aahh' war eher ein Ausdruck der Zufriedenheit als des Schmerzes"), die anderen beiden sind schon in der Kneipe und Michele macht sich gerade auf den Weg.

In mehreren Einstellungen erzählt Camilleri - und er nennt sein erstes Kapitel gleich "die Erste" - von den Geschehnissen, gibt die Verhöre wieder, bei denen auch die politische Gesinnung gleich mit abgefragt wird, stellt die Widersprüche dar und wie die Polizei behindert wird, damit sie nicht den richtigen Schuldigen herausfindet. Denn der ermittelnde Polizist ist einer, den die Politik nicht interessiert. Und so erfährt er von seinem Kollegen auch die internen Einzelheiten, kann sich mit Kommunisten und Mafiosi treffen, in Zivil und ganz privat, erfährt die Hintergründe und wer was wo unter den Tisch fallen lässt und wie man, durch private Hilfe, doch noch auf den richtigen Schuldigen kommt.

Natürlich wird der Fall zwar aufgeklärt, aber nicht offiziell, denn die Faschisten kommen an die Macht, und da gibt es keinen Platz mehr für richtige Polizeiarbeit, sondern nur noch für Politik. Das übliche halt, so geht es eben zu in Sizilien. Und dann ist dieser historische Roman vielleicht doch auch ein ganz aktueller.


Titelbild

Andrea Camilleri: Der Märtyrer im schwarzen Hemd. Roman.
Übersetzt aus dem Italienischen von Moshe Kahn.
Piper Verlag, München 2007.
288 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783492048835

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