Die äußeren und die inneren Slums

Sibylle Bergs neuer Roman "Die Fahrt" stellt grundsätzliche Fragen

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer nicht meditativ veranlagt ist, langweilt sich rasch, wenn Ereignisse, Gefühle oder Wörter wiederkehren. Dauernd schlafen, aufstehen, arbeiten, essen, fernsehen, die gleichen Gespräche führen bis ans Ende seiner Tage. Oft folgt solcher Langeweile die Sinnkrise samt einer ganzen Reihe unangenehm quälender Fragen: Warum bin ich hier? Wo ist das Glück? Verpasse ich nicht gerade das Wichtigste? Wieso muss ich sterben? Hat das alles einen Sinn? Was bleibt von mir zurück?

Der neue Roman von Sibylle Berg "Die Fahrt" konfrontiert den Leser mit diesen Fragen, wörtlich und implizit, variantenreich, erbarmungslos. Sogar die vielen eingestreuten Fotos von Landschaften, Elendsquartieren, Hochhäusern und toten Katzen, die Berg auf ihren Reisen um den Globus gemacht hat, scheinen so zu fragen.

Durch viele Länder der bekannten Welt führt das Buch, stellt aber auch unbekanntere Winkel vor: Goldgräberdörfer im weiten Amazonasgebiet, kirgisische Monsterstandbilder oder ein sektiererisches Spätkibbuz, in dem Mitglieder verschwinden und später als Skelette wieder auftauchen.

Sybille Berg lässt sich die Lebenswege einer Reihe höchst unterschiedlicher Figuren kreuzen. So zeigt sie, wie leidensreich und dumm die Menschen die Zeit, die ihnen auf Erden gegeben ist, vertun. In "Short Cuts"-Manier begegnet der Leser den Personen aus Ost und West, aus armen und reichen Ländern. In immer neuen, kurzen Abschnitten, die jeweils ein Figuren- und ein Ortsname bezeichnet, tauchen sie auf, verschwinden wieder, begegnen sich. Ab und zu setzt Berg Kapitel gegeneinander, in denen das gleiche Ereignis von zwei Figuren jeweils ganz anders erlebt wird.

Fast alle suchen im Alltag oder durch den Ausbruch aus ihm verzweifelt nach Alternativen zu einem sinnleeren Leben, die es aber bei grundsätzlicher Betrachtung nicht gibt: Wir sind sterblich. Wir zerstören den Planeten. Wir sind einem Vereinzelungsprinzip unterworfen, das uns einsam macht. Wir haben vom Baum der Erkenntnis gegessen und leiden unter unserem Wissen. Wir Angehörigen der Industrienationen ernähren uns im schrecklichen Wortsinn von ärmeren, chancenlosen Menschen, sogar auf Kosten unserer Nachkommen. Und: Wir sind nicht gut, nur ewig unzufrieden. Wenn man allerdings ums bloße Überleben zu kämpfen hat wie die Frau in den Slums von Bangladesh, deren kurzen Lebenslauf Berg verfolgt, dann sind philosophische Existenzfragen so fern wie ein voller Magen.

Die wohlhabenderen der Figuren fliegen und fahren dennoch wie wild umher, um etwas zu finden, das ihnen wenigstens für Momente Geborgenheit, Ruhe oder Sinn bieten könnte. Doch selbst dem Tsunami zu entkommen oder ein überstandener Piratenüberfall bescheren nur kurzfristig die Befriedigung, überlebt zu haben. Schnell stellt sich wieder Leere ein. Das Leben desillusioniert schon Kinder. Sibylle Berg wird nicht müde, dieses allgemeine seelische und materielle Elend zu beschreiben, die äußeren und die inneren Slums der heutigen Menschheit.

Grundsätzlich stellt sie aber alte Fragen, auf die Arthur Schopenhauer vor geraumer Zeit gute Antworten gab. Noch heute ist "Die Welt als Wille und Vorstellung" eine erhellende Lektüre, der Stil des Buches von vorbildlicher und heiterer Klarheit. Bergs Roman erinnert so oft an Schopenhauer, als hätte die Autorin zum philosophischen Werk Belegschicksale erfunden. Allerdings häuft sie derart viele Beweise für die allgemeine Misere auf, dass diese bald zu einem formlosen Müllhaufen anwachsen, dessen Details beliebig wirken, dessen Ausmaß erschreckt, dessen Bestandteile sich zu oft und zu sehr ähneln. "Egal" ist ein dutzendfach gebrauchtes Zentralwort ihres Buchs.

Wenn Minidramen auf wenigen Seiten oder gar Zeilen ablaufen, Wahrheiten wie gehämmert die Seiten füllen oder ätzend klare Informationen unsere gewaltigen Verdrängungsanstrengungen für Momente überfordern, ist das eindrucksvoll. Aber "Die Fahrt" ist auch sprachlich so wiederholungsliebend, dass der Roman manchmal an Selbstparodie grenzt. Praktisch alle Figuren haben Angst, leiden an ihrer Existenz und extremer Langeweile, ertragen die Perspektiv- und Sinnlosigkeit nicht Sie hassen vor allem andere Menschen und sich selbst. Alle tigern herum, alle weinen, alle wollen nur weg, ohne im Reisen etwas anderes zu finden als immer und überall Hässlichkeit, riesige Kakerlaken und die Erkenntnis, dass es daheim noch erträglicher war als in der Fremde. Ihre Gedankenströme gleichen sich und gehen dazu häufig in die Überlegungen der Erzählinstanz über, die an Leitartikel und Bußpredigten erinnern.

Sibylle Berg stößt den Leser mit der Nase in den ubiquitären Dreck - ein Wort, das noch häufiger vorkommt als "Mist". Und sie hat grundsätzlich Recht damit. Die Stimme des Romans gleicht der alttestamentarischer Propheten, die nicht aufhören, ihren Landsleuten die Leviten zu lesen, obwohl jene dann doch wieder viel sündigen, kurz nachdem sie Umkehr gelobt haben.

Für Berg-Novizen ist diese Sibylliade wohl von eindringlicher Wucht und voll erschreckender Neuigkeiten aus den Abgründen des Schreckens um uns herum. Kunstvolle Vergleiche und Metaphern erfreuen, auch die Dynamik vieler Geschichten oder der reich instrumentierte Mix aus Jargon, Umgangssprache, Lakonie, Pathos und Quatschen.

Berg-Kenner ermüdet dagegen die sprachliche, stilistische und inhaltliche Auftürmung von Dingen und Formulierungen, die man häufig aus ihren Reisefeuilletons, Reportagen und vorigen Büchern schon kennt, zumal sie sich im Roman wiederholen. Außerdem missfallen Fehler im Erzählteppich.

Mit seinen so vielen und so unterschiedlichen Figuren belegt der Roman gleichwohl sehr eindringlich die von Schopenhauer so geliebte Erkenntnis der indischen "Upanishaden": "tat twam asi": "Das bist du!" Wir unterscheiden uns nicht kategorisch voneinander. Alles Individuelle ist nur Schein, ein Trick, um uns weiter zu treiben, um Sinn zu simulieren, wo keiner ist.


Titelbild

Sibylle Berg: Die Fahrt. Roman.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2007.
346 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783462039122

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