Wie ich einmal ein Gespräch erfunden habe, statt eine Rezension zu schreiben

Martin Becker ironisiert "Ein schönes Leben"

Von Lino WiragRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lino Wirag

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ich kaufte eine Dose Rasierschaum bei dem Straßenhändler mit dem Zwiebelbart und dachte, jetzt könnte Martin Becker um die Ecke kommen, wie auf dem Autorenfoto: mit Brille und Lachen im Brötchengesicht. Und richtig, da schlenderte er über den Bürgersteig, ohne auf die Ritzen zu treten. Ich dachte: Zufall, aber dann dachte ich: Berlin halt. Ich fand, er sah nett aus. Ich rief seinen Namen, und er blieb stehen.

Ich sagte: "Ich hab dich im Fernsehen gesehen neulich bei Bachmann. Wenn du Zeit hast, würde ich dir gern was über das Buch sagen." Martin Becker wusste erst nicht so Recht, was er sagen sollte, weil er mich ja nicht kannte; aber ich sehe ungefährlich aus. Also meinte er: "Okay, warum gehen wir nicht einen Kaffee trinken? Aber nicht so lang, ich muss noch zum Physiotherapeuten." Ich nickte und fand ihn spontan.

Noch bevor wir saßen, fing ich an, ihn zu loben, weil: Er ist ein Jungautor, 25 vielleicht, keiner von den ganz Neuen mehr; aber noch ziemlich frisch dabei. "Klasse fand ich dein Buch, echt", sagte ich und fühlte mich wie eine Amazon-Kundenrezension. Martin Becker nickte auch, er wusste, da kommt noch was; das kannte er schon.

"Also der Ton, deine Stimme, die gefällt mir besonders", sagte ich. "Wie, meine Stimme?", sagte er und verzog seine Stimme beim Sprechen ganz seltsam in die Höhe. Ich musste lachen, obwohl der Witz wirklich schlecht war. "Ich meine deine Erzählstimme. Im Buch", sagte ich. Aber er hatte schon verstanden. "Naja", sagte er, "ich würde sagen: das ist halb Neues Erzählen und halb mein eigenes Ding." "Wie Beck's Green Lemon", sagte ich. Er verstand nicht, aber der Vergleich war auch bescheuert. Der Kaffee kam. In Berlin bekommt man keinen guten Kaffee.

"Auf dem Klappentext heißt es: 'Erzählungen, als würde Fellini einen heruntergekommenen Wanderzirkus leiten'", sagte ich, "'und Tom Waits dazu die Schelle schlagen.' Ist das von dir?" "Nee", sagte er. "Das hat mein Lektor sich ausgedacht. Ich hab kein einziges Album von Tom Waits. Sehe ich aus wie ein Beatnik?" Er saugte den Milchschaum von seiner Tasse. Ich schüttelte den Kopf. "Klingt aber gut", fand Martin Becker. "Ich mag eher die Ironiemarker in deinen Erzählungen", sagte ich, "die Wurstigkeit des Tons. Nicht nur dieses oberflächenfixierte, detailverbohrte Seelenputzen, das Stefan Mesch so schön seziert, wenn er bei literaturkritik.de Fräuleinprosa vernichtet. Ironisches Erzählen ist sowieso ziemlich en vogue." Martin Becker nickte: "Kehlmann. Glavinic. Kirsten Fuchs. Gestern habe ich eine Mail bekommen, da will schon jemand eine Seminararbeit über mich schreiben." Er korrigierte sich. "Also über Kehlmann. Und ich komme auch drin vor."

Ich war gleich ein bisschen neidisch. "Und das Absurde!", fuhr ich fort, "aber du bist zum Glück nicht alte Schule, Post-Kafka-Beckett; sondern eher pointierte Lesebühnenskurrilität; nur ohne die Alltagstristesse." Das fand er nicht so gut, das sah ich. "Und viel präziser", sagte ich schnell und vermied den Begriff 'Lakonie'. "Zum Beispiel die Geschichte über den Typ, der aus seiner verschimmelten Wohnung auszieht, draußen streiken irgendwelche Leute. Und plötzlich sitzt ein alter Mann in der Küche und am Ende hat die Krähe die Sauerei im Park angerichtet. Als Pointe." Ich bekam es nicht mehr ganz zusammen. "Hat auch was von Luise Boege", sagte ich. Das war eine Kommilitonin von ihm.

"'Schatten- und Nachtseiten des Lebens' hat der Verlag das genannt", sagte Martin Becker. "Hab ich auch gelesen", sagte ich, "aber das trifft es nicht ganz. Das klingt so nach Groteske." Groteske, das fand Martin Becker gut, er murmelte es zwei, drei Mal vor sich hin. "Für mich sind es eher Capriccios", sagte ich und versuchte, es italienisch auszusprechen, "nicht im Jünger-Sinne jetzt, als Assoziationsmaschinen, sondern launiger, als narrative Eigenerfindungen: eigene Stimme, eigener Inhalt, eigener Style."

Martin Becker sagte: "Ich weiß gar nicht, ob es das überhaupt gibt." Ich sagte: "Dann hast du es eben erfunden." Jetzt hatte ich wieder angefangen zu loben. Ich musste die Kurve zur Kritik kriegen. Konstruktiv, klar. "Aber wo fangen deine Geschichten an und wo hören sie auf?", fragte ich. "In der ersten Erzählung zum Beispiel..." - "'Ein schönes Leben'" sagte er. "Genau", sagte ich, "da will sich ein Mann aufhängen, und seine Mutter liegt im Bett und ist vielleicht krank, auf jeden Fall gibt es eine Aufpassfrau...".

"Aufwärterin", korrigierte Martin Becker. "Genau", fuhr ich fort, "und dann kommt Heraklit in die Stadt und kauft einen Anzug und will pürierte Leber essen, und dann werden alle Hunde gefangen, und ein Penner nimmt am Anfang und am Ende einen Anzug mit und lässt ihn liegen, und der, der sich dann doch nicht aufhängt, fährt ans Meer und will keinen Hummer essen und fährt zurück und hat nichts mitbekommen, weil inzwischen alles drunter und drüber ging, und der letzte Hund kann auf einmal sprechen. Und dann hört es schon auf. Alles weht fort", sagte ich. Holte Luft. "Schnitte. Zitate. Abschweifung. Finten. Metatext. Hunde."

Martin Becker nickte, und ich merkte, ich hatte es nicht ganz richtig wiedergegeben, aber das war auch nicht so wichtig. Ich fragte: "Sind das dann so poetische Schnipsel, weil sie so hintereinanderkommen und trotzdem verbunden sind? Oder wirkt da die Metaphorizität eines ganzen, hermetischen Textes, wie Burkhard Spinnen sie fordert? Die unauflösbare Wendung als Kennzeichen und Ziel der modernen Literatur?"

Martin Becker sagte erstmal gar nichts, vielleicht wusste er auch selber nicht, was er da geschrieben hatte. Bestimmt wollte er nicht nur sagen: Das ist halt Literatur. Der eine geht in die Fabrik, und ich arbeite acht Stunden an meinen Texten, hatte er im Fernsehen gesagt. Dann sagte er: "Die Leidenschaften sind halt irgendwie die Menschen." Ich nickte. Das war feige. Das traf fast auf jeden Schriftsteller zu. So sagte ich es auch. Er verzog das Gesicht. "Ja, aber nicht nur", sagte er. "Ich nehme eine Geschichte, die vielleicht irgendwo passiert ist, und dann bringe ich noch was Neues rein. Dann wird es eine gute Geschichte. Ich interessiere mich für Verschiebungen." "Wie Paul Brodowsky?", fragte ich. Er zuckte mit den Schultern.

"Kollege von dir", sagte ich und holte eine "Volltext" aus der Tasche, "ich zitiere: 'Lineare Geschichten stellen mich selten zufrieden. Musil hat es auf die kurze, treffende Formel gebracht: ' daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei'. Dahinter kann ich nicht mehr zurück.'" Ich übersprang einige Zeilen: "'Das Chaos der Welt so in den Blick nehmen, dass es gerade noch im Gesichtsfeld Platz findet. Der Kunstgriff ist es dabei, dieses Chaos, dieses Rauschen ansatzweise abzubilden und zugleich handhabbar, zu einem Text zu machen. Wie also 'abbilden'? Wie gieße ich das formlose Rauschen in eine Form, wie mache ich daraus einen Text? - Durch versteckte Architektur, durch eine untergründige Dramaturgie. Indem ich in den Einzelmomenten Spuren auslege.'"

Ich brach ab. Martin Becker sagte: "Ich erzähle ja schon Geschichten. Und auch linear. Nur verfolge ich vielleicht nicht immer die gleiche Linie." Ich sah, dass Milchschaum an unteren Rand seiner Brille hing. "In einem anderen Aufsatz", sagte ich: "hat Paul Brodowsky geschrieben, dass es Erzähler gibt, die immer zwischen Realismus und Märchen hin und her balancieren, also im Grunde konventionelle Geschichten erzählen, aber mit absurden oder surrealen Textmomenten das Realistische übersteigen. Die Kunst sei dabei, den Text so auszutarieren, dass er nicht beliebig wird."

"Ja", sagte Martin Becker. "Das trifft es schon besser." "Nichts ist wahrscheinlich, alles ist relevant", sagte ich, "oder umgekehrt." Wir schwiegen. "Und als nächstes", fragte ich schließlich, "den obligaten Roman?" Er wiegte den Kopf. "Muss ja."

Unsere Tassen waren leer. Und Kaffeesatz schmeckt bitter. Ich reichte ihm die Zeitschrift. "Schenke ich dir", sagte ich, "dafür, dass du Zeit hattest. Dafür, dass Funny van Dannen noch nicht alles ist. Und als", ich räusperte mich, "kleine Entschuldigung." "Wofür?", wollte er wissen und erhob sich schon. "Für das hier", sagte ich und wies auf den Text um uns herum.


Titelbild

Martin Becker: Ein schönes Leben.
Luchterhand Literaturverlag, München 2007.
188 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783630872629

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